Bram Stoker / Oliver Rohrbeck – Dracula (Hörspiel)

Blutsaugergrusel: Ideal als Geschenk zu Halloween

Im Jahr 1891 befindet sich das britische Weltreich auf dem Höhepunkt seiner Blüte. Doch Graf Dracula, der Fürst der Dunkelheit, verlegt seinen Wohnsitz nach London, um seine unstillbare Gier nach Blut zu befriedigen. Wird er das Imperium mit seiner untoten Brut zu Fall bringen? Doch nein. In einer dramatischen Jagd verfolgen der junge Dr. Seward und sein Lehrmeister Prof. van Helsing gemeinsam mit dem Anwalt Jonathan Harker und dessen Frau Mina den „Jäger der Nacht“ bis nach Transsylvanien, um seinem unheiligen Leben ein Ende zu bereiten.

Der Autor

Bram Stoker ist der Künstlername des irischen Schriftstellers und Theatermanagers Abraham Stoker (1847-1912), dessen wichtigste Karriere mit der des damals berühmten Theaterschauspielers Henry Irving verbunden war, der von 1838 bis 1905 lebte. Stoker begann schon 1872 mit dem Veröffentlichen seiner Erzählungen, was 1897 in der Publikation des Horrorklassikers „Dracula“ gipfelte, der aber 1901 kräftig revidiert wurde. Stoker schrieb noch ein paar weitere unheimliche Romane („The Lair of the White Worm“ wurde erst 1986 vollständig veröffentlicht und prompt verfilmt) und etliche Erzählungen.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Regisseur Oliver Rohrbeck hat die Hörspielreihe „Die drei ???“ betreut und dabei auch selbst als Sprecher mitgewirkt. Er veranstaltet Livehörspiele, Drehbuchlesungen und Literaturabende. Seine Firma „LauscherLounge“ will die Hörspielproduktion transparent machen, indem alles live aufgeführt wird: die Dialoge, die Musik und die Geräusche. Seit 2005 ist die Firma ein Plattenlabel und realisiert die ersten Studioproduktion, so wie etwa „Dracula“. Ihr Markenzeichen: bekannte Hollywoodstimmen, erfahrene Dialogregisseure, exzellente Sounddesigner und ideenreiche Autoren sollen zusammenwirken. Nun, das mit den neuen Autoren wird sicher noch auf sich warten lassen, denn Stoker ist ein Uraltklassiker. Zur Crew gehören der Geräuschemacher Jörg Klinkenberg und der Komponist Dirk Wilhelm.

Mehr Infos sowie zwei Hörbeispiele (.wav) unter http://www.lauscherlounge.de/dracula/cd.htm.

Die Rollen und ihre Sprecher

David Nathan: Jonathan Harker (Stimme von Johnny Depp, Christian Bale)
Oliver Rohrbeck: Dr. Seward (Ben Stiller, Michael Rapaport)
Torsten Michaelis: Dracula (Wesley Snipes, Sean Bean)
Tanja Fornaro: Lucy Westenraa, Frau in Kutsche
Melanie Pukaß: Mina Harker, Lucy Westenraa (Halle Berry, Helena Bonham Carter)
Erich Räuker: Kapitän (Richard Dean Anderson)
Tobias Kluckert: Arthur Holmwood
Rainer Fritzsche: Maat
Daniel Finger: Zeitungsreporter
Detlef Bierstedt: van Helsing, Vampirkutscher (Bill Pullman, George Clooney, Robert Englund, Jonathan Frakes)

Handlung

Dr. John Seward stellt sich vor und berichtet als Zeuge der Geschehnisse, wie eine Handvoll aufrechter Briten (und ein Holländer) die Bedrohung aus Transsylvanien, die als Graf Dracula auftrat, zur Strecke brachte. Unter den Dokumenten, mit denen Seward seine Darstellung belegt, gehört das Tagebuch von Jonathan Harker zu den wichtigsten.

Das Jahr 1891. Harker ist der Gehilfe eines Anwalts in England und muss nach Rumänien reisen, um seinem Klienten Dracula Dokumente über den Kauf eines Hauses in England zu überbringen. Nachdem er über Budapest und Klausenburg nach Bistritz gereist ist, muss die Postkutsche über den berüchtigten Borgo-Pass fahren. Dort, so hat der Graf geschrieben, solle er in eine andere Kutsche umsteigen. Der Pass liegt über einem tiefen Abgrund, und wenn in der Ferne die Wölfe heulen, können die Pferde schon mal nervös werden. Das ist aber noch gar nichts gegen die wilde Fahrt in der Kutsche des Grafen. Und deren Kutscher hat so seltsam spitze, weiße Zähne …

Und auch der Herr Graf besitzt eine prachtvolle Reihe solcher Beißerchen. Bloß nicht nervös werden, sagt sich Harker, schließlich ist das ein geschätzter Kunde seiner Kanzlei, und er nur ein Lehrling. Etwas merkwürdig ist es schon, dass der Schlossherr das Geheul der Wölfe als „die Musik der Kinder Nacht“ bezeichnet. Ein, gelinde gesagt, eigenartiger Geschmack.

