Kerr, Philip – Janus-Projekt, Das

Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Europa in Trümmern. Von den Ideologien, den Träumen und Wunschvorstellungen eines Dritten Reiches existierten nur noch Städte, die knapp einer vollständigen Zerstörung entgangen sind. In jedem Straßenzug zeugten die Skelette der zerbombten Gebäude von einem Vernichtungskrieg. Der „totale Krieg“ forderte seine Opfer, und diese waren beileibe nicht nur Soldaten und Parteimitglieder des Deutschen Reiches.

In den Jahren nach dem Krieg entgingen viele Kriegsverbrecher ihrer Strafe. Sich der Verantwortung zu entziehen, zu fliehen in dem Wissen, unmenschliche Schwerverbrechen begangen zu haben, gehörte zur üblichen Verhaltensweise der Offiziere der SS und anderer NS-Organisationen. Auf so genannten „Rattenlinien“ versuchten Verbrecher wie Klaus Barbie, Josef Mengele und Adolf Eichmann, sich der Gerichtsbarkeit der Siegermächtige zu entziehen. Argentinien war in dieser Zeit unter der Regierung von Perón ein beliebter Zufluchtsort.

Es gab einige Organisationen und Verbände, die ein Interesse daran hatten, derartigen Verbrechern zu helfen, nicht selten waren es die Geheimdienste der Alliierten, selbst der Vatikan war behilflich bei der Flucht aus Nachkriegsdeutschland. Kurz vor Ende des Krieges, als sich bereits abzeichnete, dass der Krieg verloren war, soll es eine berüchtigte Gruppe von Nazisympathisanten gegeben haben, die unter dem Namen „Odessa“ fungierte. Mit Geld, Einfluss und straff organisierten Plänen gelang es ihnen, einige Kriegsverbrecher der Justiz zu entziehen. Aber warum schützten die Geheimdienste der Siegermächte solche Kriegsverbrecher?

Der Kalte Krieg betrat die Weltbühne und das Gespenst des Kommunismus bedrohte und verängstigte die Staaten, auf anderer Seite hingegen schürte der Kapitalismus den Neid und auch die Sorgen. Wissenschaftler, Generäle, Ärzte und Geschäftsmänner, die in anderen Zeiten für ihre Verbrechen verurteilt und bestraft würden, entgingen so ihrem Tod – ihr Wissen und ihre Ideen waren für die konkurrierenden Staaten ein allzu wertvolles Hab und Gut.

Im neuen Roman „Das Janus-Projekt“ von Philip Kerr, der in der Nachkriegszeit spielt, geht es um genau dieses Thema.

_Story_

München, 1949. Vier Jahre nach dem verlorenen Krieg gehört der ehemalige Polizist und jetzige Privatdetektiv Bernhard (Bernie) Gunther zu den desillusionierten Deutschen, die zwar den Krieg überlebt haben, aber ansonsten alles als verloren betrachten. Seine Frau ist in einer psychiatrischen Klinik untergebracht, und er selbst führt in der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers in Dachau ein wirtschaftlich marodes Hotel, das keine Gäste beherbergt. Ein Neuanfang will ihm aber nicht gelingen, zu schwer liegen die Erinnerungen an die Erlebnisse der Ostfront auf seiner Seele. Verbittert geht er seiner Idee nach, das einzig Richtige zu tun, das er tun kann – als Privatermittler tätig zu werden.

Nach dem Tod seiner Frau versucht er sich in München eine Existenz aufzubauen. Noch immer gibt es unzählige vermisste Familienmitglieder, die es zu finden gilt, demzufolge auch genug zahlungswillige, suchende Klienten, die ihn beauftragen könnten. Andererseits gibt es noch genug Kunden, die immer noch beweisen wollen, dass ihre nächsten Angehörigen keine Nazis waren, und Bernie Gunther soll ihnen dabei helfen.

Die zweite Möglichkeit ist für seine Verbitterung und seinen daraus resultierenden Sarkasmus nicht ohne Probleme, aber er passt sich schnell der geforderten Situation an und übernimmt den Auftrag einer Frau Britta Warzok, die ihn darum bittet, Beweise für den Tod ihres Ehemannes zu beschaffen. Frau Warzok möchte wieder heiraten, und so lange ihr Ehemann offiziell nicht für Tod erklärt wurde und nur als vermisst eingestuft wird, stellt sich genau dies als sehr störendes Problem dar.

Bernie Gunthers Recherchen und Ermittlungen führen ihn wieder einmal in gefährliche Kreise. Noch immer versuchen ehemalige Nazi-Größen, die junge Bundesrepublik, die von den alliierten Siegermächten besetzt wird, zu verlassen. Und diese Kriegsverbrecher, denen der Tod droht, sehen in den sensiblen Ermittlungen des Privatdetektives ein Problem. Gunther läuft in eine Falle, wird gefoltert und zusammengeschlagen, aber am Leben gelassen. Ein freundlicher Arzt nimmt sich seiner an, versorgt und behandelt ihn, wenig später lernt er einen Erich Grün kennen, der durch eine Verletzung, die er im Krieg erlitt, an den Rollstuhl gefesselt ist. Die beiden Männer freunden sich an und Gunther bietet sich an, für Grün eine Erbschaft anzutreten – Gunther und Grün sehen sich ungemein ähnlich, und die Zeit und der Krieg sollten ausreichen, um an seiner statt die Formalitäten erledigen zu können.

