Edgar Allan Poe – Der Fall des Hauses Usher. Meistererzählungen

Dieser Auswahlband mit Erzählungen von Edgar Allan Poe versammelt die bekanntesten Geschichten wie etwa „Der Untergang des Hauses Usher“ oder „Das verräterische Herz“, bringt aber auch weniger bekannte wie „Eine Geschichte aus den Ragged Mountains“ und „Metzengerstein“. Raritäten sind die Beiträge „Schweigen. Eine Fabel“ und Schatten. Eine Parabel“. Alle Geschichten entstammen der dreibändigen INSEL-Ausgabe von 1989.

Der Autor

Edgar Allan Poe (1809-49) wurde mit zwei Jahren zur Vollwaise und wuchs bei einem reichen Kaufmann namens John Allan der Richmond, der Hauptstadt von Virginia auf. Von 1815 bis 1820 erhielt Edgar eine Schulausbildung in England. Er trennte sich von seinem Ziehvater, um Dichter zu werden, veröffentlichte von 1827 bis 1831 insgesamt drei Gedichtbände, die finanzielle Misserfolge waren. Von der Offiziersakademie in West Point wurde er ca. 1828 verwiesen. Danach konnte er sich als Herausgeber mehrerer Herren- und Gesellschaftsmagazine, in denen er eine Plattform für seine Erzählungen und Essays fand, seinen Lebensunterhalt sichern.

1845/46 war das Doppeljahr seines größten literarischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgs, dem leider bald ein ungewöhnlich starker Absturz folgte, nachdem seine Frau Virginia (1822-1847) an der Schwindsucht gestorben war. Er verfiel dem Alkohol, eventuell sogar Drogen, und wurde – nach einem allzu kurzen Liebeszwischenspiel – am 2. Oktober 1849 bewusstlos in Baltimore aufgefunden und starb am 7. Oktober im Washington College Hospital.

Poe gilt als der Erfinder verschiedener literarischer Genres und Formen: Detektivgeschichte, psychologische Horrorstory, Science Fiction, Short Story. Neben H. P. Lovecraft gilt er als der wichtigste Autor der Gruselliteratur Nordamerikas. Er beeinflusste zahlreiche Autoren, mit seinen Gedichten und seiner Literaturtheorie insbesondere die französischen Symbolisten. Seine Literaturtheorie nahm den New Criticism vorweg.

Er stellt meines Erachtens eine Brücke zwischen dem 18. Jahrhundert und den englischen Romantikern (sowie E.T.A. Hoffmann) und einer neuen Rolle von Prosa und Lyrik dar, wobei besonders seine Theorie der Short Story („unity of effect“) immensen Einfluss auf Autoren in Amerika, Großbritannien und Frankreich hatte. Ohne sind Autoren wie Hawthorne, Twain, H.P. Lovecraft, H.G. Wells und Jules Verne, ja sogar Stephen King und Co. schwer vorstellbar. Insofern hat er den Kurs der Literaturentwicklung des Abendlands maßgeblich verändert. In nur 17 Jahren des Publizierens.

Die Erzählungen

1) Metzengerstein (1832)

Im Mittelpunkt steht die Fehde zwischen den benachbarten Adelsgeschlechtern derer von Metzengerstein und Berlifitzing. Als der Stall des letzteren in Flammen aufgeht, starrt der Erbe von Metzengerstein auf einen Wandteppich, auf dem ein edles Berlifitzing-Ross zu sehen ist.

Genau dieses feuerrote Ross jedoch materialisiert sich draußen auf dem Hof des Metzengerstein-Palastes. Friedrich zähmt und bezwingt es, gemäß einer Prophezeiung, dass Metzengerstein und Berlifitzing wie Reiter und Ross zusammengehören, doch Metzengerstein die Sterblichkeit und Berlifitzing die Unsterblichkeit verkörpern und Metzengerstein über Berlifitzing triumphieren würde. Nun, die Geschichte geht ein wenig anders aus.

Poes erste Erzählung ist in Stil und Thema noch recht „Gothic“ und stark von der deutschen Schwarzen Romantik (Hoffmann und Co.) beeinflusst, die er eifrig las. Sie weist die üblichen Motive von Vergeltung und Schicksal auf.

