Edgar Allan Poe – Der Doppelmord in der Rue Morgue (Lesung)

Spannend: der Meisterdetektiv bei der Arbeit

Auguste Dupin erfährt von einem mysteriösen Mord an einer Frau und ihrer Tochter in der Rue Morgue. Die Frauen sind bestialisch zugerichtet worden und die Polizei kann sich keinen Reim auf den Hergang der Tat machen, da Türen und Fenster des Zimmers von innen verschlossen waren. Doch dann berichten Zeugen von einem Streit zweier Fremder unmittelbar vor der Tat – und alle widersprechen einander. (Verlagsinfo)

Der Autor

Edgar Allan Poe (1809-49) wurde mit zwei Jahren zur Vollwaise und wuchs bei einem reichen Kaufmann namens John Allan in Richmond, der Hauptstadt von Virginia, auf. Von 1815 bis 1820 erhielt Edgar eine Schulausbildung in England. Er trennte sich von seinem Ziehvater, um Dichter zu werden, veröffentlichte von 1827 bis 1831 insgesamt drei Gedichtbände, die finanzielle Misserfolge waren. Von der Offiziersakademie in West Point wurde er ca. 1828 verwiesen. Danach konnte er sich als Herausgeber mehrerer Herren- und Gesellschaftsmagazine, in denen er eine Plattform für seine Erzählungen und Essays fand, seinen Lebensunterhalt sichern.

1845/46 war das Doppeljahr seines größten literarischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgs, dem leider bald ein ungewöhnlich starker Absturz folgte, nachdem seine Frau Virginia (1822-1847) an der Schwindsucht gestorben war. Er verfiel dem Alkohol, eventuell sogar Drogen, und wurde – nach einem allzu kurzen Liebeszwischenspiel – am 2. Oktober 1849 bewusstlos in Baltimore aufgefunden und starb am 7. Oktober im Washington College Hospital.

Poe gilt als der Erfinder verschiedener literarischer Genres und Formen: Detektivgeschichte, psychologische Horrorstory, Science-Fiction, Shortstory. Neben H. P. Lovecraft gilt er als der wichtigste Autor der Gruselliteratur Nordamerikas. Er beeinflusste zahlreiche Autoren, mit seinen Gedichten und seiner Literaturtheorie insbesondere die französischen Symbolisten. Seine Literaturtheorie nahm den New Criticism vorweg.

Der Sprecher

Kim Frank, 1982 in Flensburg geboren, wurde 1998 mit seiner Popband „Echt“ berühmt, die eine Goldene Schallplatte bekam und mit dem Bambi, dem Echo und der Goldenen Kamera ausgezeichnet wurde. Frank nahm nach der Auflösung der Band eine Soloplatte auf und spielte die Hauptrolle im Leander-Haußmann-Film NVA. Kim Frank hat seine Stimme außerdem einem Animationsfilm und verschiedenen Hörspielen geliehen. (Verlagsinfo) Frank liest die ungekürzte Fassung.

Regie führte Anja Clarissa Gilles, für den guten Sound sorgte Jean-Marie Gilles, Berlin.

Handlung

Im Unterschied zu den zahllosen Verfilmungen und Dramatisierungen dieser berühmten Erzählungen tastet sich das Original sehr vorsichtig und nur ganz allmählich an die eigentliche Geschichte heran. Diese dient lediglich als Beispiel, um die zentrale These des Erzählers zu belegen, dass es verschiedene Arten von Analysefähigkeiten und Klugheit gebe. So wie es einen deutlichen Unterschied zwischen dem Schach- und dem Damespiel gebe, so spiele auch die Beobachtungsgabe im Unterschied zur Intuition eine andere Rolle für die Erkenntnisfähigkeit. Und überhaupt bestehe zwischen Analysefähigkeit und Klugheit ein erheblicher Unterschied. Siehe die folgende Erzählung.

In Paris hat der Erzähler die Bekanntschaft des Monsieur C. Auguste Dupin gemacht. Dieser hält sich mit den Zinsen aus dem kümmerlichen Rest des väterlichen Erbes, das vor den Gläubigern bewahrt werden konnte, über Wasser. Wie der Erzähler liebt er Bücher und wird eingeladen, mit dem Erzähler ein kleines Häuschen zu bewohnen, das dieser gekauft hat. Zusammen frönen die beiden Singles ihrer Vorliebe zur Literatur.

