Tim Powers – Declare. Auf dem Berg der Engel

Der Kalte Krieg zwischen den Geheimdiensten der irdischen Großmächte wird unter ‚Rekrutierung‘ der von Gott abgefallenen und aus dem Himmel gestürzten Engel geführt. Ein sorgfältig geschulter Agent soll ihnen auf dem Gipfel des Berges Ararat den Garaus machen, aber selbst gefallene Engel sind mächtige Kreaturen … – Ungemein dichte, vielleicht überambitionierte, weil die Spannung manchmal in einer Flut unnötiger Details ertränkende aber spannende, eindrucksvolle und sogar geniale Mischung aus Historien- und Spionage-Thriller, Phantastik und Love-Story.

Das geschieht:

Seinen Vater kennt er nicht, über die genauen Umstände seiner Geburt in Palästina hat ihn die Mutter nie in Kenntnis gesetzt: Andrew Hale ist ein Außenseiter, den seltsame Träume heimsuchen, und er ist quasi ein Mündel des britischen Geheimdienstes, der sein Heranwachsen sorgfältig überwacht, bis er 1941 als Agent rekrutiert wird. Im von Nazi-Deutschland besetzten Frankreich soll Hale vorgeblich dem sowjetisch gesteuerten Ausspionieren alliierter Geheimnisse auf die Spur kommen.

Tatsächlich hat er den ersten Schritt in eine Welt getan, deren Schrecken und Wunder sich ihm erst viele Jahre später erschließen: Der mal offen, mal geheim geführte Kampf zwischen den Großmächten dieser Erde ist viel älter als das 20. Jahrhundert, und es sind keineswegs nur Menschen, die das „Große Spiel“ um die Weltmacht spielen. Vor Jahrzehnten fanden russische Späher auf dem Gipfel des armenischen Berges Ararat eine Kolonie jener „Engel“, die nach dem Alten Testament einst gegen Gott aufstanden und von ihm auf die Erde geschleudert wurden, wo sie nun in ewigem Exil hausen müssen. Ihre Macht ist noch enorm und den Menschen hilfreich, lässt sie sich doch als Waffe missbrauchen. Das Risiko ist freilich groß, denn die „Engel“ sind Kreaturen ohne moralischen Kodex, die sich nur mit Hilfe diverser Schutzmittel in Schach halten und lenken lassen.

Hale wird 1948 in die „Operation Declare“ eingeweiht: Der britische Geheimdienst plant die Vernichtung der „Engel“, was theoretisch möglich ist. An den Hängen des Ararat kommt es zu einer Katastrophe, denn die vermeintlich tödlichen Waffen erweisen sich als nutzlos. Hale gehört zu den Wenigen, die den „Engeln“ entkommen. An Körper und Geist gebrochen, zieht er sich ins Privatleben zurück. Als Anfang der 1960er Jahre die Sowjets dank der Unterstützung durch einen ‚eigenen‘ „Engel“ den Dritten Weltkrieg zu riskieren scheinen, ordnet der Secret Service eine Wiederholung von „Declare“ an. Erneut soll Hale die Mission führen. Die Sowjets wissen davon und haben Gegenmaßnahmen eingeleitet. Hale fürchtet die Rückkehr zum Ararat, aber er sehnt sich auch danach, denn er weiß, dass er nur dort das Geheimnis seiner Herkunft lösen kann. Ein letztes Intrigenspiel wird eingefädelt – und erneut werden alle Pläne zu Makulatur …

Historien-Fantasy-Horror-Thriller der Oberklasse

Wer meint, damit sei die Handlung etwas zu deutlich in Worte gefasst, sei beruhigt: „Declare“ gleicht als Geschichte einer Matroschka-Figur aus Holz, in deren hohlem Inneren sich weitere Figuren verbergen. (Powers bedient sich dieses Bildes an einer Stelle selbst.) „Declare“ ist nichts weniger als der Versuch, einige prägende Kapitel der Menschheitsgeschichte unter Beteiligung phantastischer Elemente umzudeuten, ohne sie ihre Glaubwürdigkeit einbüßen zu lassen. Das Spiel mit der Vergangenheit ist ein festes Genre der Literatur. Entscheidend ist hier der Begriff „Spiel“, denn in der Regel weiß der Leser sofort, dass er vor allem unterhalten werden soll. Das liegt oft an der Unfähigkeit des Autors, der zudem womöglich zu faul ist über die Geschichte zu recherchieren und sich stattdessen auf die Klischees zur Geschichte stützt, was einen gewaltigen Unterschied macht.

