Leo Perutz – Der schwedische Reiter. Historischer Roman

Ein Doppelleben auf Zeit

Die Welt ist aus den Fugen: Der Krieg zwischen August dem Starken und Karl XII. von Schweden hat Schlesien um 1700 im Würgegriff. Regimenter durchziehen das Land und üben erbarmungslose Lynchjustiz. Die Bauern, aber auch Banden von Räubern und Vagabunden kämpfen ums nackte Überleben. Ein christlicher Bischof bietet den Verfolgten letzte Zuflucht: In seinen Steinbrüchen und Schmelzöfen „stöhnen an Karren geschmiedet die Lebendig-Toten, die sich vor dem Galgen in die Hölle geflüchtet haben“.

An der deutsch-polnischen Grenze um das Jahr 1700 prellt ein Dieb einen adeligen schwedischen Offizier, der desertiert ist, um Namen und Existenz. Zwar gelingt es ihm, dessen Verlobte Maria Agneta zu erringen, doch zuletzt greift das Schicksal ein, entwirrt die verschlungenen Fäden und zwingt ihn zur Sühne für seine Doppelexistenz. (abgewandelte Verlagsinfo)

Der Autor

Leo Perutz, als Sohn jüdischer Eltern 1882 in Prag geboren, siedelte 1899 mit der Familie nach Wien über. 1918 heiratete er die Arzttochter Ida Weil. Die Jahre 1918 bis 1928 gelten als Perutz’ literarische Hochphase. 1923 gelang ihm mit „Der Meister des Jüngsten Tages“ ein großer Erfolg bei Publikum und Kritik; das Werk wurde in viele Sprachen übersetzt.

Der Tod seiner Frau Ida 1928 stürzte Perutz, den erfolgreichen Versicherungsmathematiker und Schriftsteller, in eine tiefe Krise. 1938 emigrierte er vor den Nazis nach Tel Aviv. Er starb 1958 in Bad Ischl. Nach dem Krieg geriet Perutz kurze Zeit in Vergessenheit; im Exil entstandene Romane wurden in Deutschland zunächst nicht veröffentlicht, so etwa „Nachts unter der steinernen Brücke“. Erst folgende Generationen ließen ihn postum zu einem der erfolgreichsten Autoren der Zwischenkriegszeit werden.

Wichtigste Werke:

1) Die dritte Kugel (1915)
2) Das Mangobaumwunder (1916, mit Paul Frank)
3) Zwischen neun und neun (1918)
4) Der Marques de Bolibar (1920)
5) Die Geburt des Antichrist (1921)
6) Der Meister des Jüngsten Tages (1923)
7) Turlupin (1924)
8) Der Kosak und die Nachtigall (1927) (mit Paul Frank)
9) Wohin rollst du, Äpfelchen? (1928)
10) St. Petri-Schnee (1933)
11) Der schwedische Reiter (1936)
12) Nachts unter der steinernen Brücke (1953)
13) Der Judas des Leonardo (1959)
14) Mainacht in Wien. Romanfragmente, Nachlass. (2007)

Daneben veröffentlichte Perutz noch Novellen, Schauspiele, Essays. Es gibt rund ein Dutzend Verfilmungen.

Handlung

Der Dieb und der Edelmann stolpern durch den schlesischen Schnee Richtung polnische Grenze, auf der Flucht vor den Dragonern, die polnische Grenzräuber aufspüren wollen. Der Dieb, der als Hahnenschnapper bekannt ist, ist schon immer Dieb gewesen, doch der Edelmann, Christian von Tornefeld, blickt auf Ahnen zurück, die immer für die schwedischen Könige in die Schlacht zogen. Eigentlich wollte er es ihnen nachtun, doch als sein Hauptmann den König schmähte, ohrfeigte er ihn. Ganz schlechte Idee. Seitdem ist er als Deserteur vor dem deutschen Militär auf der Flucht und will zu den Schweden, die in Polen gegen die Moskowiter kämpfen.

Der Dieb erspäht eine Mühle, die ihm bekannt vorkommt. Es ist das Land des Bischofs von Oppeln, doch die Mühle müsste eigentlich verlassen sein, seit sich der Müller, der beim Bischof verschuldet war, erhängt hat. Besagt zumindest das Gerücht. Die Mühle ist jedoch kuschelig warm, der Tisch einladend gedeckt. Da niemand zu sehen ist, tun sie sich daran gütlich. Da steht der Müller auf, gekleidet wie ein Fuhrmann mit großem Schlapphut.

