Viegas, Francisco José – Schatten der Tiefe. Jaime Ramos und Filipe Castanheira ermitteln

_Mordserie in der Kathedrale der Moderne_

Der Tatort: Portugal, die Weltausstellung in Lissabon 1998. Es kommt den Politikern der Hauptstadt höchst ungelegen, dass auf dem Expo-Gelände drei Leichen entdeckt werden. Der Schlüssel zu den Verbrechen scheint in einem verschollenen Video zu liegen, das einer der Ermordeten aufgenommen hat. Es soll den Beweis für die Existenz eines geheimnisvollen Giftfisches enthalten. Was hat das amerikanische Militär damit zu tun? Doch Inspektor Ramos stößt auf Gerüchte, dass dieses Video kompromittierendes Material enthält.

Zu allem Überfluss taucht auf den portugiesischen Azoren noch eine vierte Leiche auf. Dort ermittelt Inspektor Filipe Castanheira. Wie passen die vier Morde zusammen, fragen sich die beiden Kriminaler. Wo ist das Muster? Eine harte Nuss für das Ermittlerduo Jaime Ramos und Filipe Castanheira, doch die Zeit drängt.

_Der Autor_

Francisco José Viegas wurde 1962 in der portugiesischen Region Alto Douro geboren (die nicht gerade für Wohlstand bekannt ist). Er studierte in Lissabon und unterrichtete von 1983 bis 1987 Linguistik und Literatur an der Universität von Évora. Er ist als Literaturkritiker und Journalist tätig, war lange Chefredakteur des Literaturmagazins „LER“ und leitet die Zeitschrift „Grande Reportagem“. Er veröffentlichte bereits mehrere Gedichtbände und Reiseführer, bevor 1997 sein erster Kriminalroman erschien. Heute ist er laut Verlag einer der beliebtesten Krimiautoren Portugals.

Seine weiteren Krimis sind: „Der letzte Fado“ und „Das grüne Meer der Finsternis“. Auch sie sind bei |Lübbe| erschienen.

_Handlung_

Eigentlich ist Inspektor Jaime Ramos ja in Porto stationiert, aber offenbar hat er Mist gebaut, und sein Chef gibt ihm im Mai zwei Monate Sonderurlaub in der Hauptstadt. Acht Wochen entfernt von Rosa und den Strandausflügen! Kaum auszuhalten. Darauf erstmal eine Zigarre. Er fährt nicht ohne seinen Assistenten Isaltino de Jesus, sein Gewissen.

In Lissabon ist Weltausstellung oder, wie man hier so kosmopolitisch sagt: „Expo“. Es gibt auch gleich etwas zu tun. Denn im Atlantikbecken des Ozeanariums wurde eine nackte Leiche gefunden. Ein Mann ohne Zeh, das heißt: Ihm wurde der rechte große Zeh entfernt, nein, nicht abgebissen von einem hungrigen Fisch, sondern: abgeschnitten. Fachmännisch. Weshalb, warum, wozu, fragt sich Ramos, und vor allem: von wem?

Wer hatte nächtens Zugang zu diesem speziellen Becken, wo doch die gesamte Anlage rund um die Uhr per Video überwacht wird? Wer wusste darüber Bescheid? Ramos‘ Blick fällt auf eine Dame im Badeanzug, die sagt, sie komme aus Mexiko. Sie kannte den Toten: Es handle sich um Paulo Viveiros Costa, einen Meeresbiologen von den Azoren. Den portugiesischen Azoren, wohlgemerkt.

Diese mexikanische Biologin Elena Carreter kommt Ramos nicht ganz koscher vor, und er fühlt ihr ein wenig auf den Zahn. Bei mexikanischem Essen kommt er ihr etwas näher. Siehe da: Sie hatte etwas mit diesem Costa, er übernachtete in ihrem gemieteten Appartement, „so oft es nötig war“. Was soll das schon wieder heißen? Meint sie die Nummern, die sie mit ihm geschoben hat? Ramos fragt lieber nicht. Elena sagt noch, Costa habe sich für die Fische interessiert, die er von den Azoren mitgebracht habe. Sie war mit ihm noch essen, bevor er am nächsten Tag zurückfliegen wollte. Tja, so schnell kann’s gehen, denkt Ramos und pafft seine Zigarre.