Das Interieur ist recht alt, aber geschmackvoll und teuer, auch die Bibliothek ringt Harker Anerkennung und Interesse ab. Es ist zwar merkwürdig, dass nirgendwo ein Spiegel zu sehen ist, aber herrje, wozu hat er denn seinen Rasierspiegel mitgebracht? Im Schloss würde er sich gerne in der Abwesenheit des Hausherrn, dessen „Geschäfte“ ihn stets tagsüber daran hindern, sich um seinen Gast zu kümmern, gerne näher umsehen. Aber alle Türen sind verschlossen. Allmählich kommt sich Jonathan ein wenig wie ein Gefängnisinsasse vor.

Am 7. Mai erscheint der Graf wieder einmal unangemeldet, als sich Jonathan gerade rasiert. Dass der Hausherr keine Reflexion im Spiegel zeigt, versetzt ihm einen solchen Schrecken, dass er sich schneidet. Der Anblick des Lebenssaftes scheint den Grafen außerordentlich aufzuregen. Er schreit auf und zerbricht den Spiegel. Wenig später verschwinden alle Dokumente Harkers und seine Tür bleibt versperrt. Als er zu gehen wünscht, öffnet ihm der Graf freundlich das Schlosstor („Reisende soll man nicht aufhalten.“), doch davor fletscht einer der Wölfe, die dauernd zu hören sind, die Reißzähne und knurrt Jonathan an. Der junge Mann beschließt zu bleiben.

Ende Juni beobachtet er etwas, das noch merkwürdiger ist als alles andere: Fünfzig Kisten, die wie Särge aussehen, werden nur mit Erde gefüllt, auf Karren geladen und abtransportiert. An diesem Abend lässt sich der Graf nicht mehr blicken, und Jonathan ist sich selbst überlassen. Er weiß genau, wohin Dracula unterwegs ist: nach Carfax House, das er über die Kanzlei gekauft hat. Aber was hat er dort bloß vor?

Mein Eindruck

So weit also das Tagebuch des bedauerlichen Jonathan Harker, meint Dr. Seward. Doch was dann folgt, ist der reinste Horrorfilm, und zwar in der Fassung, die man von Francis Coppola kennt. Den Verlauf der Handlung brauche ich wohl nicht mehr nachzuerzählen, ist er doch allen Zuschauern des Films gut bekannt. Allerdings ist das Ende ein wenig anders gestaltet als von den Amerikanern. Nach einer furiosen Aufholjagd fangen die zwei Paare von Vampirjägern die Kutsche des Grafen auf dem Borgo-Pass ab und setzen den Grafen dem Licht der untergehenden Sonne aus. Ein Showdown beginnt, der sich aber im Vergleich zu dem, was Hollywood an spektakulärem Bühnenzauber produziert hat, wie ein laues Sommerlüftchen ausnimmt.

Wer sich nun fragt, was aus den anderen 49 Särgen geworden ist, die der Graf nach England verschiffen ließ, so gibt darüber der Mittelteil der Story Auskunft. Ich will aber nichts darüber verraten, um nicht die Spannung zu zerstören. Sie dienten jedoch als Grundstock für den Aufbau einer weltumspannenden Nation von vampirischen Untoten. Jeder von Draculas Sippschaft hätte demnach, so offensichtlich sein Plan, selbst eigene Sklaven schaffen sollen, die wiederum weitere Vampire geschaffen hätten – ad infinitum. Diese Art der Ausbreitung hat viel Ähnlichkeit mit einer Epidemie, wie sie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein immer wieder auftraten, mit verheerenden Folgen. Der Vampirismus ist unter anderem eine biologische Krankheit.

