Baxter, Stephen – Imperator (Die Zeit-Verschwörung 1)

Britannien, im Jahre 4 vor Christus: In einer eisigen Nacht wird Nectovelin in einem brigantischen Rundhaus geboren. Seine Mutter stirbt an der schweren Geburt, doch sie spricht eine Prophezeiung in Latein, der ihr völlig fremden Sprache der Römer.

|Dann schrie Brica, ein Laut, der die stille Nachtluft durchbohrte. Und sie begann hastig zu reden, ein hohes, schnelles, seltsames Gebrabbel, das Cunovic das Brut gefrieren ließ. (…) Bricas Sturzbach lateinischer Wörter versiegte jedoch immer noch nicht; Cunovic kritzelte weiter auf seine Tafel. Die Wörter waren seltsam, rätselhaft und unzusammenhängend: haushohe Pferde … kleinen Griechen … toter Marmor (…) Cunovic dämmerte allmählich, dass dies eine Beschreibung der Zukunft – oder einer Zukunft – war, eine Schilderung von Ereignissen, die erst eintreten konnten, wenn er und Brica und sie alle schon längst tot waren. Voller Furcht stellte er sich einen Zauberer in einer dunklen Zelle vor, irgendwo in der Vergangenheit oder Zukunft, der dafür sorgte, dass sich in diesem Augenblick, in dem Geburt und Tod im Gleichgewicht waren, die fremdartigen Wörter in den Kopf der hilflosen Brica ergossen – einen Zauberer, einen Weber, der die Fäden der Geschichte verwob, Fäden, die Menschenleben waren. Aber warum?|

_Stephen Baxter_

Der Engländer Stephen Baxter (* 1957) ist bekannt für seine naturwissenschaftlich fundierten Science-Fiction-Romane. Seit 1995 arbeitet Baxter hauptberuflich als Autor und wurde seitdem mit zahlreichen renommierten SciFi-Preisen wie dem |Philip K. Dick Award| und unter anderem auch dem deutschen |Kurd-Laßwitz-Preis| ausgezeichnet.

Doch Baxter ist kein Technomane, er ist vielmehr ein Visionär. Er scheut sich nicht, Handlungsbögen aus tiefster Vergangenheit über die Gegenwart bis hin in die ferne Zukunft zu schlagen, wie er es bereits in seiner |Kinder des Schicksals|-Trilogie getan hat.

Dies könnte auch hier der Fall sein, denn ohne Folgebände ist dieser erste Band von |Die Zeit-Verschwörung| ein reinrassiger |Alternate History|-Roman mit keinerlei Science-Fiction-Elementen, sieht man von der nur vermuteten Existenz eines „Webers“, der das Schicksal der Welt manipulieren möchte, ab. Dieser Roman ist nur ein extrem offener Auftakt, der leider keinerlei Hinweise liefert, in welche Richtung Baxter den Stoff weiterentwickeln will.

_Eine Rückkehr in das römische Britannien_

In derselben Zeit wie „Imperator“, dem hier besprochenen ersten Band der auf vier Bänden geplanten Serie |Die Zeit-Verschwörung|, spielt übrigens auch „Der Orden“. Baxter-Kenner könnten aus dem dritten Band der |Kinder des Schicksals|-Trilogie, [„Transzendenz“, 3193 unter Umständen Rückschlüsse ziehen, um wen oder was es sich bei dem ominösen „Weber“ handelt, allerdings gibt es darauf leider keine weiteren Hinweise.

Stephen Baxter hat sich bereits öfter in die Zeit der römischen Besetzung Britanniens verirrt, und seine Kenntnisse dieser Zeit und der Geschichte Britanniens sind wirklich profund. Wie er dieses Mal den Bogen zur Science-Fiction schlagen möchte, bleibt wie gesagt leider offen, aber auch als |Alternate History|-Autor kann er überzeugen.

Die erwähnte kryptische Prophezeiung steht im Mittelpunkt, die ein von Urahn Cunovic vermuteter „Weber“ seiner Familie gesendet hat. Aber warum und zu welchem Zweck, kann nur vermutet werden. Der Leser begleitet die Familie Cunovics durch die Jahrhunderte. Jeder Nachfahre interpretiert sie auf seine Weise, erlebt, wie die Prophezeiung wahr zu werden scheint, nur um enttäuscht zu werden. Ebenso droht sie verloren zu gehen, nachdem ein Teil der Familie verarmt ist und in die Sklaverei gezwungen wird.