Kaum hat er erfahren, dass Elena am nächsten Tag den Flieger nach Mexiko nehmen will, lässt er sie überwachen, vernimmt sie noch einmal und siehe da: Auch sie wird wenig später mausetot aufgefunden. Mit durchschnittener Halsschlagader – ein fachmännischer Schnitt mit dem gleichen Messer wie bei Costa. Ist das nicht ein merkwürdiger Zufall? Ein verdammt merkwürdiger, findet Ramos, sogar so merkwürdig, dass ihm allmählich mulmig wird. Wer überwacht ihn und seine Arbeit? Schnüffelt er in Dingen herum, die hochbrisant sind? Wenn man sich den Leiter der Expo anhört, so will der die Aufklärung der Mordfälle so schnell wie möglich.

Am nächsten Morgen taucht Leiche Nummer drei auf: eine Landschaftsarchitektin. Jetzt schlägt’s dreizehn, und der Expoleiter macht noch mehr Druck, doch der Chef der mexikanischen Abordnung stellt sich ahnungslos. Aber was Ramos im Moment am meisten interessiert: Was waren das überhaupt für Fische, die Costa von den Azoren brachte?

|Ponta Delgada, Sao Miguel, Azoren|

Ein hübsches Fleckchen Erde, findet Unterinspektor Filipe Castanheira, dieses Sao Miguel. Aber nicht für diesen mausetoten Unbekannten, über dem er gerade in einer alten Tabakfabrik steht. Castanheira lebt schon zehn Jahre auf dieser beschaulichen Insel, aber viele Leichen musste er noch nicht anschauen. Für den Unbekannten in den Managerklamotten war hier Endstation. Aber warum?

Ramos hat ihm eine Anfrage geschickt: Wer ist dieser tote Costa, der im Atlantikbecken gefunden wurde? Castanheira fragt dessen Professor an der Uni. Costa war ein Meeresbiologe, der hinter einer Unterart des Speisefisches Drachenkopf her war. Hinter dem Azorischen Drachenkopf, den die meisten Forscher für einen Mythos, eine Erfindung eines Amerikaners halten, aus dem Jahr 1969. Das war vor fast 30 Jahren. Dieser spezielle Drachenkopf soll ein extrem leistungsstarkes Nervengift produzieren, mindestens so stark wie das des Steinfisches. Wie apart, aber wen interessierte das?

Costa hatte auf der Insel eine Verlobte, Silvia Amari. Mann, die ist vielleicht sauer auf ihn, hat sie doch von seiner Geliebten Elena Carreter erfahren. Sie würde das abgelegene Haus, in dem Paulo bei ihr übernachtete, am liebsten abfackeln, sagt sie. Castanheira riecht Lunte. Wozu mochte wohl so eine betrogene Fast-Ehefrau fähig gewesen sein?

_Mein Eindruck_

Kann es wirklich so einfach sein? Natürlich nicht. Und natürlich ist dies auch nicht das Ende der Indizienkette, weder für Ramos noch für Castanheira. Es tauchen ein, zwei, viele Videobänder auf, und am Schluss weiß sich Ramos nicht mehr vor den gezückten Kassetten seiner Beglückwünscher zu retten, die sich bedanken, dass er endlich die Mordserie der Expo aufgeklärt hat. Na toll, denkt sich Ramos, er will aber lieber schnellstens wieder nach Hause, denn Rosa hat schon etwas ungnädig nach ihm gefragt. Dabei ist sie nicht mal mit ihm verheiratet.

|Ramos‘ seltsame Methoden|

Bevor er abreist, besucht er auf seine unnachahmliche und überraschende Art diverse Großkopfeten, darunter natürlich den Expoleiter, der ihn mit Brocken von Englisch und Französisch traktiert, sowie den undurchsichtigen Leiter der mexikanischen Delegation. Ramos hat eine Methode, die sogar seinen Kollegen Mereiles von der lokalen Polizei überrascht: Er schleicht sich am offiziellen Dienstweg vorbei. Flugs hat er eineinhalb Tage Vorsprung vor den werten Lissabonner Kollegen, findet Zeugen und Beweisstücke, die er verschweigt oder nur ein „zufällig“ auftauchen lässt. Selbst seine ertragreiche Vernehmung Elena Carreters hatte er weder beantragt noch angekündigt – genau deshalb wurde sie ja so ertragreich. Er saß ihr quasi wie ein Privatmensch gegenüber, und entsprechend freier konnte sie mit ihm reden. Nicht nur über Kochrezepte.

