Irvine, Ian – Spiegel der Erinnerung, Der (Die drei Welten 1)

Llian steht kurz davor, das zu erreichen, wofür er die letzten fünfzehn Jahre gelernt und gearbeitet hat: ein Meisterchronist zu werden. Doch seine Variante der |Großen Geschichte der Düsternis| stößt nicht nur auf Begeisterung. Wistan, der Direktor des Kollegiums, zweifelt Llians Beweise zwar nicht öffentlich an, lässt sie aber auf schnellstem Weg in der Versenkung verschwinden und versucht, Llian mundtot zu machen. Als ihm das nicht gelingt, schickt er ihn kurzerhand mit einem halsbrecherischen Auftrag ins Gebirge. Er soll eine junge Frau namens Karan aufspüren und nach Thurkad bringen …

Karan ist zwar noch eine junge Frau, hat aber schon mehr erlebt als manch anderer. Da sie eine alte Schuld zu begleichen hat, lässt sie sich dazu überreden, einem Magister im fernen Süden ein magisches Artefakt, den |Spiegel von Aachan|, zu stehlen. Von diesem Augenblick an hetzen die Schergen des Magisters sie unablässig durch den halben Kontinent. Und nicht nur das: Karan plagt die Gewissheit, dass sie den Spiegel keinesfalls in die falschen Hände geben darf, wenn sie nicht entsetzliches Unheil auf die ganze Welt herabbeschwören will. Aber wem soll sie den Spiegel anvertrauen?

_Charaktere_

Karan ist erstaunlich zäh. Als Empfindsame, das heißt jemand, der alle Empfindungen – auch die anderer – um ein vielfaches stärker wahrnimmt als normale Menschen, scheint sie nicht besonders belastbar. Tatsächlich gab es in ihrer Familie genügend Beispiele für geistige Labilität und Wahnsinn. Andererseits wirkt die hartnäckige Verfolgungsjagd offenbar stabilisierend auf Karan, sie lernt Selbstbeherrschung, und auch ihr Körper wird gestählt. Ohne es zu ahnen oder zu wollen, schleift der Magister Yggur die junge Frau zu einer ernst zu nehmenden Waffe.

Llian ist von Karan so verschieden wie überhaupt nur denkbar. Mehr als die Hälfte seines Lebens hat er damit verbracht, seine Nase in Bücher zu stecken. All seine Begeisterung gilt Geschichten und Historien, ansonsten ist er nahezu völlig lebensuntauglich, ein schwärmerischer Träumer ohne nennenswerten Bezug zur Realität. Karan zumindest empfindet ihn eher als nutzlos und lästig. Allein seine Stimme scheint sie zu mögen. Die bedeutendste seiner Fähigkeiten dagegen geht nahezu völlig unter: Wenn Llian Karan im Arm hält, kann sie schlafen, ohne zu träumen!

Beide Hauptpersonen sind gut getroffen und angenehmerweise nicht statisch, sondern sie entwickeln sich. Das gilt vor allem für Karan. Überhaupt hat Irvines Charakterzeichnung den Vorzug, dass sie zum einen komplett auf Typen verzichtet – keine Elfen, keine Zwerge oder sonstige Wesen, die festen Definitionen unterliegen und daher nur wenig Variationsmöglichkeiten offen lassen – und zum anderen kein zementiertes Gut und Böse kennt. Selbst Karans Verfolgern, die durchaus ungewöhnlich aussehen und auch ungewöhnliche Fähigkeiten besitzen, hat der Autor menschliche Züge belassen.

_Handlung_

Das wirkt sich auch auf die Handlung aus. Schon im ersten Band, der sich hauptsächlich mit Llians Verbannung und Karans Flucht befasst, deutet sich eine hohe Komplexität an. Gleich der erste Gegner, mit dem die Heldin es zu tun bekommt, zeigt Schwächen wie Sorge, Angst und Schmerz. Da er nicht allein durch pure Machtgier, Bosheit oder irgendeinen Wahn definiert ist, ist der Leser in der Lage, seine Beweggründe zu verstehen und seine Argumentation nachzuvollziehen. Wie im wirklichen Leben ist es so, dass eben nicht immer nur einer Recht hat und alle anderen Unrecht. So sind Karan und Idlis nur deshalb Feinde, weil Karan sich einer Verpflichtung nicht entziehen konnte, die ursprünglich überhaupt nichts mit Yggul und den Seinen zu tun hatte.

