Draesner, Ulrike – Vorliebe

_Inhalt:_

Harriet ist sich sicher, dass sie ihr Leben im Griff hat. Sie ist Astrophysikerin und ihre Arbeit bedeutet ihr viel: Sie hat so viel mit Zahlen zu tun, mit dem Erschaffen von Bildern, die man nicht sehen kann, durch Formeln, die beweisen, dass sie da sein müssen. Harriet liebt Zahlen, hat sie schon immer geliebt. Und darüber hinaus gibt es immer noch die kleine, die winzigkleine Chance, einmal ins All zu kommen.

Die Tests laufen gut, sie ist zwar schon relativ alt, aber ihre Ergebnisse sind überdurchschnittlich. Nur das mit dem Rauchen muss sie noch in den Griff bekommen. So, wie sie ansonsten auch ihr Leben im Griff hat, wie gesagt. Ihr Leben mit Freund Ash und dessen Sohn Ben.

Doch es kommt zu einer Verkettung unglückseliger Umstände: Ash fährt versehentlich eine Frau an, wartet zusammen mit Harriet im Krankenhaus auf Nachricht, die Tür fliegt auf und – Peng! – da steht Peter. Pfarrer Peter Olvaeus, den Harriet seit einundzwanzig Jahren nicht gesehen hat. Peter, der ihre erste, große, unerbittliche Jugendliebe war. Nicht, dass da etwas gelaufen wäre – Harriet war sechzehn und Peter zwanzig Jahre älter. Aber es war auch nicht so, dass da nichts war: seelisch, herzlich. Und während das Mädchen noch hoffte, verlobte sich Peter mit Maria. Mit der Maria, die Ash dann anfuhr, einundzwanzig Jahre später.

Ein zart-nostalgisches Band verbindet Harriet und Peter, und wie von selbst beginnen die Familien, miteinander zu verkehren. Dass sich dabei eine alte Liebe Bahn bricht, war – ja, was? Geplant? Nicht geplant? Unvermeidlich? Ersehnt? Befürchtet? Wohl von allem ein bisschen. Und zwei erwachsene Leben, die schon auf ihren separaten Bahnen dahin zogen, brechen plötzlich aus, springen gewaltsam aus den Schienen, entscheiden sich bewusst, sich Zeit miteinander zu stehlen und nehmen in Kauf, was dabei zu Bruch geht. Und es bleibt nicht bei ein paar Scherben…

_Kritik:_

Mädchen trifft Junge, Mädchen verliert Jungen, Junge heiratet anderes Mädchen, Mädchen findet anderen Jungen, Mädchen und Junge treffen einander wieder und betrügen Mädchen II und Jungen II. Das ist jetzt nicht eben eine neue Geschichte, sondern vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Es kommt also auf die Erzählweise an bei dieser alten Mär.

Und Ulrike Draesner erzählt so introspektiv, dass der Leser sich an ihren Stil erst gewöhnen muss. Gedanken werden manchmal ohne nähere Erklärung aneinander gereiht, so dass man danach die Situation betrachten muss, in der sie gedacht worden sind, um einen Zusammenhang herstellen zu können.

Um die unmittelbare Wucht darzustellen, mit der Harriet vom plötzlichen Wiederauftauchen Peters getroffen wird, wechseln sich Szenen aus dem Jetzt und Hier mit Szenen aus ihrer leidenschaftlichen Jugend ab, als sie noch den Mut hatte, ihre Liebe mit reiner Flamme brennen zu lassen – ehe Peter ihr das Herz brach. Und allein das, allein die Tatsache, dass Ash, der durchaus sympathisch gezeichnet ist, nie die Chance hatte, von Harriet so geliebt zu werden, wie Peter es einst wurde, das ist schon tragisch.

Und es bleibt nicht die einzige Tragik in diesen Zeilen: Es wird ziemlich deutlich gemacht, was die Sehnsucht nach der vergangenen Jugend, nach verpassten Gelegenheiten, nach dem Ausleben etwas einst bewusst Nichtausgelebten anrichten kann. Allerdings wird nicht gewertet, es wird wiedergegeben: Auf verschlungenen Pfaden, auf den Gehirnwindungen der Protagonisten wird erzählt, was passiert ist und was passiert. Und das mit ziemlich großer literarischer Klasse.

_Fazit:_

„Vorliebe“ ist kein lautes Buch. Es ist ein nachdenkliches, reflektierendes Schriftstück, aber es darf nicht falsch verstanden werden. Es ist nicht etwa barmherzig oder milde. Hier werden unvorbereitete Protagonisten aus ihrer zivilisierten Alltagswelt mitten in die rohe Pracht von urtümlichen Empfindungen verpflanzt. Und auch die Tünche vieler Worte und innerer Monologe kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier Wunden geschlagen, Empfindungen verletzt, Ungeduld entzügelt und kleine Funken zu brausenden Flammen entfacht werden.

„Vorliebe“ ist ein meisterliches Werk über die Abgründe im Menschen, eine Lockung zum und eine Warnung vor dem Genießen verbotener Früchte gleichermaßen. Hut ab, Ulrike Draesner, das ist schmerzhafte Poesie.

|Gebundene Ausgabe: 253 Seiten
ISBN-13: 9783630872940|
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