2) Die Flaschenpost (MS. Found in a Bottle, 1833)

Unser Chronist, der Autor der titelgebenden Flaschenpost, ist im Grunde ein atheistischer Skeptiker, dem jeder Glaube an übernatürliche Phänomene fernliegt. Doch er wird eines Besseren belehrt, als er im indonesischen Inselarchipel Sunda mit seinem Frachter in einen wütenden Taifun gerät und hilflos den Elementen ausgeliefert ist. Die Wellen türmen sich haushoch und fegen als erstes sämtliche Masten von Deck, so dass der Frachter, der auch viel Opium geladen hat, wehrlos mit der Strömung nach Süden Richtung Neu-Holland treibt.

Aus einem Tal in den haushohen Wogen erblickt er auf einmal ein anderes Schiff. Es sieht merkwürdig verfallen aus, doch stürzt es sich todesmutig vom Wogenberg hinab ins Tal, in dem sich der Frachter unseres Freundes befindet. Die Schiffe kollidieren, und bevor sein Kahn untergeht, springt er lieber an Deck des anderen Schiffes. Seine Ankunft bleibt unbemerkt, denn er verbirgt sich in einem improvisierten Verschlag unter Deck.

Doch was ist das für eine merkwürdige Mannschaft, die ihn geflissentlich ignoriert? Alle Männer sind alt und schwächlich, so dass sie sich kaum aufrechthalten können. Der Kapitän konsultiert seine völlig veralteten Seekarten, gibt aber keine Kommandos. Unseren Chronisten plagen weder Durst noch Hunger, denn er ist nun Teil der Crew und teilt ihr Schicksal: Untot für alle Zeit zum südlichen Pol zu segeln und dort in den Mahlstrom zu sinken – nachdem er seine Flaschenpost dem Meer anvertraut hat.

Mein Eindruck

Nein, dies ist wohl nicht die „Black Pearl“, könnte es aber sehr wohl sein: Es ist das Schiff des Fliegenden Holländers, voll verdammter, untoter Seelen. Als wäre es die Kurzform seines Romans „The Narrative of Arthur Gordon Pym“ aus den Jahren 1837/38, landet der Erzähler auf einem Geisterschiff. In seinem Bericht gibt er Hinweise, um was für eine Art Kahn es sich handeln könnte, so etwa durch die Erwähnung der Region „Neu-Holland“, die zum nördlichen Australien zählt.

Auch die Kollision scheint alles andere als Zufall zu sein: Es handelt sich um eine Versenkung durch Rammen. Welcher Kurs anliegt, erschließt sich unserem Chronisten erst, als es polarmäßig kalt wird: Es geht zum Südpol, wo nicht etwa Vulkane warten, sondern ein Mahlstrom, der in das Innere der HOHLEN ERDE führt – und von dort womöglich im Norden wieder hinaus – bis zum Jüngsten Tag. Die Theorie der Hohlen Erde war in den 1830er Jahren noch ziemlich neu, so dass Poe sie mit Enthusiasmus aufgriff, um seine Leser mit dieser neuen Art von Schicksal in Furcht und Schrecken zu versetzen.

Diese ausgefeilte Story darf in keiner Poe-Storysammlung fehlen.

3) Schatten. Eine Parabel (1835)

Im Jahr 794, so berichtet unser Chronist Oinos, geht in Griechenland die Pest um, und in Ptolemais haben sich sieben Männer, darunter er selbst, in die stark versperrte Burg retten können. Sie zechen, freuen sich des Lebens und singen anakreontische Lieder.

Doch es befindet sich noch ein achter Mann im Innenhof der kleinen Burg: Zoilos liegt mausetot auf seiner Bahre, ein beklagenswertes Opfer der Seuche. Er war jung noch, ach, doch das soll sie nicht vom Zechen und Singen abhalten. Nun aber tritt ein Schatten hervor, der sich ihnen gegenüberstellt und zu sprechen beginnt. Da stockt den Zechern der Atem, denn die Stimme ist die Stimme all jener, die verstorben sind…

Mein Eindruck

Als wäre dies ein Vorgeschmack auf Poes Meisterwerk „Die Maske des Roten Todes“ beschwört die kurze Geschichte den Schrecken herauf, den ein scheinbar simpler Schatten hervorrufen kann. Doch der Schatten ist nicht nur die Gestalt des Todes, sondern auch eine Mahnung an die zahlreichen Opfer seiner Herrschaft. Wie können sie es wagen, ihn mit Singen und Zechen zu verhöhnen? Obwohl nur eine „Parabel“, also ein Gleichnis, lässt sich die Geschichte auf den Zustand einer Gesellschaft oder Gruppe allgemein übertragen, um die Lebenden an das Leid der Verstorbenen zu gemahnen – und an das jener, die noch kommen werden…

