Smith, Ian – innere Zirkel, Der

_Verrat im FBI: Der Ermittler wird gejagt_

Als der afro-amerikanische Nobelpreisträger Prof. Wilson Bledsoe ermordet aufgefunden wird, bewegen sich die Ermittlungen der Polizei schon bald in eine ganz bestimmte Richtung. Das Wort „Nigger“, das in die Brust des Toten eingesägt wurde, führt zu einer Gruppe von Fanatikern, die die Überlegenheit der weißen Rasse propagiert. Doch der Bruder des Ermordeten, FBI-Agent Sterling Bledsoe, bezweifelt einen solchen Hintergrund – für ihn ist das Klischee viel zu offensichtlich: ein Köder. Er wird in dieser Vermutung bestärkt, als er die Laborräume seines Bruders durchsucht: Dort stößt er auf eine riesige Sammlung von Vogelkadavern – und ein geheimes Projekt, das auch Menschen nicht verschont …

_Der Autor_

Ian Smith arbeitete lange als Experte für medizinische Themen beim amerikanischen Fernsehsender NCB News. Er ist außerdem Mitarbeiter der Zeitschrift „Men’s Health“. Der Autor lebt in New York City. Der vorliegende Roman ist sein literarisches Debüt. (Verlagsinfo)

_Handlung_

Das neuenglische Städtchen Hanover in New Hamphire existiert hauptsächlich wegen seines weltweit berühmten Dartmouth Colleges. Es ist friedlich hier, denn seit 50 Jahren hat es hier keinen Mord mehr gegeben. Bis heute. Denn an diesem Abend fährt der Nobelpreisträger Wilson Bledsoe nach einer Feier nach Hause, um dort von seiner Frau Kay seine Leibspeise vorgesetzt zu bekommen.

Allerdings wird er am Straßenrand von einem Wagen mit einer fingierten Reifenpanne angehalten. Beim Versuch zu helfen, nehmen ihn die beiden unbekannten Männer in die Mangel. Offenbar wollen sie Wilson entführen. Doch er kann ihnen entwischen. Den nahen Wald kennt der Biologe und Vogelkundler wie seine Westentasche: Wenn er es bis zum Anwesen der Potter-Farm schafft, kann er auf Hilfe hoffen …

Am nächsten Morgen wird Wilsons Bruder Sterling in seinem New Yorker Apartment schon ziemlich früh geweckt: Es ist erst fünf Uhr. Sterling arbeitet für das FBI, lehrt aber auch am Hunter College Anatomie. Nachdem er den ersten Schock über die Nachricht aus Hanover, dass sein Bruder verschwunden ist, verwunden hat, fliegt er gleich los. Eigentlich darf ein Familienmitglied nicht den Fall eines Angehörigen untersuchten, aber sein Boss lässt sich breitschlagen.

|Eine Leiche auf dem Lande|

Was Sterling am Rande des Wäldchens unweit vom Haus seines Bruders vorfindet, erschüttert ihn. Die Leiche seines Bruders ist halb entkleidet. Am Kopf ist eine große Wunde zu sehen, wo Wilson ein Gewehrkolben getroffen hat. Außerdem wurde er gewürgt. Sterling dreht den Körper um und hält die Luft an: In die dunkelbraune Haut auf der Brust seines Bruders wurde das Schimpfwort NIGGER mit einer Stichsäge eingefräst. Außerdem wurde ihm mit einem Brandeisen das Emblem eines Wappenadlers eingebrannt – ein Rassistensymbol. Als ob es noch eines solchen Hinweises bedurft hätte.

Einer der Lokalpolizisten muss sich übergeben, aber Sterling behält die Nerven. Umgehend wird die Fahndung nach Angehörigen der White Liberation Army ausgeschrieben, aber für Sterling ist dies nur eine falsche Fährte, die jemand zur Ablenkung gelegt hat. Bei der Autopsie durch einen bekannten Chefpathologen findet man das auf den Knöchel geschriebene Wort CHOGAN. Sterling behält für sich, dass er die Handschrift seines Bruders erkannt hat. Wie die Recherche erweist, bezeichnet Chogan unter anderem in einer Indianersprache die in Nordamerika verbreitete Vogelart der Rotschulterstärlinge.

