Thomas Ligotti – Grimscibe: Sein Leben und Werk

Darum geht’s:

13 Geschichten erzählen von einem unendlich fremden Universum, das jene, die einen Blick in die Regionen jenseits der bekannten Realität werfen, gleichermaßen faszinieren wie verstören, locken wie zerstören … – Mit eindrucksvoller Sprachgewalt entwirft Autor Ligotti eine weniger böse oder grausame als fremde Welt, deren bizarre Bewohner den Menschen ignorieren und absichtslos zerstören: Eine unerhört intensive Lektüre, in der die Stimmung jederzeit wichtiger als die Handlung ist.

Inhalt:

– Einleitung, S. 9/10

Die Stimme der Verdammten

Das letzte Fest des Harlekins (The Last Feast of Harlequin, 1990), S. 13-72: Auf den Spuren eines alten Volksfestes gerät ein Forscher in den Bann einer alten, unheimlichen und aufmerksamen Macht.

Die Brille im Geheimfach (The Spectacles in the Drawer, 1987), S. 73-92: Eine Lektion wollte er dem leichtgläubigen Freund erteilen; stattdessen macht er ihn mit dem echten kosmischen Schrecken vertraut.

Blumen des Abgrunds (Flowers of the Abyss, 1991), S. 93-108: Das alte Van-Livenn-Haus hat sich in ein Portal verwandelt, das seinen Besuchern – auf eigenes Risiko – Einblick in die wahre Gestalt des Universums gestattet.

Nethescurial (Nethescurial, 1991), S. 109-131: Ein altes Manuskript weckt die Erinnerung an ein vergessenes kosmisches Grauen, das sich daraufhin wieder zu rühren beginnt.

Die Stimme des Dämons

Träumen in Nortown (The Dreaming in Nortown, 1991), S. 135-168: Die Suche nach der wahren Natur dieser Welt führt in eine gänzlich unmenschliche Region der Wirklichkeit und wird zur Reise ohne Wiederkehr.

Die Mystiker von Mülenburg (The Mystics of Muelenburg, 1987), S. 169-182: Der Schrecken, der über das mittelalterliche Mülenburg kam, wird in der Gegenwart erneut geweckt.

Im Schatten einer anderen Welt (In the Shadow of Another World, 1991), S. 183-202: Das alte Haus wurde in ein Tor zu anderen Welten verwandelt; nun wird der Mechanismus ohne Wissen um die Folgen wieder in Gang gesetzt.

Die Kokons (The Cocoons, 1991), S. 203-219: Die Suche nach Heilung führt den gemütskranken Mann zu einem ‚Arzt‘, der ihn als Wirt für eine außerirdische Kreatur auserkoren hat.

Die Stimme des Träumers

Die Abendschule (The Night School, 1991), S. 223-240: Lehrer Carnieros Erkenntnishorizont hat sich todesbedingt enorm geweitet, was seinen Unterricht riskant für jene macht, die seinen Spuren folgen.

Der Zauber (The Glamour, 1991), S. 241-255: Den Nachtschwärmer verschlägt es in ein Kino, dessen Filmzauber sich vor allem vor der Leinwand entfaltet.

Die Stimme des Kindes

Die Bibliothek von Byzanz (The Library of Byzantium, 1988), S. 259-282: Pater Sevich ist im Besitz gänzlich verbotenen Wissens, dessen Hüter auch für unabsichtliche Offenbarungen strenge Strafen verhängen.

Miss Plarr (Miss Plarr, 1991), S. 283-297: Die neue Hauslehrerin weiß um die Nischen der Realität, in denen ein ganz eigenes Leben wimmelt, das nicht immer dort bleiben mag, wo es beheimatet ist.

Die Stimme unseres Namens

Der Schatten am Grund der Welt (The Shadow at the Bottom of the World, 1990), S. 301-317: Im Zeitstrom klafft plötzlich eine Lücke, was den Bewohnern des betroffenen Landstrichs eine Kette unheimlicher Erlebnisse beschert.