4) Schweigen. Eine Fabel (1837)

Der Ich-Erzähler befindet sich in der weiten Höhlung einer Gruft und bekommt Besuch von einem Dämon. Dieser nette Geist erzählt ihm eine Geschichte von der Macht des Schweigens. Einst befand er sich im Lande Libyen am Ufer des Flusses Zaire, wo die Wasserlilien dicht wachsen, um von den Flusspferden abgefressen zu werden. Und an einer Felswand des Flusses befand sich das Wort VERLASSENHEIT eingeritzt.

Über dieser Felswand tauchte ein stattlicher Mann von Kriegergestalt auf und setzte sich, um die friedliche Szenerie zu betrachten. Der Dämon ärgerte sich, dass er über die Mann nicht gebieten konnte. Also ließ er ein mächtiges Gewitter entstehen und über dem Flusstal wüten. Doch der Mann blieb weiter sitzen und schien unbeeindruckt. Das ärgerte den Dämon maßlos und so hetzte er die Flusspferde und den Behemoth auf den Mann, doch ohne Wirkung: Er blieb einfach weiter sitzen.

Deswegen verfiel der Dämon auf seinen fiesesten Plan: Er brachte alles zum Stillstand und das Rauschen der Wellen der Winde zum Verstummen. In der Steilwand am Fluss erschien anstelle von VERLASSENHEIT nun das WORT SCHWEIGEN. Und alles erstorben schien, ergriff der Mann endlich von Schrecken gepackt das Weite und verschwand. Der Dämon war zufrieden und setzte alles wieder in Bewegung.

Mein Eindruck

Die kurze „Fabel“ verdeutlicht, dass Schweigen durchaus ein eigenständiges Naturelement sein kann. Aber in Gegensatz zu den natürlichen Elementen der antiken Physik existierte seine Macht einzig und allein in Wesen, die über eine Seele verfügen. Also nicht in Tieren ohne Intelligenz, sondern vielmehr in Wesen, die es gewohnt sind, in Gruppen und anderen Gemeinschaften zu leben. Dem Schweigen eignet daher nicht eine physische, sondern psychologische Macht, die nur auf soziale Wesen wie Menschen und Menschenaffen wirkt. Dann aber deutlich und unmittelbar: ein Schrecken wie in der Geschichten „Schatten“.

Die Geschichte, die der Dämon erzählt, hat in der Tat einen fabel-haften Tonfall, denn ihr mangelt es an jeder geschichtlichen Tiefe. Die einzigen Ortsangabe sind das sagenhafte Land Libyen, von dem schon die alten römischen Geschichtsschreiber – es war eine römische Provinz und als Kornkammer von großer Bedeutung – berichteten. Der Fluss Zaire ist heute noch bekannt, allerdings unter dem Namen „Kongo“. Diese Ortsangaben müssen als Verankerung der Fabel reichen, sind aber ausreichend exotisch, um das Interesse des Zuhörers zu wecken.

5) Berenice (1835)

Der Träumer und die schöne Titelfigur sind Cousin und Kusine, doch während er sich schwächlich zurückhält, bewundert er an ihr das blühende Leben. Dieses Verhältnis ändert sich schlagartig, als Berenice – ähnlich wie Poes echte Frau Virginia Clemm – an Tuberkulose und Auszehrung erkrankt. Dabei verfällt sie mitunter in einen todesähnlichen Zustand der Trance.

Der Träumer wiederum ist einer Monomanie verfallen, die ihn einen Geisteszustand verfallen lässt, in dem er sich stundenlang auf nur einen Gegenstand konzentriert. Er scheint dadurch in eine tranceartige Geistesabwesenheit zu geraten. Trotzdem heiraten die beiden. Das Verhängnis ist unausweichlich, als ihm Berenices unglaublich weiße und lange Zähne auffallen…

Mein Eindruck

Vielfach ist diese unheimliche Erzählung als Vampirgeschichte interpretiert worden, denn wozu sonst sollte Berenice derart lange Zähne aufweisen? Das Thema der verbotenen Beinahe-Geschwisterliebe erinnert zudem an das unselige Geschwisterpaar Madeleine und Roderick Usher. Klar, dass daraus nichts Gutes entstehen kann.