Nachdem der Dieb geklärt hat, dass er es wohl nicht mit einem Gespenst zu tun hat, und der Fuhrmann darauf besteht, für das vertilgte Essen bezahlt zu werden, wendet sich der Edelmann an seinen Freund, den Dieb. Sein Vetter habe ein kleines Gut in der Nähe, bei dem könne er Hilfe und Bezahlung bekommen. Er selbst sei leider schon zu krank für den Weg. Der Dieb ist einverstanden, verlangt aber eine Beglaubigung. Da gibt ihm Christian von Tornefeld seinen Wappenring und eine Anekdote zur Identifikation. Gemacht! Der Dieb macht sich auf den Weg, während der Edelmann und der Fuhrmann auf ihn warten.

Doch auf dem Gut steht rein gar nichts zum Besten, wie der Dieb rasch feststellt. Ein Wucherer hat es darauf abgesehen, und der Rentmeister macht mit ihm gemeinsame Sache. Doch wer herrscht auf dem Gut? Auf der Flucht vor Dragonern dringt der Dieb in das Haus ein. Dort überrascht er morgens den Anführer der Dragoner, also seinen schärfsten Feind. Ausgerechnet. Sogleich wird er geschnappt und der Herrin vorgeführt.

Jetzt wird einiges klar: Die siebzehnjährige Maria Agneta hat ihren Vater verloren und versteht rein gar nichts vom Führen eines Guts. Der Wucherer hält um ihre Hand an, doch sie hält ihrer Jugendliebe Christian von Tornefeld die Treue. Der Dieb gibt sich nicht zu erkennen, verliebt sich aber auf der Stelle in die Schönheit. Als der Malefizdragoner den Eindringling aufhängen lassen will, verwendet sie sich für ihn – er kommt mit 25 Rutenhieben davon. Da schwört er sich, sie zu bekommen und das Gut dazu.

Allerdings hat in diesem Plan der echte Christian von Tornefeld keinen Platz. Der Dieb schwatzt ihm ein Arcanum, einen Familienschatz und Talisman, ab: die Bibel, die der schwedische König Gustav Adolf bei seinem Tod in der Schlacht von Lützen mit seinem Blut tränkte. Den Edelmann aber verrät er an die Häscher des Bischofs, die ihn ins den Steinbruch stecken.

Zwei Jahre vergehen, in denen sich der Dieb als Hauptmann jener Räuber bewährt, die der Malefizdragoner gefangen nehmen und hinrichten lassen wollte. Zusammen mit seinen Komplizen räubert er in den Kirchen der Gegend zwischen Oder und Weichsel, Pommern und Schlesien ein Vermögen zusammen. Damit will er den Hof von Maria Agneta von den Wucherschulden freikaufen und neu aufbauen.

Im Sommer 1702 reitet er als schwedischer Reiter verkleidet auf ihr Gut. Nur die Felder, die ganz nah am Haus liegen, gehören Maria Agneta noch. Sein Herz schlägt höher, als sie aus dem Haus kommt, um ihn zu empfangen, schön wie eh und je – und noch immer nicht verheiratet. Er versucht sich zu erinnern, was Christian von ihr gesagt hat und zeigt ihr den Wappenring. Wird sie ihm glauben?

Mein Eindruck

Die vierteilige Geschichte kommt daher wie eine Moritat aus dem 30-jährigen Krieg, doch spielt sie wesentlich später, nämlich zwischen 1700 und 1712. Ein Nobody, der einfach nur als „Dieb“ tituliert wird, bringt es durch Betrug seines Schicksalsgenossen zu sieben Jahren Ansehen, Wohlstand, Besitz und sogar zu einer liebenden Frau und einer Tochter.

Doch der Schatten der Vergangenheit ist lang und das Schicksal rächt sich. Selbst der Versuch, dies zu verhindern, geht nach hinten los – erneut muss der Dieb mit seinem Schicksalsgenossen Tornefeld tauschen. Aber was wird aus dem Dieb? Das soll hier nicht verraten werden; nur der Prolog gibt einen kleinen Hinweis darauf.

Seine Tochter Maria Christine erinnert sich in hohem Alter daran, wie an jenem Tag des Jahres 1712 die Nachricht kam, ihr Vater sei vor drei Wochen bei der großen Schlacht von Poltawa auf Seiten der Schweden gefallen. Während sie doch genau weiß, der er sie noch vor drei Nächten selbst am Fenster nächstens besucht hat. Deshalb betet sie nicht für den Tornefeld, sondern für den armen Teufel, der draußen auf einem Karren zu einem einsamen Grab gebracht wird.

Das Buch ist eine rechte Räuberpistole, die nicht zuletzt mit spannenden und fesselnden Räubereien aufzuwarten weiß, wohingegen der Part des Schicksals auch nicht zu kurz kommt: Es wird vom toten Müller gespielt, der den Figuren den Weg zu weisen hat.