Aber auch eine psychologische. Dies zeigt sich sehr deutlich an den weiblichen Opfern des Vampirs. Lucy, die schöne Verlobte von Arthur Holmwood, wird nicht von ihrem Bräutigam entjungfert, sondern von einem dahergelaufenen Graf Dracula aus dem hinterletzten Rumänien – wie unstandesgemäß! Sie bekommt jedoch von ihm kein Kind, wie das Mutter Natur vorgesehen hat, sondern eben die vampirische Krankheit. Da ihr Tod nicht ihr Ende ist, tritt sie später als das Gegenteil einer richtigen Mutter auf: Sie gibt Kindern nicht das Leben, sondern sie nimmt es ihnen, indem sie ihren Blutdurst stillt. Und natürlich sehnt sie sich stets nach ihrem Herrn und Erschaffer bzw. Erwecker. Wie sagt er doch immer so beschwörend? „Fleisch von meinem Fleische, Blut von meinem Blute!“

Die vielfachen Verdrehungen, die der Vampirismus als Krankheit bewirkt, überhöhen die traurige Wirklichkeit, die die Epidemien dem Leser damals vor Augen führten, ins Monströse. Diese Faszination ist zwiespältig. Der Horror, der vom Vampir ausgeht, ist eindeutig: Das untote Leben als Sklave des Blutdurstes erscheint nicht gerade erstrebenswert. Aber die besonderen Fähigkeiten des Vampirs wie etwa die Hypnose und die Telepathie (Dracula kommuniziert so mit der hypnotisierten Mina), aber auch sein potenziell ewiges Leben entzünden die Vorstellungskraft und rühren an uralte Menschheitswünsche und –ängste. Wäre es nicht toll, unsterblich zu sein? Wäre es nicht fabelhaft, die geheimsten Gedanken eines Menschen zu hören? Nein, nicht nur zu hören, sondern sie sogar manipulieren zu können?

Der Autor benutzt diese Gegenwelt der Projektionen, um den Leser zu unterhalten und ihn am Ende der Geschichte mit der Gewissheit zurückzulassen, dass das banale Alltagsleben vielleicht doch dem Grauen des Vampirismus vorzuziehen sei. Die Aufregung der entzündeten Imagination ist zwar schauerlich, erotisch und lustvoll, aber am Ende muss dem Leser wieder bestätigt werden: Nicht nur, dass alles gut |wird|, sondern auch, dass alles gut so |ist|, wie es ist. Gäbe es kein Happy End, hätte der Leser allen Grund, unruhig in seinem Lesesessel umherzurutschen und über die Schulter zu blicken. Sind auch bestimmt genügend Knoblauchzehen und Kruzifixe aufgehängt?

Die Sprecher/Die Inszenierung

Dies ist Kino für die Ohren. Der skizzierte Anfang stimmt den Hörer bereits atmosphärisch auf das unheimliche Geschehen ein. Etliche Seltsamkeiten am Gastgeber und seiner Umgebung fügen sich zu einem unheimlichen Gesamteindruck zusammen, dass im Grafenschloss ein Hort des Bösen existiert: Allein schon das Wolfsgeheul jagt einem Schauder über den Rücken. Als der Graf mit seinen 50 Särgen gen London abreist, ist klar, dass dem britischen Weltreich große Gefahr droht.

Die Schiffsreise liefert eine Vorahnung, was auf Merry Old England zukommt: Von acht Mann Besatzung der „Demeter“ bleibt am Ende, als das Schiff vor Whitby strandet, kein einziger am Leben! Die Überfahrt ist stilecht mit Wellenrauschen, Wind und Decksgeräuschen untermalt, die Matrosen schreien entsetzt auf, und die Glocke des offenbar vom Klabautermann heimgesuchten Schiffs läutet dazu ein garstig’ Totenlied …

Dass „Dracula“ nicht nur Horror und Action bietet, sondern auch jede Menge Erotik, belegen die nachfolgenden Szenen mit der jungen Miss Lucy. Dr. John Seward, unser Gewährsmann, behandelt die bleiche Dame. Sie scheint wie viele ihrer Zeitgenossinnen an Unterernährung, zu wenig Bewegung und Mangel an frischer Luft zu leiden. Doch wir wissen natürlich schon, was die einzig mögliche Ursache sein dürfte. Sie wurde von ihrem unsichtbaren Lover gebissen und ausgesaugt.

Erst der große weise Mann (nein, er heißt nicht Gandalf) findet die Bisswunden am Hals der Schönen, stellt die richtige Diagnose und benennt die wahre Ursache vom Siechtum der Dame. Kranke Schönheiten waren im fin de siècle total in Mode. Doch diese spezielle Lady hat weder TBC noch erwartet sie ein Kind durch unbefleckte Empfängnis. Sie windet sich in erotischen Träumen und einem neuen unstillbaren Verlangen, das sie erfüllt. Lustvoll seufzt sie, bis ihr Dreamlover kommt und sie mit einem echt „spritzigen“ Geräusch beißt und von ihren Qualen erlöst. Lucys späteren Abgang hätte man noch etwas bedrohlicher gestalten können, doch der Regisseur legt mehr Wert auf zurückhaltende Glaubwürdigkeit (soweit diese bei Vampiren möglich ist). Wieder spritzt Lucys Blut, dass es einem den Magen umdreht.