Ramos mag Kochrezepte, genau wie das Kochen ist ihm das Rauchen guter Zigarren ein wichtiger Lebensinhalt. Der Autor lässt ihn ganze Absätze herunterrattern, in denen er die Vorzüge von Zigarrenmarken aufzählt. Dabei bleibt zwangsläufig nicht unerwähnt, dass auch die Azoren ein wichtiges Tabaksproduktionsgebiet sind. Als Kollege Castanheira in Lissabon eintrudelt, kann es nicht ausbleiben, dass er zwei Kisten Zigarren für den geschätzten Kollegen Ramos mitbringt. Gegenüber gewissen renitenten Zeugen erweist sich eine gute Benida als eine begehrte Währung, die Herzen öffnet – und Lippen entsiegelt.

|Castanheira|

Ein unverwechselbarer Charakter ist dieser Ramos. Das kann man von Castanheira leider nicht behaupten. Obwohl die Ortsbeschreibungen von Sao Miguel wie eine Welle daherkommen, trägt dies doch kein bisschen dazu bei, den Unterinspektor näher zu charakterisieren. Vielleicht ist er mit seinen rund dreißig Jahren noch zu jung dafür, um eine der Schrullen von Ramos angenommen zu haben: Zigarrensucht, Fußballbegeisterung, Kochleidenschaft usw. Aber Castanheira ist ein scharfer Beobachter, dem kaum etwas entgeht, und eine so kleine Insel lässt sich im Nu nach Daten von Amerikanern, Mexikanern und Einheimischen durchkämmen. Voilà: Der Tote in der Tabakfabrik ist der von Ramos gesuchte Amerikaner. Und noch einen weiteren schlimmen Finger stöbert Castanheira auf …

|Stolperfallen der Erzähltechnik|

Nun könnte der Eindruck entstehen, die Geschichte würde nur so dahinplätschern, genährt von Kochrezepten und Spielständen. Nichts liegt dem Autor ferner als das. Vielmehr ist es ein für den Erstleser irritierendes Stilmerkmal dieses Romans, dass plötzlich sowohl Brüche als auch Zeitsprünge stattfinden. An Brüche kann man sich gewöhnen, aber nicht an unvermittelte Zeitsprünge. Denn es ist ja das ureigenste Merkmal des Kriminalromans, dass er den Fall von A bis Z aufrollt und dabei Ursache keinesfalls mit der Wirkung verwechselt.

Dazu ist es nötig, alles Indizien und Ereignisse in eine nachvollziehbare chronologische Reihenfolge zu bringen, wie in ein Korsett logischer Ordnung. Ob hie und da noch ein Glied in der logischen Kette fehlt, fällt nicht so sehr ins Gewicht. Wichtig ist die Nachvollziehbarkeit der Chronologie. Um dies zu gewährleisten, ist auf der erzählerischen Ebene die korrekte Handhabung grammatikalischer Zeitformen unabdingbar. Ansonsten würde zeitliches Chaos entstehen und die schöne Logik ginge zum Teufel: Ursache käme nicht mehr vor Wirkung, sondern irgendwann hinterher.