Auch Tim Powers spielt natürlich, doch er tut dies auf einem Niveau, das der Realität so nahe kommt, dass dieses Spiel sie zu erreichen bzw. in Frage zu stellen scheint. Auf 650 eng bedruckten Seiten blättert Powers das Panorama einer Geschichte auf, die primär in den Jahren zwischen 1941 und 1963 spielt, doch dabei immer wieder auf frühere Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte und schließlich Jahrtausende zurückblendet.

Diese Geschichte – für die einleitende Inhaltsbeschreibung vom Rezensenten entwirrt und vereinfacht – wird sehr komplex entwickelt. Ständig springt Powers zwischen Vergangenheit und Gegenwart, und dies in beide Richtungen. Er macht es uns nicht einfach, setzt quasi voraus, was erst viele Seiten später erläutert wird. Aufmerksames Lesen ist deshalb erforderlich, damit sich die Handlung in ihrem Reichtum erschließt.

Spannung auf zwei Ebenen

Sie lässt sich in zwei Ebenen gliedern (die Powers so kongenial miteinander verknüpft, dass uns die Nahtstellen während der Lektüre nur selten bewusst werden). Ebene 1 ist die Geschichte des Kampfes gegen die „Engel“. Gerade vor der stupend überzeugend geschilderten historischen Kulisse ist die Gefahr groß, dass dieser Aspekt der Handlung ins Lächerliche abgleitet. Engel – ob nun die ‚echten‘ oder die ‚gefallenen‘ um Helal (oder Luzifer) – sind von einem gewissen Nimbus umgeben, der ihre glaubhafte Schilderung schwierig werden lässt; stets ist die Gefahr groß, dass sie dabei pompös, weihevoll und gleichzeitig albern und abgeschmackt geraten.

Tatsächlich wird „Declare“ notgedrungen dort ein wenig schwammig, wo Powers ‚seine‘ Engel in Person auftreten lässt, während sie niemals so bedrohlich wirkten wie im ersten Buchdrittel, als man nur indirekt von ihren hörte (bzw. las). Dennoch leistet Powers Großartiges, als es Ernst wird auf dem Ararat. Wie H. P. Lovecraft beherrscht er das Kunststück, nicht alle Geheimnisse zu lüften; er beschreibt, doch er erklärt nicht unbedingt. (Apropos Erklärung: Diese Rezension ist nicht der Ort, die unzähligen Anspielungen auf historische Rätsel und Ereignisse zu dechiffrieren, zumal dies bereits auf der – deutschen! – Website www.timpowers.de inhaltlich wie formal vorbildlich geschehen ist.)

Jedoch stellt sich Powers beinahe selbst ein Bein, indem er die Vergangenheit so akkurat wiederaufleben lässt, dass die „Engel“ manchmal sogar stören. Darüber hinaus verknüpft er Fiktion und Realität in einer Maschendichte, die es schier unmöglich macht, im Endresultat – dem Roman „Declare“ – beides zu trennen.

Als Thriller spannend genug

„Declare“ könnte auch als reiner Agententhriller aus der klassischen John Le Carré-Phase und ohne phantastische Elemente funktionieren. Wie sein Vorbild ist Powers tief in die düstere Welt der Geheimdienste mit ihren Spionen, Doppelagenten und Verrätern eingedrungen. Als Anker diente ihm die Affäre um die „Cambridge Five“, fünf ehemalige Studenten dieser englischen Elite-Universität, die in den 1930er Jahren von der Sowjetunion als Spione angeworben wurden, ihren Weg durch die Instanzen bis in Spitzenpositionen des britischen Geheimdienstes nahmen und die Sowjets bis in die 1950er Jahre über Staatsgeheimnisse der Briten und ihrer US-amerikanischen Verbündeten informierten. „Declare“ spielt zum Teil in dieser Situation, in der die Briten und Amerikaner bereits ahnten, dass Maulwürfe ihre Geheimdienste unterwandert hatten und Misstrauen sowie Paranoia zunahmen.

Meisterhaft erzählt Powers vom Werdegang des Agenten Andrew Hale, der in einer Welt der Täuschungen und Lügen das „Große Spiel“ (so nannte der Schriftsteller Rudyard Kipling in seinem 1901 erschienenen Spionageroman „Kim“ – aus dem Powers immer wieder zitiert – den meist im Geheimen geführten Kampf der Großmächte um ihre Einflusssphären) erlernt und ihm verfällt.