Und dass es schließlich zu einer abscheulichen Grab- und Leichenschändung kommt, dürfte kaum noch verwundern. Allerdings ist die Schuldfrage nicht eindeutig zu klären. Hat Berenice Schuld an ihres Cousins somnambulem Zustand, so dass er unter Amnesie zu leiden beginnt? Wenn ja, dann kann er nicht für seine Untat verantwortlich gemacht werden.

6) König Pest (King Pest the First. A Tale Containing an Allegory, 1835)

Eine allegorische Story aus dem London unter Eduard III. zur Zeit der Pest. Zwei brave Seeleute wagen sich in den Sperrbezirk, wo sie zu ihrem Freund Schaufel, einem braven Sargmacher wollen. Allerdings ist das düstere Viertel völlig unter der Kontrolle von „König Pest“, den sie auch leibhaftig mit seinem Hofstaat antreffen. Es folgt eine Auseinandersetzung, die ziemlich handgreiflich und grotesk ausgeht.

7) Der Teufel im Glockenturm (The devil in the belfry, 1839)

Spießburgh ist ein isoliert liegendes Dorf mit niederländischen Einwanderern. Was sie lieben: Uhren und Krautköpfe. Was sie verabscheuen: Veränderung jeglicher Art. Da erscheint über einem der östlichen Hügel ein absonderlich Kerl von tabakschwarzer Gesichtsfarbe, mit einem Hut und einer großen Fiedle unterm Art. Er beginnt zu tanzen, bis er in den Glockenturm gelangt. Die richtige Funktion der Glocke ist enorm wichtig, da alle Bewohner ihre Uhr danach stellen. Doch diesmal schlägt’s dreizehn. Und das Chaos bricht aus.

Die Story ist das grotesk-possenhafte Gegenstück zu „Usher“, eine Satire auf Spießbürger und allzu konservative Menschen, seien sie nun Politiker oder Kritiker.

8) Der Untergang des Hauses Usher (1839/45)

Eine weitere unsterbliche Erzählung Poes. Roderick Usher, der Letzte seines Geschlechts, hat seine Sinne unglaublich verfeinert und spielt gar seltsame Musik, findet sein Freund und Gast, der uns berichtet. Usher leidet an einer Gemütskrankheit, die nicht von schlechten Eltern ist. Tatsächlich glaubt er sogar, seine verstorbene, geliebte Schwester Magdalena sei noch am Leben und suche ihn jede Nacht heim. Offenbar ist ihm nicht mehr zu helfen, und unser Gewährsmann sucht schleunigst das Weite, als sich etwas wirklich Grauenerregendes ereignet. Denn das ‚Haus‘ Usher meint sowohl das Geschlecht der Ushers als auch ihren Stammsitz als Gebäude. Geht das eine unter, so auch das andere.

9) Instinkt contra Verstand. Eine schwarze Katze (A Black Cat; 1840/45)

Der Erzähler ist der trunksüchtige Ehemann einer zartfühlenden und tierlieben Gattin. Sie hat als liebstes Haustier einen Kater namens Pluto, der laut schnurrt, wenn man ihn streichelt. Das tut der Ehemann jedoch nie. Im Gegenteil: Die Augen der Katze lassen ihn sich irgendwie schuldig fühlen, dass die Unmäßigkeit, der sich hingibt, und die Misshandlungen, die er an seiner Frau begeht, ein großes Unrecht seien. Im Vollrausch sticht er Pluto ein Auge aus, später erhängt er das wehrlose Tier. Bei einem Feuer brennt das Haus bis auf die Grundmauern nieder und das Ehepaar muss umziehen.

Um diese Gedanken der Schuld zu vertreiben, ertränkt er sie immer öfter in Alkohol. Bis er schließlich auch im Wirtshaus eine schwarze Katze bemerkt, die er mit nach Hause nimmt. Doch aus Zuneigung wird schon wieder Hass und Abscheu gegen das vermaledeite Katzenvieh.