Bemerkenswert ist Dupins Vorliebe für die Nacht und deren Vorgänge. Darüber hinaus verblüfft er den Erzähler immer wieder durch bizarre Einfälle und Ansichten. Bei den nächtlichen Spaziergängen stellt Dupin regelmäßig seine scharfe Beobachtungsgabe unter Beweis, aber auch Schlussfolgerungen, zu denen der Erzähler sein Lebtag nicht imstande wäre, wie er sagt: induktives und deduktives Denken. Er selbst findet seine Gabe sowohl kreativ als auch zerstörerisch.

Man nehme nur einmal diesen seltsamen Doppelmord in der Rue Morgue, über den die Zeitungen der ganzen Stadt berichten. Madame L’Espanaye und ihre Tochter wurden auf bestialische Weise umgebracht. Nachdem offenbar die Tochter erwürgt worden war, wurde ihr Körper kopfüber in den Kamin gesteckt, und zwar derart fest, dass vier Männer nötig waren, um sie herauszuholen. Die Leiche ihrer bedauerlichen Mutter fand man im Hof unter dem Wohnungsfenster, das immerhin in den oberen Stockwerken liegt. Offenbar wurde sie daraus hinausgeworfen – nachdem ihr der Unhold die Kehle aufgeschlitzt und dabei fast ihren Kopf vom Rumpf getrennt hatte …

Doch obwohl die Damen am Tag vor dieser Mordnacht 4000 Franken in Gold ausgehändigt bekommen hatten, handelt es sich keineswegs um einen Raubmord: Das Geld ist noch vollständig in der verwüsteten Wohnung vorhanden. Die Tat wirkt ebenso rätselhaft wie das Motiv. Nicht weniger als zwölf Zeugen berichten in der Zeitung über ihre Beobachtungen. Die Nachbarn berichten, zwei verschiedene Stimmen in der Nacht gehört zu haben: eine barsche, rauhe, die offenbar Französisch sprach, und eine schrille, die irgendeinem Ausländer gehört haben muss. Über dessen Nationalität gehen die Ansichten weit auseinander.

Dupin sieht sich erst dann zum Handeln veranlasst, als der Kassenbote Le Bon, der den Damen das Geld von seiner Bank gebracht hatte, als einziger Verdächtiger verhaftet wird. Er kennt den braven Mann und will ihn vor dem Henker bewahren. Da Dupin den Polizeipräfekten kennt, bekommt er die Erlaubnis, den Tatort zu besichtigen. Der Erzähler begleitet ihn und staunt nicht schlecht über das seltsame Betragen, das Dupin dort an den Tag legt.

Der Detektiv, der zuvor seinen Vorgänger Vidocq (ca. 1830) ordentlich niedergemacht hat, nimmt die gesamte Nachbarschaft in Augenschein und natürlich die Rue Morgue – die Straße des Leichenschauhauses – vor dem Tatort. Dann schaut er sich in der mit Blutspritzern verschmierten und verwüsteten Wohnung um. In der Tat scheint es sich um ein |Locked Room Mystery| zu handeln: Alle Fluchtwege sind entweder versperrt oder nicht passierbar. Wie konnten der oder die Täter entkommen, als die Nachbarn anrückten?

Am nächsten Abend legt Dupin eine Pistole auf seinen Tisch und gibt auch seinem Freund eine geladene Waffe. Er habe den Fall gelöst und erwarte einen Besucher. Ob der auch der Mörder sei, werde sich noch herausstellen. Der Erzähler wundert sich nicht wenig. Aber wie heißt es doch bei „Hamlet“? „Bereit sein ist alles.“

Mein Eindruck

Wie der Kenner der Geschichte weiß, ist die Lösung des Rätsels höchst ungewöhnlich. Aber was am Ende übrig bleibt, wenn man zuvor alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen hat, muss, so unmöglich es auch scheint, die Wahrheit sein. Das sagt später auch Sherlock Holmes, die berühmteste Schöpfung Arthur Conan Doyles. Nur dass eben Poe all dies schon fünfzig Jahre vorher als These aufgestellt hat, wenn auch nicht exakt in dieser Formulierung und mit der penetranten Wiederholung.