Auftritt Mina Harker. Auch sie wurde wie Lucy von den Männern allein gelassen und, nunmehr schutzlos, vom bösen Vampir gebissen. (Und sie heißt nicht einmal Rotkäppchen.) Ab dem 4. Oktober wundert sich ihr Mann über Minas Blässe. Aber noch mehr über ihre Bitte um Mitleid für die Kreatur. Ihre Krankheit ist eine andere als Lucys, und doch ist sie ebenso erotisch: Sie wird in ihrem Unterbewusstsein vom Vampir besessen, und diese Tatsache offenbart sich nur in der Hypnose (welche schon bei E. A. Poe als „Mesmerismus“ eine wichtige Rolle spielt).

Nicht Minas Körper wurde vom Vampir übernommen, sondern ihre Seele. Das kann man für Liebe halten, doch das täte Jonathan wahrscheinlich nicht. Was bei Lucy die Wollust war, das ist bei Mina eine seelische Versklavung. Die Sprecherin stellt Minas hypnotisiertes Ich einigermaßen glaubhaft dar, obwohl sie dabei einen schmalen Grat zwischen allzu schwächlicher „Jungfrau in Not“ und einer in Seelennot befindlichen Nonne bewandert. Mina Harker ist weder das eine noch das andere, sondern hilft vielmehr aktiv bei der Verfolgung ihres Peinigers mit.

Geräusche und Musik

Wie schon erwähnt, sind alle Geräusche sehr realistisch und glaubwürdig gestaltet. Das erstreckt sich allerdings auch auf das Spritzen des Blutes, wenn der Graf seine Beißerchen wetzt oder ein Holzpflock eine Untote ins Nirwana befördert. Die Musik ist wie jede andere Filmmusik nach konventionellem Muster gestaltet, und niemand, der auf alte Dracula-Filme steht, wird sich daran stören. Die Musik lenkt die Emotionen auf subtile, aber wirkungsvolle Weise.

Unterm Strich

Einen Roman von mehreren hundert Seiten in nur eine gute Stunde zu packen, erfordert natürlich einige Streichungen. Daher kommt es zu einigen unerklärten Phänomenen wie etwa van Helsings Anweisung, Knoblauch im Zimmer einer gefährdeten Vampirismuspatientin aufzuhängen. Was das wohl nützen soll? Nur der gute Prof weiß es, und weil wir schon fast alle Draculafilme gesehen haben – inklusive „Tanz der Vampire“ – fragen wir auch gar nicht mehr nach den Gründen. Es ist nun mal so, und damit basta. Vampire gehören ja, besonders zu Halloween, zur Folklore und somit haben Knoblauch, Kruzifix und Dracula-Outfit ihren festen Platz in der Inszenierung.

Solche Fragen werden schnell vergessen oder kommen dem Hörer gar nicht erst in den Sinn, wenn die stimmungsvolle Musik und die stilechte Geräuschkulisse den Kinosaal zwischen den Ohren beherrschen. Mir persönlich sind solche Inszenierungen lieber als eine sich ewig lang dahinziehende Lesung, wie sie etwa der |Hörverlag| vorgelegt hat. Man muss einfach zu lange auf die „Stellen“ warten, auf die es ankommt.

Das vorliegende Hörspiel unterhält nicht nur fabelhaft, sondern lässt auch den grundlegenden Charakter von Stokers Klassiker erkennen: Es ist nicht nur eine 08/15-Räuberpistole über verwegene Vampirjäger. Hier werden auch unterschwellige Strömungen der Kultur des fin de siécle aufgegriffen und für die Langzeitverwertung verarbeitet. Es dauerte nicht lange, bis der erste Dracula-Film über die Leinwand flimmerte (ich glaube, mit Bela Lugosi). Und der erotische Dämon, den der Vampir verkörpert, ist deshalb bis heute ein fester Mythos in der westlichen Zivilisation. Wie sonst wäre der stetig wachsende Fundus an Vampirserien zu erklären?

Fazit

Dieses „Dracula“-Hörspiel ist ein preiswertes Geschenk für alle Freunde des Vampirismus und solche, die davon noch infiziert werden sollen.

Originaltitel: Dracula, 1897 und 1901
ohne Übersetzerangabe
1 CD, 79:55 Minuten

www.lauscherlounge.de

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