Originaltitel und Übersetzerangaben, S. 319

Der kalte Kosmos und sein Sprachrohr

„Grimscribe“ – der grimmige Schreiber: So nennt bzw. personifiziert Thomas Ligotti im Vorwort jene Stimme, jene Wesenheit, die ihm Geschichten erzählt, die zur Grundlage eigener Erzählungen werden. Grimscribe ist stets präsent und gleichzeitig nie fassbar. Er kommentiert eine Welt, die in gewisser Weise deterministisch funktioniert: Alles ist vorbestimmt, doch da der Mensch außerstande ist, die Regeln wirklich zu begreifen, blühen ihm in Kontakt mit der wahren Realität meist unerfreuliche Erkenntnis-Überraschungen. Die Ahnungslosen können sich glücklich schätzen. Sie verharren auf ihrem Niveau nur eingeschränkter Weltsicht und wissen nichts von ihrer Hilflosigkeit. Doch hinter den Kulissen des normalerweise sichtbaren Universums agieren Mächte, denen die Menschen absolut gleichgültig sind. Sie bringen ihnen keine Feindseligkeit entgegen; ihre Opfer sind schlicht bedeutungslos für sie, die auf Existenzebenen existieren, die dem Menschen verborgen bleiben.

Auf diese Weise ist die Fähigkeit, die kalte Fremde da draußen zumindest ansatzweise zu begreifen, eher ein Fluch als ein Talent. Folgerichtig empfinden die Protagonisten der „Grimscribe“-Geschichten keine Freude, wenn sie der Erkenntnis zumindest näherkommen. Wissen ist hier keine Macht, sondern legt Ohnmacht offen und wirkt in der Regel zerstörerisch.

Ligotti geht in dieser Hinsicht mehr einen Schritt weiter als Howard Phillips Lovecraft (1890-1937), als dessen Nachfolger ihn nicht wenige Kritiker sehen. In der Tat gibt es Gemeinsamkeiten, aber Ligotti hat schon früh seine eigene Stimme gefunden, die er auch in „Das letzte Fest des Harlekins“ – einer Erzählung, die als Hommage an Lovecraft entstand – nicht nur zur Geltung bringt, sondern Vorlage und Neuschöpfung zu einer genialen Melange verbindet.

Sucher in einer Welt höchstens böser Überraschungen

Lovecraft schuf in seinem „Cthulhu“-Zyklus ein Universum, in dem die Erde durch Überwesen aus Raum und Zeit zumindest zur Kenntnis genommen wird. Manche Schlacht wird auf dem Planeten der Menschen geschlagen, dessen Bewohner sich auf die eine oder andere Seite schlagen. Ligotti geht von einer absoluten Ignoranz aus. Der Kontakt mit den ‚Anderen‘ ist stets einseitig. Verderben und Tod sind keine ‚Strafen‘ für ‚verbotene‘ Neugier, sondern Folgen einer Berührung zwischen Bereichen des Universums, die sich nicht berühren sollten. Diese Unvereinbarkeit bedingt die Auflösung der ‚typischen‘ Ligotti-Story: Der Handlungsstrang will sich nicht zu einer Erklärung schürzen. Stattdessen ist das Ende einerseits grausam und andererseits offen: Was den Protagonisten, die sich zu weit ins Fremde vorgewagt haben, faktisch zugestoßen ist, muss sich der Leser selbst ausmalen – eine Herausforderung, der nicht jede/r gewachsen ist oder sich stellen möchte.

Ligottis Erzählungen sind folgerichtig keine trivialunterhaltsamen Happen für das feierabendmüde Hirn. Man muss sich auf den Verfasser und seine Ideen einlassen, sich mit ihnen beschäftigen, zwischen den Zeilen lesen und eigene Schlüsse ziehen. Einleitend durchaus noch sichtbare Fixpunkte lösen sich spätestens im Finale im Irrealen auf. Wer solche Irritierungen nicht schätzt, mag sich stattdessen auf eine Atmosphäre ‚freuen‘, die so meisterhaft wie selten Emotionen wie Entfremdung, Einsamkeit, Ratlosigkeit oder Furcht greifbar zu machen versteht: Dies ist keine aufmunternde Lektüre. Ligotti meint es ernst. Simpel-Horror und Gänsehaut-Grusel fallen aus. „Grimscribe“ geht tiefer – buchstäblich unter die (Hirn-) Haut.

Die eigene Psyche ist Ligotti bei der Schaffung seiner Welten eine wichtige Quelle. Er leidet selbst unter jenen Lebensängsten, mit denen er auch seine Figuren schlägt. „Grimscribe“ ist in gewisser Weise auch der Versuch, für eine nicht einfach pessimistische, sondern grundsätzlich hoffnungs- und freudefreie Weltsicht eine Erklärung zu finden. So drehen sich Ligotti-Plots (beinahe?) manisch um Kontakte = Konfrontationen mit der ‚anderen‘ Welt, wobei sich manches wiederholt. Seine ‚Erkenntnisse‘ gipfelten 2010 in dem fesselnden, seltsamen und traurigen ‚Sachbuch‘ „The Conspiracy Against the Human Race“, das erwartungsgemäß ebenfalls keine gemütserhebende Wirkung ausstrahlt.