Gemeinsamkeiten

Ein Vergleich Sherlocks mit Dupin lohnt sich. Es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Beide sind Originale in dem Sinne, dass sie sich völlig anders verhalten – und vor allem denken! – als der Normalbürger, der unser jeweiliger Gewährsmann ist (bei Holmes bekanntlich Dr. John Watson, bei Poe ein Unbekannter).

Beide sondern sich von ihrer Umgebung ab, haben sich eigentümliche Gewohnheiten zugelegt, so etwa die nächtlichen Spaziergänge Dupins oder das Geigenspiel und Koksen Sherlocks. Dennoch sind die beiden Sonderlinge keine Menschenfeinde, sondern setzen sich sehr gerne für unschuldige Opfer ein, zumal dann, wenn ihnen diese Personen selbst bekannt sind (bei Dupin ist es der Kassenbote Le Bon). Dies scheint eine wichtige Voraussetzung für einen guten (literarischen) Detektiv zu sein.

In Absonderung und Einsatz für den Nächsten drückt sich die von Dupins erwähnte Ambivalenz der Beobachtungsgabe aus: Sie ist Segen und Fluch zugleich. In Wahrnehmung und Deduktion ist sie eine kreative Fähigkeit, in der scharfen Beurteilung vieler Details, die die Mitmenschen gerne verborgen hätten, offenbart sie jedoch eine unangenehme Seite: Der Detektiv bekommt mit den Verbrechen auch die hässliche Seite der Menschheit zu sehen und muss sich wohl oder übel ein dickes Fell zulegen, um nicht zum moralischen und emotionalen Krüppel zu verkommen.

Dass er dieser Krüppel nicht ist, dessen kann er sich und seiner Umgebung stets aufs Neue versichern, wenn er sich für die Aufklärung eines Verbrechens einsetzt und unschuldige Opfer vor weiterem Übel bewahrt. Auf diese Weise sieht sich der Detektiv stets von Hässlichkeit und Unmoral angegriffen, die ausgleichende Erlösung muss von den Lebenden kommen. Ein Detektiv ohne Anerkennung scheint irgendwie nicht in Ordnung zu sein, zumal nicht im Oberstübchen.

Unterschiede

Doch es gibt auch jede Menge Unterschiede zwischen Holmes und Dupin. Letzterer versteht sich ausgezeichnet auf das Auswerten von Zeitungsberichten, wie „Der Fall der Marie Roget“, eine andere Erzählung, sowie „Rue Morgue“ zeigen. Die meiste Zeit sitzt er gemütlich in seinem Fauteuil und sinniert vor sich hin, den Fall auf diese Weise lösend. Ausnahmsweise begibt er sich an den Tatort und besucht die Redaktionsräume einer bestimmten Zeitung.

Sherlock Holmes ist da von einem anderen Kaliber. Obwohl er aus dem gesetzten Landadel stammt, ist er agil und dynamisch wie ein Bürger der Mittelschicht oder gar wie ein Arbeiter um 1890. Am liebsten hat er seinen Widersacher direkt vor der Nase, um ihn dann im Triumph zur Strecke zu bringen. Und im Gegensatz zu Dupin hat Holmes einen Erzfeind, eben jenen verruchten Proifessor Moriarty, der in „Das Tal der Furcht“ seinen langen Arm nach ihm ausstreckt und ihn letzten Endes sogar erwischt. Diese berühmten Geschichten gipfeln stets in einem Finale und prägen mit ihrem Aufbau bis heute jeden Kriminalfilm.

„Rue Morgue“ hat seinen Höhepunkt zwar ebenfalls in einer Konfrontation (einem „Showdown“-Vorläufer), doch dies führt nach einem kleinen Handgemenge wieder einmal zu einem jener elend langen Monologe, die Poe – oder ist es Dupin? – zu lieben scheint. Wie auch immer, der Fall findet endlich seines Rätsels Lösung. Danach folgt ein kurzer Epilog. Und hier kann es sich Dupin nicht verkneifen, die Pariser Polizei als minderbemittelte Trottel hinzustellen. Holmes hingegen nimmt die Vertreter des Scotland Yard bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit auf seine Exkursionen. Insofern zeigt sich der Poe’sche Detektiv als weitaus kritischer eingestellt als sein britischer Nachfolger bei Doyle.