Ygguls Beweggründe sind allerdings bisher als einzige etwas detaillierter dargestellt. Sein größter Gegner Mendark sowie die Auftraggeberin des Diebstahls Faelamor sind bisher noch nicht persönlich aufgetaucht. Und Wistan begründet die Verbannung Llians lediglich damit, seine Geschichte bringe das Kollegium in Gefahr. Warum dies der Fall sein sollte, darauf geht er leider noch nicht genauer ein.

Dasselbe gilt für die Ausarbeitung der Historie, die eine enorme Rolle spielt. Nur ein Ausschnitt dieser Vergangenheit wird genauer beleuchtet, in Llians Geschichte, mit der er den Unwillen Wistans auf sich zieht. Alles andere bleibt äußerst bruchstückhaft, angefangen bei dem Grund für die Ächtung der Zain, zu denen Llian gehört, über die verschiedenen Bündnisse und Gegnerschaften während des Krieges bis hin zu dem geheimnisvollen Spiegel, dessen Bewandtnis bisher keiner kennt. Das macht die ganze Sache stellenweise etwas verwirrend und auch ein klein wenig unbefriedigend.

Letztlich jedoch vergisst der Leser diese kleinen Unannehmlichkeiten recht schnell, denn nachdem die Hauptpersonen eingeführt sind, legt der Autor ein recht hohes Erzähltempo vor. Karan gönnt er kaum eine ruhige Minute, und nachdem Llian sie endlich gefunden hat, geht es ihm natürlich kein Deut besser. Jedes Mal, wenn der Leser glaubt, nun hätten sie ihre Verfolger endlich abgehängt, tauchen diese plötzlich wieder auf. Und jedes Mal entkommen die Flüchtlinge nur knapp. Das Kunststück dabei ist, dass kein einziges Mal der Eindruck von Wiederholung entsteht.

Mitten in Karans und Llians Überlebenskampf bricht das Buch dann auf einmal ab. So abrupt, dass ich mich schon fragte, ob hier ein Verlag wieder mal ein Buch einfach in zwei Teile gehackt hat. Ob das tatsächlich der Fall ist, wird sich zeigen.

_Das Lektorat_ hatte Rechtschreib- und Satzbaufehler diesmal ziemlich im Griff. Gestolpert bin ich dafür über die Szene im Wirtshaus von Tullin, wo Tee und Würzwein ein wenig durcheinandergeraten sind. Ansonsten las das Buch sich flüssig.

_Alles in allem_ ist „Der Spiegel der Erinnerung“ ein vielversprechender Einstieg in einen Zyklus ohne feste Schemata oder Schwarz-Weiß-Effekte, mit einer umfangreichen Vorgeschichte, die sich noch ein wenig mehr entfalten darf, und einer bewegten, temporeichen Handlung. Wer mal etwas anderes als die übliche High-Fantasy lesen will, hat hier die Chance auf ein wenig Abwechslung.

_Ian Irvine_ ist Doktor für Meeresbiologie und hat einen Großteil des südpazifischen Raums bereist. Die Idee zu seinem Drei-Welten-Zyklus entstand bereits während des Studiums. Die damals entstandenen Karten und Skizzen dienten später als Basis für die Ausarbeitung, die inzwischen zwei Tetralogien umfasst und noch weiter ausgebaut werden soll. Abgesehen davon hat Ian Irvine den Öko-Thriller „Human Rites“ geschrieben sowie den Zyklus |Runcible Jones|. „Der Spiegel der Erinnerung“ ist das erste seiner Bücher, das auf Deutsch erschienen ist. Der zweite Band mit dem Titel „Das magische Relikt“ ist ab August dieses Jahres erhältlich.

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