Doch darf ein Mann sich über seinen Stand erheben und seines eigenen Schicksals Schmied sein, fragt das Buch. Der Dieb tut dies und wird mit sieben Jahren Glück belohnt. Dies ist jedoch erkauft mit neun Jahren Fron, die der echte Torneberg in der „Hölle des Bischofs“, dem Steinbruch und Kalkofen, zu erleiden hat. Am Schluss ist dann großer Zahltag.

Waren es die sieben Jahre Glück wert, fragt uns der Autor offenbar. Die Antwort lautet Ja, denn erstens hat der Selfmademan am Schluss dafür bezahlt und zweitens ist daraus eine schöne Blüte hervorgegangen: eben jene Maria Christine, die uns von diesem Rätsel erzählt, das ihre Kindheit und Jugend überschattete.

Der Sprachstil

Dem heutigen Leser bietet sich zwar eine flotte und spannende Lektüre an, doch der Autor hat dem Vergnügen einen großen Stein in den Weg gelegt: Die feinen Leute verwenden ständig französische und vom Französischen abgeleitete Wörter, wenn sie miteinander parlieren, räsonieren oder gar disputieren. Da wird häufig inkommodiert, aber herzlich wenig poussiert. Und so weiter. Am besten verfügt man über einen guten Grundstock aus dem französischen Wortschatz – oder ein entsprechendes Wörterbuch.

Der Grund für die Verwendung dieser Sprache: Französisch nahm damals den Rang ein, den heute Englisch innehat – es zeugte daher von höherer Bildung, wenn man wie die Franzmänner zu parlieren wusste.

Aber keine Angst: 95 Prozent des Textes sind rein deutsch, und alle der vielen Gedichte und Merkreime sind in reinem Deutsch gehalten. Nach einer Weile kann man sich den Menschenschlag, der zwischen Schlesien und Pommern, Brandenburg und Polen lebte, recht gut vorstellen. Während die unterste Klasse an der Scholle klebte, gab es in den höheren Klassen schon etliche Leute, die Verbindungen nach Frankreich, Spanien, Schweden und zur Republik Venedig unterhielten, so etwa Kaufleute und Offiziere.


Unterm Strich

Dieses flotte Garn kann man locker an einem Tag lesen. Die Story bietet etliche unvorhergesehene Wendungen, die den Leser bei der Stange halten, und eine ganze Menge packende Szenen, in denen es um Leben oder Tod geht. Etwas verblüffend ist das Auftreten des toten Müllers als Gespenst, und auch an die Vision vom himmlischen Gericht muss man sich erst gewöhnen.

Im Grunde geht es darum, welchen Preis man dafür zahlen muss, wenn man sein Schicksal selbst in die Hand nimmt und dafür einen anderen seiner Existenz berauben muss. Dafür am Schluss ein Preis zu entrichten sein wird, dürfte absehbar sein, weil dies keine Geschichte aus dem 20. oder 21. Jahrhundert ist und ein strafender Gott noch die Wege der Menschen lenkt.

Obwohl die Wechselfälle des Schicksals unverhofft kommen, so hat dies doch nichts mit den Geschichten von Kafka gemein, mit dem Perutz manchmal – wohl wegen seiner Biografie – verglichen wird. Bei Kafka ist das Universum sinnentlernt und viele Ereignisse erscheinen absurd. Auch die Stellung des Menschen ist dementsprechend umgestülpt, so dass in „Brief an eine Akademie“ ein Affe als Mensch und in „Die Verwandlung“ ein Mensch als Tier auftreten kann. Die Verwirrung ist perfekt.

Bei Perutz ist dies keineswegs der Fall. Sein Universum ist gerecht: Wer die Regeln bricht, muss zahlen, selbst nach Jahren des Aufschubs. Mehr als einmal kommt dem Dieb der Zufall zu Hilfe, manchmal tritt das Schicksal auch in Gestalt des toten Müllers auf. Sogar ein Himmelsgericht findet statt, in dem über den Dieb verhandelt wird. Doch dass seine Geschichte kein gutes Ende nimmt – er stellt sich den Heldentod in der Schlacht vor -, wissen wir, und es macht nichts: Denn etwas Gutes wird überdauern, in Gestalt von Maria Christine.

Der Prolog hat uns das Rätsel gestellt und neugierig gemacht. Der Spannungsbogen überspannt das ganze Buch und hält es zusammen. Wir müssen erfahren, welcher der beiden Schicksalsbrüder nun in der Schlacht fiel und welcher auf dem Armenkarren in die Grube fährt. Auf seine Weise ist dieser Schluss ebenso anrührend wie gerecht. Es fällt uns nur schwer, an eine gerechte höhere Macht zu glauben.

Taschenbuch: 256 Seiten
ISBN-13: 978-3423131605

www.dtv.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

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