Die Übersetzung

… ist offenbar ziemlich alt. Sie stammt von Gisela Etzel und bereitete mir an einigen Stellen Kopfzerbrechen. So ist an einer Stelle die Rede von „Kothurn„. Da es wohl um einen schlechten Theaterschauspieler geht, erschließt sich dem Kenner antiken Schauspiels die Bedeutung: Es geht um jene hohen Theaterstiefel, von denen bei Goethe und Co. des Öfteren die Rede ist.

Gleich danach wird lateinisch zitiert: „Perdidit antiquum litera prima sonum„. Der erste Buchstabe zerstört den altgewohnten Klang, lautet die Übersetzung, die mitgeliefert werden sollte. Dass die Übersetzung ziemlich alt ist, ergibt sich aus der Verwendung von „Franken“ statt „Francs“.

Ganz am Schluss zitiert der Erzähler aus Jean-Jacques Rousseaus Roman „Nouvelle Héloise“. Aber statt es beim ursprünglichen Französisch zu belassen, wie sie es so oft im Text getan hat, übersetzt Gisela Etzel diesmal korrekt: „Er leugnet, was nicht vorhanden ist, und erklärt das, was nicht existiert.“ Dies sagt Dupin über den Polizeipräfekten, dessen Methode offensichtlich fehlerhaft ist.

Der Sprecher

Mit seinen 24 Jahren ist Kim Frank noch recht jung für das Metier des Sprechers. Ihm mangelt es hörbar noch an Erfahrung und Festigkeit im Ausdruck. Doch er gibt sich viel Mühe, all die vielen französischen Namen und Ausdrücke korrekt auszusprechen. Ob allerdings der Name der Rue St. Roch mit [rü: sä: rok] korrekt ausgesprochen ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich hätte [rosch] statt [rok] gesagt.

Besonders begrüßt habe ich seinen Usus, zwischen Absätzen eine deutliche Pause einzulegen. Die Formulierungen des Autors sind nämlich alles andere als einfach konstruiert und nicht auf Anhieb zu verstehen. Eine geistige Verschnaufpause ist deshalb willkommen. Auch atemtechnisch sind die langen Sätze wohl nicht einfach zu handhaben.

Die Charakterisierung der Figuren ist noch ausbaufähig. Zum Glück gibt es nur sehr wenige Rollen in der Erzählung, gerade mal drei oder vier. Der Matrose am Schluss ist mir noch in Erinnerung geblieben. Er besitzt eine angemessen tiefe Stimme und drückt sich recht bedächtig aus.

Unterm Strich

Die Dramaturgie der Original-Erzählung bietet weitaus weniger Spannung und „Action“ als die bislang mindestens drei Verfilmungen, die sie inzwischen erfahren hat, zuletzt 1986 mit George C. Scott als Dupin. Das erzählte Geschehen selbst ist nur eine Demonstration, um eine These zu belegen. Doch der Doppelmord an sich hat eine ganze Reihe Nachahmer gefunden, spätestens im Splatterhorror. Beeindruckend sind die minutiöse Beschreibung des Tatorts und die Erschließung des bizarren Tathergangs.

Diese Geschichte wird mit dem Auftritt des großen Unbekannten würdig abgeschlossen, der nun endlich die Katze aus dem Sack lässt. Natürlich weiß Dupin Bescheid und hätte dem Chronisten, seinem Freund, schon vor diesem Auftritt alles verklickern können. Doch wo wäre dann die Wirkung dieses Auftritts geblieben? Die Lösung des Rätsels als Fußnote nachgeliefert zu bekommen, dürfte keinen Leser zufrieden stellen. Und da Poe als gewiefter Zeitungsmann seine Pappenheimer kannte, beging er diesen Fehler auch nicht. (Tatsächlich liefert er in der Regel die Pointe erst im allerletzten Satz, so etwa in „The tell-tale heart“.)

Der Sprecher Kim Frank sollte noch viel Erfahrung sammeln, doch sein Ansatz, die Geschichte vorzutragen, geht in die richtige Richtung. Ich hatte weniger Probleme mit seinem Vortrag als mit der veralteten Übersetzung – siehe oben.

101 Minuten auf 2 CDs
Originaltitel: The Murders in the Rue Morgue, 1845
Aus dem US-Englischen von Gisela Etzel.
ISBN-13: 978-3870240745

www.argon-verlag.de