Die stillschweigende Perfidie des Erzählers / Autors besteht nun darin, die Chronologie zu unterminieren. Dies gelingt ihm durch ständig eingebaute Rückblenden. Diese werden jedoch nicht als solche angekündigt noch gekennzeichnet. Die „korrekte Handhabung grammatikalischer Zeitformen“ wäre nun sehr willkommen und hilfreich, doch so einfach will es der Autor seinem Leser nicht machen. In Ramos‘ einzigartigem Verstand verschwimmen vielmehr die Zeitebenen in einen sich ausbreitenden Ozean der Zusammenhänge. Das mag der intuitiven Entdeckung von Indizien entgegenkommen, verunsichert aber den Leser – oder es kommt einem Leser entgegen, der mit solchen modernen Techniken vertraut ist.

|Schatten der Tiefe|

Der Ozean ist die zentrale Metapher des ganzen Romans. Nicht nur haben Elena und Costa dort ihr Arbeitsfeld, sondern auch Lissabon – durch das Ozeanarium der Expo – und die Azoren sind davon umgeben. Ramos‘ Geist ist davon erfüllt, und er ahnt, dass es in Elenas Geist nicht viel anders aussieht. Doch der Ozean hat lichte Höhen dicht unter der Oberfläche – und er hat „Schatten der Tiefe“. Dorthin muss sich Ramos begeben: nicht buchstäblich natürlich, sondern mit kriminalistischen Mitteln. Er fängt auf diese Weise ein paar dicke Fische.

Dieser zweigeteilte Ozean ist das symbolhafte Spiegelbild sowohl der Welt, die die Expo nach Lissabon holt, als auch für Lissabon, das sich mit der Expo nun der Welt als moderner Saubermann präsentieren will. Auf dieser weißen Weste machen sich die drei Morde in der Expo denkbar schlecht aus, aber sie sind nur eine Verlängerung der Zustände, die in der Metropole schon immer geherrscht haben. Dies zu zeigen, ist das Anliegen Ramos‘ und die geheime Zielrichtung des Autors. Mit Ramos hat er einen Mann aus der Provinz in die Hauptstadt geholt, der das zwielichtige Geschehen dort mit distanziertem, kritischem Blick beobachtet – und sich keinen Deut um die korrekte Vorgehensweise schert. Sein Ermittlungserfolg gibt Ramos recht – und bestätigt den Autor in seiner versteckten Kritik.

_Unterm Strich_

Mit Viegas ist ein genuin portugiesischer Krimiautor zu entdecken, der uns Mitteleuropäern zum einen sein am Rande Europas gelegenes, aber wunderschönes Land präsentiert, zum anderen mit Inspektor Ramos ein Original zum Kennenlernen anbietet, das mehr als einen Blick verdient. Ein geistiger Verwandter von Kurt Wallander und Kommissar Van Veeteren ist dieser Mann der unkoventionellen Methoden, und in Isaltino de Jesus hat er sowohl einen Spiegel als auch ein Gewissen, so dass wir jede Fassette des knurrigen Inspektors kennen lernen.

Ähnlich wie Hakan Nesser ist Viegas kein Freund von geradlinigen Erzählsträngen oder gar eindimensionalen Figuren. Beides weiß er durch seine trickreiche Erztähltechnik zu unterlaufen. Das fordert vom Leser erhöhte Aufmerksamkeit, und ich ertappte mich beim mehrmaligen Lesen eines Absatzes, der so gar nicht zum Vorhergehenden passen wollte. Es schien mir, als würde der Autor zwischen den Zeilen wesentlich mehr erzählen, als auf der Seite stand. Dass dies wirklich so ist, erwies sich an den Sprüngen und Brüchen im Erzählverlauf – siehe oben.

Dennoch habe ich den Roman genossen, denn wenn man genau aufpasst, ergibt sich ein Gewebe, ein Bild, in dem es keine losen Enden mehr gibt. Und wem dies so erscheint, der sollte die letzten 20 Seiten noch einmal lesen. Denn hier tut sich noch eine ganze Menge an Ermittlung. Hier plätschert kein Epilog vor sich hin, der den Leser gütig in sein eigenes Leben entließe, nein: Es bleibt spannend bis zur letzten Seite. Der Roman ist ein trügerisch leicht zu lesendes Buch, doch die Mühe, die man investieren muss, lohnt sich.

|Originaltitel: Un crime na exposicao, 1998
301 Seiten
Aus dem Portugiesischen von Kirsten Brandt|
http://www.edition-luebbe.de/