Als er auf der Kellertreppe über es stolpert, will er es töten, doch seine Frau fällt ihm in den Arm. Er schlägt ihr den Schädel ein und mauert die Tote in einem „blinden“ Kamin (der nirgendwo hinführt) im Keller ein. Die Katze jedoch ist verschwunden und er kann wieder selig schlafen, selbst nach dem Mord. Doch der Fluch der bösen Tat fordert Sühne…

Mein Eindruck

Die Story ist ein psychologischer Thriller um Schuld und Sühne, mit einem typischen Poe-Motiv: lebendig begraben sein. Doch das Neue an der Geschichte besteht darin, dass die Bestrafung nicht von außen erfolgt, etwa durch göttliche oder fürstliche Intervention. Vielmehr kommt dieser Impuls von innen, aus der Psyche des unbestraften Verbrechers selbst: Er muss sich selbst entlarven, um Erlösung von der Last seiner Schuld zu erlangen. Schon lange vor Freud also wird tiefer schürfende Psychologie als Triebfeder einer Story-Handlung eingesetzt.

10) Die Maske des Roten Todes (The Mask of the Red Death. A Fantasy, 1842/45)

Nach „König Pest“ erneut eine Pest-Story. Diesmal hat Fürst Prospero sich in eine burgartige Abtei vor den Verheerungen, die die Pestilenz in seinem Land anrichtet, zurückgezogen. Trotz des Todes draußen schmeißt er eine Party, bei der sich tausend Ritter und Damen verkleiden dürfen (Maske = Maskenball), um der Schönheit zu huldigen. Als er jedoch eine unverschämt auftretenden Burschen erblickt, der es wagt, als Pestkranker aufzutreten, kennt sein Zorn keine Grenzen. Er erlebt sein rotes Wunder.

11) Das verräterische Herz (The Tell-Tale Heart, 1843)

Der verrückte Ich-Erzähler plant detailliert den perfekten Mord an einem alten Mann, dessen eines „Geierauge“ ihm Furcht und Wut einflößt. Die Tat gelingt, doch aufgrund seines überfeinen Gehörs vermeint der (wahnsinnige) Bösewicht, das Herz des Getöteten wieder schlagen zu hören, justament als er die Polizei im Hause hat…

Mein Eindruck

Wahnsinn, überfeinerte Sinne und vorzeitige Beerdigung sind die Standardthemen Poes. „Das verräterische Herz“ ist kurzer, psychologischer Thriller um Schuld und Sühne. Er ist nicht nur sehr anschaulich geschildert, sondern auch zu einem grauenerregenden Finale hin konzipiert.

12) Eine Geschichte aus den Ragged Mountains (A Tale of the Ragged Mountains, 1844)

Ein melancholischer alter Mann namens August Bedloe wandert eines Morgens im Jahre 1827 im Morphiumrausch in die besagten Virginia-Berge und hat dort zwei Visionen. In der ersten sieht er einen Mann, der vor einer Hyäne Reißaus nimmt. Hyänen in Virginia? Bedloe kneift sich und wandert weiter.

Als nächstes erblickt in einem weiten Tag eine orientalische Stadt an einem mächtigen Strom. Er nimmt an der Verteidigung des Stadtpalastes gegen einen aufständischen Pöbel teil, wird aber tödlich verwundet. Stunden später erwacht er an der Stelle der ersten Vision und kehrt heim. Sein Arzt erklärt: „Sie sahen, was ich selbst 1780 in Benares bei einem Aufstand erlebte, bei dem der Offizier Obled starb.“ In Bedloes bald folgendem Nachruf steht Obled umgekehrt geschrieben: Bedlo.

Mein Eindruck

Ein klarer Fall von Seelenwanderung also? Möglicherweise greift Poe das romantische Gedankengut der Gothic Novel (1764-1798) auf, die dann von Jane Austen in „Northanger Abbey“ karikiert und verspottet wurde.

13) „Du bist der Mann“ (Thou art the man!, 1844)

In der Spießbürger-Stadt Rattelburg verschwindet der angesehene Herr Barnabas Schüttelwert spurlos, doch sein zurückgekehrtes Pferd weist einen Durchschuss von einer Pistolenkugel auf und stirbt wenig später. Wer war’s? Mehrere Indizien begründen einen schweren Verdacht gegen Schüttelwerts neffen, den Tunichtgut – und einzigen Erben – Pfennigfeder. Doch eine zentrale Rolle bei den Ermittlungen und der anschließenden Gerichtsverhandlung bei der Pfennigfeder zum Tode verurteilt wird, spielt der erst seit sechs Monaten in Rattelburg weilende beste Freund von Schüttelwert: Herr Karl Biedermann. Er wiegt sich bereits in Sicherheit, da macht ihm ein Freund Schüttelwerts, der Erzähler, einen dicken Strich durch die Rechnung…

Eine weitere Story in der Manier von „Das verräterische Herz“. Ein konventioneller Krimi mit einer gruseligen Pointe.