Bis ins Detail beschreibt Powers die Welten von 1941, 1945, 1948 oder 1963/64. Diese Informationen sind nie Selbstzweck, sondern stehen im Dienst der Handlung. Auf diese Weise wirken die zahlreichen Schauplätze ungemein plastisch. Das ist imponierend, denn Powers beschränkt sich nicht auf Orte wie London, Paris oder Berlin, über die historische Fakten gut zu recherchieren sind, sondern schickt Hale nach Beirut und schließlich in die kaum erforschten Wüstenlandschaften Syriens, des Nordiran, Iraks oder Armeniens. Powers Schilderungen mag der Fachmann als so ‚authentisch‘ wie David Leans Film „Lawrence von Arabien“ entlarven, aber der Laie & Leser folgt ihm bereitwillig und fasziniert.

Powers übertreibt es mit der Rekonstruktion manchmal, verirrt sich in sorgfältig geschriebene und lesenswerte Kapitel, die von der eigentlichen Handlung ablenken. Hin und wieder stellt sich sogar Langeweile ein; das Paris-Intermezzo wirkt trotz wichtiger Hinweise auf kommende Ereignisse zu breit ausgewalzt, und herbe Liebesgeschichten in den schwierigen Zeiten des Krieges hat man so bereits ein wenig zu oft gelesen. Spätestens mit den beiden Ararat-Erzählsträngen von 1948 und 1963 zieht das Tempo jedoch an. Die ewigen Andeutungen und neu aufgeworfenen Rätsel erfahren endlich ihre Auflösungen, und, oh Wunder, sie desillusionieren nicht, sondern sind der Vorgeschichte gewachsen. Dabei verfällt Powers nicht auf wilde Twists, die Originalität beweisen sollen, sondern bleibt auf dem sorgfältig abgestecktem Kurs. Er bringt seine Geschichte über die gesamte Distanz und schließt sie mit einem ‚richtigen‘ Ende, das kein verkappter Auftakt für die Fortsetzung ist. Damit erhält man als Leser mehr, als man heute von einem Thriller erwarten kann.

Alles riskieren, um nicht normal sein zu müssen

Einen großen (und guten) Teil der Eindringlichkeit, die von „Declare“ ausgeht, verdankt das Buch der ungemein sorgfältigen Figurenzeichnung. Hier wirken Charaktere nicht wie aus dem Baukasten zusammengesteckt, sondern bemerkenswert lebensecht. Besondere Mühe gibt sich der Verfasser bei dem Versuch, die besondere Psyche von Menschen auszuloten, die sich einem Leben im Untergrund verschworen haben. Ob er damit richtig liegt, wissen vermutlich nur echte Geheimagenten. Im Rahmen dieses Romans trifft Powers jedenfalls voll ins Schwarze.

Das „Große Spiel“ ist Sucht und Fluch zugleich. Andrew Hale ist ihm wie alle Agenten diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs mit Haut und Haaren verfallen. Zu verführerisch ist ein Leben jenseits der Konventionen, an die sich normale Zeitgenossen halten müssen. Heute London, morgen Beirut, übermorgen Moskau – Geld spielt keine Rolle, teure Ausrüstung steht ab Abruf bereit, Gesetze sind außer Kraft gesetzt. Schnell und aufregend ist so eine Existenz, und dass sich Agenten in einer Grauzone bewegen, lässt sich mit dem Dienst für das jeweilige Vaterland verbrämen. Ohne „Declare“ wäre Andrew Hale ein Oxford-Professor wie tausend andere geworden. So sehr er sich dies in mancher Krise auch wünscht, ist ihm gleichzeitig stets bewusst, wie er seine Abenteuer liebt.

Selbstverständlich gibt es eine Schattenseite: Das Leben eines Agenten ist grundsätzlich in Gefahr. Ob im von den Nazis besetzten Paris, im befreiten Berlin oder im scheinbar heimatlichen London: Nie darf sich Hale sicher fühlen, denn sogar oder vor allem innerhalb der eigenen Reihen wird intrigiert und gemordet: Das Individuum ist nur eine Marionette, sein Leben zählt nicht, das „Spiel“ ist alles – und zwar im Westen wie im Osten. Seine Veteranen neigen nicht umsonst zu außerordentlichem Alkoholkonsum und sind nikotinsüchtig; das Leben an der Kante fordert seinen Tribut, wobei sich der emotionale Kim Philby noch drastischer verändert als der eher rationale Andrew Hale.