_Chronologie einer Prophezeiung_

Die Geschichte der Interpretation der Weissagung beginnt mit Nectovelin, der in dem Wortlaut der Prophezeiung den Auftrag und die Deutung sieht, dass Britannien von den Römern frei sein wird. Er wird Augenzeuge der römischen Landung und wirft sich der Invasion entgegen – doch er verliert sein Leben und das Land seine Freiheit. Seine Base Agrippina überlebt und mit ihr die Prophezeiung.

Jahrhunderte später sieht seine ferne Nachfahrin Severa eine Chance auf Reichtum. Die Prophezeiung spricht von einer „steingewordenen Schlinge“ im Norden Britanniens. Kaiser Hadrian plant, eine Grenzbefestigung zu bauen – und Severa arbeitet darauf hin, dass der Wall nicht aus Grassoden, sondern aus Stein besteht. Getrieben von der Prophezeiung und Profitgier verheiratet sie ihre Tochter Lepidina mit dem Eigentümer eines Steinbruchs.

Doch auch zu dieser Zeit wird die Prophezeiung nicht wahr, Britannien nicht frei. Severas Nachkommenschaft versinkt in Sklaverei, nur in Form eines auf den nackten Rücken tätowierten [Akrostichons]http://de.wikipedia.org/wiki/Akrostichon können die Worte des Webers überdauern. Spätere Generationen verbinden einen Teil der Prophezeiung – „Erhoben in Brigantien, wird später er in Rom gepriesen, Paladin eines Sklavengottes, am Ende selbst ein Gott“ – mit dem Aufstieg des Christentums unter Kaiser Konstantin. Will der Weber den Tod des Kaisers und das Ende des Christentums?

Der Sklave Atrox, ferner Nachkomme Severas, wird das Leben Kaiser Konstantins in der Hand halten. An seiner Entscheidung hängt die Zukunft Britanniens.

_Aufstieg und Fall Roms aus britannischer Sicht_

„Imperator“ hätte eine kontrafaktische Erzählung werden können. Doch Baxter folgt exakt dem geschichtlichen Verlauf. Drei Kaiser, die nicht nur aus britannischer Sicht von Bedeutung sind, werden hervorgehoben. Kaiser Claudius als Eroberer Britanniens und Mauretaniens steht für das expansive Zeitalters des römischen Reichs. Das römische Heer selbst ist nicht nur eine Eroberungsmaschine, es schafft mit seiner Verwaltung, seinen Kastellen und seiner Disziplin auch römische Kultur, die nach und nach fast alle Britannier zu Bürgern Roms, echten Römern, macht. Kaiser Hadrian baut einen Wall, er zieht Grenzen und sichert, was vorhanden ist. Baxter betont dies als einen Wendepunkt in der Strategie und des Wesens des römischen Reichs. In den Provinzen verfällt die Disziplin, lokale Volksstämme und ihre Bräuche gewinnen an Einfluss, Britannien wird in der Folge eine Vielzahl von Usurpatoren hervorbringen.

Mit Konstantin I. beginnt zwar noch lange nicht der Fall des römischen Reichs, aber Baxter sieht hier schon den Keim des Untergangs aufgehen, der während der Zeit Hadrians gelegt wurde. Seine Regierungszeit steht im Zeichen des Aufstiegs Konstantinopels (damals noch Byzantion, erst nach dem Tod des Kaisers wurde die Stadt umbenannt) zur Hauptstadt und der nach ihm benannten konstantinischen Wende, mit welcher der Siegeszug des Christentums begann. Diese nahm ihren Ursprung in der Verwendung des Christusmonogramms in der Schlacht an der Milvischen Brücke im Jahr 312.

Hier kann man nun trefflich spekulieren. Der Sklave Atrox gewinnt für sich und seine Nachkommen die Freiheit: War das die Prophezeiung? Was beabsichtigt der Weber? Hat überhaupt eine Generation seiner Familie irgend etwas bewirkt, hat sie die Prophezeiung wahr gemacht, verhindert, oder hat diese sich als wahr erwiesen, egal welche Schlüsse man aus ihr abzuleiten versuchte? Welche Bedeutung wird das Christentum für den weiteren Verlauf der Geschichte und der Prophezeiung haben?