Mein Eindruck

Die nachhaltigste Wirkung hat Poe mit seinen phantastischen Erzählungen erzielt, deren größter Teil 1840 unter dem Titel „Tales of the Grotesque and Arabesque“ erschienen. Er griff dabei zwar des Öfteren auf den Motivkreis des Schauerromans zurück und steht dabei deutlich in der Nachfolge der dämonisch verfremdeten Welt E.T.A.Hoffmanns, führte jedoch das Genre durch eine verfeinerte Figurenpsychologie und eine virtuos poetisierte Erzählsprache zu einem neuen Höhepunkt.

Vorherrschend sind drei Typen von Erzählansätzen. Die Wechselwirkung von fremdartigem Schauplatz und unheimlichen, oft übernatürlichen Ereignissen bestimmt die mittelalterliche Pestgeschichte „Die Maske des Roten Todes“ ebenso wie „Der Fall des Hauses Usher“. Die zweite Kategorie bilden die Geschichten, in denen die Protagonisten physisch und psychisch in eine oft ausweglose tödliche Bedrohung geraten, wie „Das verräterische Herz“. Das aus Gedichten wie „Der Rabe“ (1845) bekannte Motiv der verlorenen Geliebten wiederum kehrt in makabrer Form in „Berenice“, einer Vampirgeschichte, wieder.

Mit „Der Doppelmord in der Rue Morgue“, „Das Geheimnis der Marie Rogêt“ und „Der stibitzte Brief“ – sie sind alle im DTV-Storyband „Detektivgeschichten“ gesammelt – wurde Poe zum Stammvater der modernen Kriminal- und Detektivgeschichte, in der die allmähliche Aufklärung eines Verbrechens im Vordergrund steht. Dabei verband Poe auf einzigartige Weise seinen eigenen Mystizismus mit der strengen abstrakten Mathematik, die für die Anwendung der deduktiven Logik notwendig ist. Diese Deduktion finden wir dann wieder bei Sherlock Holmes und seinen diversen Nachfolgern wie etwa Hercule Poirot wieder.

Die Übersetzungen

Ich kann hier nur stichprobenartig die Qualität einer Übersetzung stellvertretend für die anderen beurteilen, nämlich „Die Flaschenpost“.

S. 24: „stellte ich doch mit Hilfe des Ortes fest, dass die Tiefe [des Wassers] 15 Faden betrug.“ Üblicherweise wird dazu ein Lot verwendet.

S. 26: „das Wasser stürzte in Wellenbrechern über uns hinweg.“ Gemeint sind große Brecher. Aber der Ausdruck „Wellenbrecher“ wird üblicherweise für landgestützte Vorrichtungen verwendet werdet, um große Wellen zu brechen und so unschädlich zu machen – also das genaue Gegenteil.

S. 28: „die äußerste Hoffnungslosigkeit unserer Hoffnung“: Diese scheinbar paradoxe Formulierung wirkt im Original etwas verständlicher, denn dort bezieht sich „Hoffnung“ auf jede Art von Hoffnung, die man haben könnte. Gemeitn ist also die Vergeblichkeit aller Hoffnung.

Unterm Strich

Diese Zusammenstellung enthält sowohl absolute Klassiker wie die titelgebende geschichte wie auch nahezu unbekannte Beiträge, darunter „Schatten“ und „Schweigen“, die ich keinesfalls als „Meistererzählungen“ ansehen würde. Insgesamt halten sich die bekannten mit den weniger bekannten Geschichten die Waage, und ein Blick darauf lohnt sich. Allerdings fehlen jegliche Anmerkungen, die bei Poes Texten immer nützlich wären.

Taschenbuch: 182 Seiten.
Oiriginalzusammenstellung.
Aus dem Englischen von Erika Gröger, Heide Steiner und Barbara Cramer-Nauhaus.
ISBN-13: 978-3458330738

https://www.suhrkamp.de/verlage/insel-verlag-s-22

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