|Ein Dieb im Labor|

Auf einem unscharfen Überwachungsvideo ist vage ein Mann zu sehen, der aus dem Labor Wilsons kommt – morgens um fünf. Er hat offenbar exakt 42 Minuten lang das Labor durchsucht. Nach was? Als Sterling dort sucht, findet er jede Menge Filmcassetten, aber keine Kamera. Nachts, als Kay schon weggezogen ist und Sterling allein in Wilsons Haus übernachtet, bricht jemand ein und durchsucht das Arbeitszimmer. Sobald er den Einbrecher verjagt hat, sucht auch Sterling nach dem Geheimversteck und wird fündig: In einem Tresor steht eine Kamera mit einer Filmcassette. Der Film zeigt Wilsons Gang durch den Wald. Er fand jede Menge Vogelkadaver, und immer nur die von Rotschulterstärlingen.

Wurde Wilson wegen dieses Fundes getötet? Er hatte an einem Artikel gearbeitet, weiß Kay, und wollte ihn in der Nacht seines Todes fertig stellen und abschicken. Feststeht, dass der Artikel jede Menge Staub aufgewirbelt hätte. Möglicherweise hatte jemand etwas gegen diesen Artikel. Doch wer?

|Vogel-Holocaust|

Die Antwort nach dem Warum stellt sich heraus, als Sterling von Wilsons älterem Mentor Juri Mandryka in ein verstecktes Labor geführt wird: Hier sind hunderte von Vogelkadavern konserviert und seziert worden. Alles Rotschulterstärlinge. Und alle starben an derselben Todesursache: Gift. Nicht irgendeines, sondern eines, dessen Substanz nach ein paar Stunden nicht mehr nachzuweisen ist. Der perfekte Massenmord.

|Zu viele Mitwisser|

Als eine Frauenleiche in einem Müllcontainer gefunden wird, stößt Sterling schon wieder auf die Spur des mysteriösen Pickup-Trucks, dessen Spuren im Zusammenhang mit dem Mord an Wilson gefunden wurden. Es stellt sich heraus, dass die junge Frau, eine Deutsche namens Heidi Voss, mit Wilson gut befreundet war. Wusste auch sie von dem Massenmord an den Vögeln? Musste sie sterben, um ihr Geheimnis ins Grab zu nehmen? Dann ist auch Dr. Mandryka in höchster Gefahr – und auch Sterling selbst.

|Der Ermittler wird gejagt|

Das FBI hat inzwischen das Foto der Überwachungskamera über Wilsons Labor aufbereitet. Die an die E-Mail angehängte Bilddatei zeigt jedoch zu Sterlings Verblüffung und maßloser Bestürzung sein eigenes Gesicht! Da hält ihm natürlich Lieutenant Wiley vom lokalen Polizeirevier seinen Dienstrevolver unter die Nase. Sterling wurde von den Drahtziehern hereingelegt und muss sich ganz schnell etwas einfallen lassen. Denn sonst wird auch er bald für immer über das schweigen, was er gefunden hat.

_Mein Eindruck_

Ich habe diesen spannenden Thriller in nur zwei Tagen gelesen. Auf längeren Zugfahrten oder ähnlichen Reisen stellt sich das Buch als optimale Unterhaltung und Ablenkung heraus. Dabei bleibt der Autor doch immer auf dem Boden der Tatsachen. Er bemüht nicht wie Dean Koontz oder Preston/Child irgendwelche übernatürliche oder übersinnliche Phänomene, um seine Story etwas prickelnder zu machen.

Die Fakten, auf die FBI-Agent Sterling Bledsoe bei seinen Ermittlungen stößt, sind überall verfügbar: in Bibliotheken, Archiven, vor allem aber im Internet. Diese Fakten kann ein Journalist wie der Autor ohne weiteres in Fleißarbeit zusammentragen. Doch es gibt eine Kategorie des Wissens, die man schwerlich im Internet finden wird: das Überleben auf den Straßen von New York City.

Sterling muss sich verstecken – vor seinen eigenen Leuten! Am besten kann er das dort, wo er aufgewachsen ist: in Harlem, in der South Bronx. In diesem Teil des Buches erfahren wir endlich mehr über den Werdegang des Sterling Bledsoe, über sein schwieriges Verhältnis zu seinem Bruder Wilson und über die erstaunlichen Kenntnisse, die sich Sterling dabei angeeignet hat. Von seinen Freundinnen ganz zu schweigen.