Powers meistert sogar eine gefährliche Klippe, an der viele andere Autoren von Spionagethrillern scheitern: Ihm gelingt eine weibliche Hauptfigur, die nicht ausschließlich der Erfüllung der Frauenquote geschuldet ist und sich keineswegs auf die Rolle des „love interest“ beschränken lässt. Andrew Hale und Elena Teresa Ceniza-Bendiga sind gleichberechtigte Partner – und manchmal auch Gegner, ohne dass dieser Dualismus aufgesetzt wirkt.

Ganz und gar nicht himmlisch: die Engel

Der schwierigen Herausforderung, wahrhaftige Engel darzustellen, ohne kollektives Augenrollen seitens der Leserschaft zu provozieren, stellt sich Powers – wen wundert’s – ebenfalls mit Erfolg. Seine Engel sind nicht die gern verkitschten Prachtkerls mit Flügeln in strahlend weißen Gewändern, sondern Wesen aus einer Vorzeit, deren nur rudimentär überlieferten Ereignisse erst nachträglich eine religiöse Deutung erfuhren, wobei dies sich keineswegs auf das Christentum beschränkte. Powers weist immer wieder auf die Parallelen zwischen dem christlichen Glauben und dem Islam hin, die zumindest im Bereich des Alten Testaments auf gemeinsame Wurzeln hinweisen.

Deshalb ist die Gleichsetzung von „Engel“ und „Dschinn“ einleuchtend. Da es sich hier nicht um zwangsläufig um ‚himmlische‘ Kreaturen handelt, unterliegen auch sie gewissen Regeln. Der Umgang mit ihnen ist möglich aber schwierig und gefährlich, denn ihr Denken und Handeln verläuft in fast gänzlich anderen Bahnen. Man kann sie unterwerfen, versklaven und töten, und das geschieht auch, denn der Mensch ist vielleicht körperlich schwach aber im Vergleich mit den „Engeln“ findig, wenn es um neue Methoden der Kriegsführung geht. Zudem sind die „Engel“ an sich friedlich. Lässt man sie in den entlegenen Stätten ihrer Verbannung in Ruhe, beachten sie die Menschen nicht. Ihre ‚Nachbarn‘ – meist Hirten- oder Beduinenstämme, wissen und berücksichtigen dies. Das Gleichgewicht geht erst verloren, als sich die Vertreter der ‚Zivilisation‘ für die „Engel“ interessieren und sämtliche Traditionen mit Füßen treten. Vielleicht ist das die Botschaft von „Declare“: Dem menschlichen Ringen um Macht, Unterwerfung und Herrschaft können sich nicht einmal Engel entziehen – keine erfreuliche, aber von der realen Geschichte gestützte Theorie.

Autor

Tim Powers (*29. Februar 1952) ist US-Amerikaner irischer Herkunft. Seit seinem siebten Lebensjahr ist er in Kalifornien ansässig. Dort studierte er in Fullerton und lernte dort die später ebenfalls als Schriftsteller reüssierenden K. W. Jeter und James P. Blaylock kennen. Vor allem letzterer wurde ein enger Freund und Kollege; gemeinsam schuf das Duo die Kunstfigur des Dichters „William Ashbless“, der in ihren Büchern auftauchte sowie ‚eigene‘ Werke schuf.

Powers’ Romandebüt „The Skies Discrowned“ erschien 1976. Berühmt wurde er durch die Meisterschaft, mit der er Fantasy und SF mischte, wobei er die Handlung gern in eine fiktive Vergangenheit versetzt, die er überaus überzeugend zum Leben erweckt und mit klassischen und modernen Mythen durchsetzt. Die Liste der dafür eingeheimsten Literaturpreise ist beeindruckend lang.

Tim Powers lebt und arbeitet in San Bernardino, Kalifornien. Im Internet findet man den Schriftsteller hier.

Gebunden: 633 Seiten
Originaltitel: Declare (Burton/Minneapolis : Subterranean Press 2000/New York : William Morrow/HarperCollins 2001)
Übersetzung: Alfons Winkelmann
http://www.festa-verlag.de

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