„Grimscribe“ als Bestandsaufnahme

Im Laufe einer schriftstellerischen Karriere, die bereits mehrere Jahrzehnte währt, hat Ligotti seine Weltsicht gleichzeitig erweitert und verfeinert. „Grimscribe“ erschien als Sammlung erstmals 1991. Der Autor hat sein Werk seitdem nicht aus den Augen verloren bzw. als abgeschlossen betrachtet. Zwanzig Jahre später nahm er sich „Grimscribe“ anlässlich einer Neuausgabe wieder vor und überarbeitete seine Erzählungen.

Diese Fassung (bisher) letzter Hand liegt der deutschen Übersetzung zugrunde. Wieder einmal präsentiert der Festa-Verlag jenseits des Schnetzelsex-Horrors und der populistischen Haudrauf-Thriller, die das Haus finanziell stützen, ein Juwel. Die Texte wurden hervorragend eingedeutscht, was angesichts eines Autors, der an seinen Worten buchstäblich feilt, keine einfache Aufgabe gewesen sein dürfte.

Auch optisch (und haptisch) stellt „Grimscribe“ einen Leckerbissen dar – simpel layoutet aber schön und sauber gedruckt, fest gebunden sowie mit einem Schutzumschlag versehen, der ein eindrucksvolles Titelbild zeigt. Auf diese Weise reiht sich „Grimscribe“ nahtlos in die Reihe der Meisterwerke ein, die in „H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens“ bereits erschienen sind – ein Reihenttel übrigens, der längst zu kurz greift, da der hier präsentierte Schrecken weit und spannend über Lovecraft hinausgreift.

Autor

Thomas Robert Ligotti wurde am 9. Juli 1953 in Detroit, der Autostadt im Nordosten des US-Staates Michigan, geboren. Zwischen 1971 und 1973 besuchte er das Macomb County Community College und studierte bis zu seinem Abschluss 1977 an der Wayne State University. Mehr als zwei Jahrzehnte arbeitete er anschließend für den Verlag Gale, der sich u. a. auf die Publikation von Lehrbüchern und die Zusammenstellung von Informationsübersichten spezialisiert hat.

Als Autor trat Ligotti erstmals in den früher 1980er Jahren hervor. Er veröffentlichte Kurzgeschichten in den Anthologien diverser Kleinverlage. Obwohl Ligotti die Öffentlichkeit scheute, keine Interviews gab oder sich gar persönlich zeigte, konnte er aufgrund seiner intensiven Storys ein Stammpublikum gewinnen. Die Kritiker waren erst recht begeistert. Sie goutierten Ligottis erzählerisches Talent, das sich keinesfalls im ‚gewöhnlichen‘ Horror erschöpfte, sondern stilistisch und sprachlich anspruchsvoll die Altmeister des Genres (Edgar Allan Poe, H. P. Lovecraft) nicht nur ebenso eindrucksvoll zitierte wie ‚richtige‘, d. h. literarisch anerkannte Schriftsteller (William S. Burroughs, Emil Cioran), sondern zu einer eigenen, überaus markanten Stimme fand. Jede Story ist ein sorgfältig geschriebenes, geradezu komponiertes und auf den Effekt zugeschliffenes Stück. Ligotti scheut die Romanlänge, die ihm die gewünschte Intensität versagt.

Ligotti profitiert von dem immensen Wissen, das er während seiner beruflichen Laufbahn gewonnen hat. Ebenso wichtig ist für das Werk sein Krankheitsbild. Er leidet unter Lebensängsten und Anhedonie, d. h. der Unfähigkeit, Freude zu empfinden, was die durchgängige Melancholie erklärt, die seine Erzählungen prägt. Seit er 2001 seine Arbeit für Gale beendet hat, lebt und arbeitet Ligotti – weiterhin zurückgezogen – im südlichen Florida

Gebunden: 319 Seiten
Originaltitel: Grimscribe – His Lives and Works (New York : Carroll & Graf 1991/Burton, Michigan : Subterranean Press 2011)
Übersetzung: Michael Siefener (10), Malte S. Sembten (2), Joannis Stefanidis (1), Monika Angerhuber u. Felix F. Frey (1)
Cover: Diana Dihaze
www.festa-verlag.de

E-Book: ISBN-13: 978-3-86552-321-1
www.festa-verlag.de

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