_Fazit:_

Trotz der Wissensvorteile, die Leser, Rezensenten und Kenner Stephen Baxters gegenüber Nectovelins Nachkommen haben, sind sie am Ende genauso ratlos. Baxter gibt keine Erklärungen zu der Prophezeiung ab, der Sinn der Prophezeiung bleibt auch nach dem Ende des Romans kryptisch und vage. Dies macht den Reiz der Geschichte aus, gleichzeitig wird diese Lust zum Frust – denn Baxter erbarmt sich mit keinem noch so kleinen Fingerzeig seiner Leser, man kann nur hoffen, dass der Folgeband „Eroberer“ ein wenig mehr Licht in vermeintliche Absichten des „Webers“ bringt.

Was Baxter geschaffen hat, findet man im Titel des Romans: Anhand dreier Imperatoren Roms schildert er Aufstieg, Stagnation und Fall des Reichs – aus britannischer Sicht. Ein lupenreiner Historienroman aus einer interessanten Perspektive, nämlich der einer über Jahrhunderte beteiligten Familie. Dabei bleibt es nicht aus, dass die Charaktere austauschbar sind. Eine Hauptfigur gibt es nicht, die Generationen der Familie wechseln sich ab. Sie sind nur Statisten, die große Idee der Prophezeiung und die gesamte Vielfalt der Geschichte stehen im Mittelpunkt. Hier bietet Baxter seinen Lesern sehr viel, setzt aber auch sehr viel Wissen der römischen und britannischen Geschichte voraus. Er weist nicht gesondert darauf hin, welche geschichtliche Bedeutung Konstantin I. hatte; hier muss man Baxters Gedanken folgen können, er lädt zum Denken ein, ohne selbst allzu sehr zu kommentieren, um die Gedanken des Lesers in von ihm gewünschte Bahnen zu lenken. So sehr ich diese Vorgehensweise auch schätze, der Nachteil ist, dass sie rücksichtslos davon ausgeht, dass der Leser Baxter folgen kann, was bei dem vorausgesetzten Wissen seine Gedankengänge sicher für viele Leser hermetisch unzugänglich erscheinen lässt.

Da die gesamte Serie als Science-Fiction vermarktet wird, kann ich mir vorstellen, dass viele Fans des Science-Fiction-Autors Baxter von ihr enttäuscht sein werden. Denn ob diese bisher rein historische Sachverhalte reflektierende und illustrierende Quadrologie noch die Wende zu einem noch so kleinen Anteil Science-Fiction schaffen wird, kann man nicht sagen, es gibt keinerlei Anzeichen dafür.

Wer historische Romane liebt und mit Baxters viele Romane überspannenden Handlungsbögen etwas anfangen kann, sollte „Imperator“ eine Chance geben. Wer [„Der Orden“ 1040 geschätzt hat, wird mit „Imperator“ sogar noch eine Steigerung erfahren. Alle Leser die Science-Fiction lesen möchten, seien gewarnt; diese Quadrologie ist für das Genre atypisch und schwer einzuordnen. Das englische Genre der |Alternate History| beschreibt sie am besten.

Das Ende des Romans gibt einen Hinweis auf den Folgeband „Eroberer“, der im Jahr 1066 spielen wird. Isolde, eine ferne Nachfahrin Nectovelins, gebiert ein Kind, und die Worte der Prophezeiung entströmen erneut ihrem Mund – diesmal jedoch auf sächsisch!

|“Weshalb spricht sie sächsich?“, knurrte Tarcho. „Die Zukunft ist brigantisch, nicht sächsisch!“ (…) Nennius‘ Stimme klang verblüfft. „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück? Was hat das zu bedeuten? Wenn das die Worte des Webers sind, was ist das für ein Traum? Oh, was hat das zu bedeuten?“|

Der erwähnte „Eroberer“ des Jahres 1066 ist Wilhelm der Eroberer. Seine Zukunft wird ebenfalls von den prophetischen Worten beeinflusst, die selbst die Brandschatzung des Klosters Lindisfarne überdauern und seine Entscheidungen beeinflussen werden. Auf Baxters Homepage findet man zudem einige weitere Hinweise: Der dritte Band wird Kolumbus und das Jahr 1492 thematisieren, der vierte Band Großbritannien im Jahr 1940, zur Zeit der Luftschlacht um England.

Wohin Baxter diese Quadrologie führen wird, ist nicht abzusehen. Wem dies zu wenig ist, der sollte von ihr Abstand nehmen. Der von Baxter gewählte Erzählstil kann nur polarisieren. Wer Baxters historische Reflexionen und das Genre der |Alternate History| zu schätzen vermag, sollte definitiv zuschlagen.

Offizielle Homepage des Autors:
http://www.stephen-baxter.com/

Verlagshomepage:
http://www.heyne.de

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