Denn im Gegensatz zu Wilson ist Sterling ein Charmeur erster Güte, den es bisher noch nie bei einer einzelnen Dame gehalten hat. Sein einziger ständiger Lebensbegleiter ist daher sein schwarzer Porsche. Den haben ihm jetzt allerdings die lieben Kollegen vom FBI konfisziert. Und um das Maß der Probleme vollzumachen, muss sich Sterling auch um seine derzeitige Herzensdame kümmern: Veronica.

Die kaffeebraune Schönheit ist zwar ein Schatz, aber zwei Nächte in einem Stundenhotel für Prostituierte, ohne Kontakt nach außen und ohne ein Stündchen ruhigen Schlafs – das treibt auch die beste Freundin an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Nach einer wilden Flucht vor den FBI-Verfolgern schaffen sie es endlich, vollständig unterzutauchen. James Bond, zieh deinen Hut!

Sterlings Bemühungen, den Feinden in den eigenen Reihen ebenso auf die Spur zu kommen wie den Killern in Hanover, sind ebenso spannend wie der erste Teil, als er den Mord an Wilson untersuchte. Nach einem sehr komischen Intermezzo findet dann der Showdown in Hanover statt. Der Leser darf sich auf einige böse Überraschungen gefasst machen. Denn Sterling hat längst nicht alles herausgefunden, was es an Rätseln im Mordfall Wilson Bledsoe zu lösen gibt. Somit bleibt die Lektüre bis zur letzten Seite spannend. Danach kommt nur noch der obligate Epilog.

|Schwächen|

Für ein Romandebüt ist „Der innere Zirkel“ schon erstaunlich ausgereift. Es gibt kaum Längen, und die Handlung schreitet rasch voran. Doch wie stets in Krimis ist es die so genannte „backstory“, die dem Autor die meisten Fallen stellt. Diese Vorgeschichte kann mitunter Jahre und Jahrzehnte zurückreichen – so auch in diesem Fall. Die Connection zu Heidi Voss und ihrer Mutter Helga Voss – deutsche Frauen müssen in amerikanischen Romanen immer solchen altmodischen Namen tragen – ist recht verwickelt. Man muss schon sehr aufmerksam (oder lieber gleich zweimal) lesen, um sich nicht zu fragen, wieso auf einmal alles dort, im beschaulichen Stuttgarter Ländle, einen verhängnisvollen Anfang nahm.

Die Übersetzung von Peter A. Schmidt ist durchaus kompetent. Nur gegen seine Bevorzugung des Dativs gegenüber dem Genitiv habe ich etwas. Merke: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod!

Auf Seite 338 unterläuft entweder dem Autor oder dem Übersetzer oder beiden ein blöder Fehler, hoffentlich nur aus Versehen. Die Rede ist von Rotschulterstärlingen, die die Ernte der Farmer im Mittelwesten wegfressen. Dann ist im nächsten Satz die Rede von New Hampshire und Vermont, wo Wilson Bledsoe ja die massenhaft vergifteten Vögel fand. Und dies soll im „Nordwesten“ von Chicago gewesen sein, wie es im Text steht? Wohl eher im „Nordosten“!

_Unterm Strich_

„Der innere Zirkel“ ist ein recht gelungener Krimi, der mit einer ökologisch orientierten Problematik durchaus den Nerv von Europäern treffen dürfte: Vogelmord im industriellen Maßstab? Das dürfte auch Leser hierzulande interessieren, nicht nur in den USA, wo die Story angesiedelt ist.

Ich habe die spannend und routiniert erzählte Geschichte wie erwähnt in nur zwei Tagen gelesen. Es findet sich nicht nur Mord und Totschlag darin, sondern auch eine gute Prise Humor und Sinnlichkeit sowie natürlich eine Menge Gefühle. Allerdings beeinträchtigen diese Zutaten keineswegs die actiongetriebene Ermittlungsarbeit des Helden, der schließlich selbst zum Gejagten wird.

So manche Schwäche kann man in diesem Krimidebüt gerne verschmerzen. Ich hoffe, von diesem Autor bald wieder etwas lesen zu können, um mehr von Sterling Bledsoes bewegtem Vorleben zu erfahren.

|Originaltitel: The blackbird papers, 2004
463 Seiten, aus dem US-Englischen von Peter A. Schmidt|