Gunther muss nach Wien reisen, und dort erfährt er, dass er eine Marionette in einem teuflischen Spiel ist. Eingebunden und benutzt in einer weitreichenden Verschwörung, sieht er seine eigene Überlebenschance darin, dieses Komplott aufzudecken, doch schnell bemerkt er, dass im Untergrund noch allzu viele Nazis existieren, die über Leichen gehen, dass er zu einem Spielball der Geheimdienste geworden ist, und auch israelische Killerkommandos auf der Suche nach Kriegsverbrechern kennen nur ihre eigenen Gesetze …

_Kritik_

„Das Janus-Projekt“ ist ein spannender Unterhaltungsroman von Philip Kerr. Allerdings vermischt der Autor die Fakten mit vielen Fiktionen, die zwar unterhalten können, aber nicht zu Ende gedacht wurden.

Die Geschichte spielt in der jungen Bundesrepublik Deutschland, die ein schweres Erbe zu tragen hat. Der Krieg ist verloren und die gerade entstandene Republik kämpft noch immer mit den moralischen Altlasten und Verbrechen des Terror-Regimes. Niemand will mehr von der Vergangenheit reden, es wird verdrängt, ignoriert und totgeschwiegen – doch die Vergangenheit holt einen doch immer wieder ein. Schließlich kann eine ganze Nation, eine ganze Generation nicht einfach von der kriminell ausgearteten ideologischen Bühne hüpfen.

Leider, und genau das ist einer der großen Kritikpunkte, habe ich ebendieses gelebte Schuldbewusstsein im täglichen Miteinander vermisst. Einzig und allein der Hauptcharakter Bernie Gunther lebt noch immer in seiner Vergangenheit, die er nicht vergessen kann oder will und die er versucht, mit einem gewissen sarkastischen Zynismus zu bekämpfen.

Betrachtet man den Roman neutral, so ist die Story dennoch keine neue. Sicherlich baut sie Spannung auf, aber hätte der Autor sich mehr Zeit gelassen, vielleicht einen mehrteiligen Thriller aus der Story gemacht, so hätte dies der Geschichte mehr grundlegende Substanz verliehen. Der Kalte Krieg, der für die nächsten Jahrzehnte die politische Weltbühne beherrschen wird, lässt nicht nur Bernie Gunther zum Spielball werden, auch die gesuchten Naziverbrecher sollen gezwungen werden, gegen die rote Gefahr zu kämpfen. Auch diese Thematik wird nicht zu Ende gedacht, nur angerissen, mehr nicht.

Recht, Unrecht, Moral und Ethik hätten die Säulen dieses Romans werden können, doch leider schildert Kerr die Konsequenzen nicht überzeugend. Immer wieder reißt Kerr diese dunklen Fakten an, aber nur inkonsequent. Diese Motivation im Sinne der Spannung zwar in allen Ehren gehalten, aber so verwandelt sich das Fundament in brüchiges Einerlei. Egal welcher Nation seine Charaktere angehören, sie sind nur sehr schlicht charakterisiert; entweder verfügen sie über edle Motive oder sie sind einfach nur böse. Philip Kerr verrennt sich in seinem Alibihintergrund und beweist in Laufe seiner Geschichte, was er, wenn er an das „Dritte Reich“ denkt, damit an Klischees verbindet. Selbst die Nachkriegszeit und die daraus resultierenden Konfrontationen, egal ob nun politisch oder menschlich, vernachlässigt er.

Die Handlung überlässt der Autor allerdings nicht dem Zufall; es dauert seine Zeit, bis sich die eigentliche Story entwickelt und Bernie Gunther zeigen kann, was so in ihm steckt. Dessen Charakterentwurf muss ich dabei wirklich loben. Seine zynische Art und Herangehensweise und seine Vergangenheit, für die er sich nicht unschuldig führt, machen ihn wirklich sympathisch und sehr menschlich. Einzig und allein der Humor wirkt in manchen Passagen etwas überdosiert und unpassend. Trotzdem könnte dies aber den Roman für manchen Leser retten.

Leider schafft es der Autor auch hier nicht, die Waage im Gleichgewicht zu halten. Es kann und darf nicht sein, dass einzig und allein die Hauptfigur des Bernie Gunther so etwas wie ein Gewissen vorzuweisen hat, ihr Handeln hinterfragt und sich selbst manchmal als sehr kritisch ansieht und damit die einzige Figur bleibt, die so empfindet. Gunthers Schuldbewusstsein, und da steht er weit und breit alleine da, wirkt gerade deshalb oftmals nicht glaubwürdig oder zu überzeichnet.

Philip Kerr hat es aber gut gemeint und aktiv versucht, der Nachkriegszeit ein Gesicht zu geben, doch auf mich wirkte er mit seiner Agenda oftmals überfordert. Die Grenzen zwischen Recht und Unrecht sind zu gradlinig gezeichnet, ohne Grenzland, in dem man Schwächen und Stärken wiederfindet.

Allein schon aus dieser schweren Epoche in Form eines Spannungsromans zu erzählen und dabei genau bemessene Proportionen zu wählen, ist sicherlich schwer und sollte vielleicht Autoren überlassen werden, die diese Zeit er- und überlebt haben oder sich mit der Problematik in den Nachkriegsjahren politisch und gesellschaftlich intensiv auseinandergesetzt haben.

_Fazit_

„Das Janus-Projekt“ ist ein reiner Unterhaltungsroman. Nicht mehr oder weniger. Die Fiktion wird mit nebulösen Fakten vermengt und Philip Kerr schafft es nicht, die Story und ihre Charaktere in konsequenter Weise zu entwickeln. Es gibt keine rein gute und heile Welt, wie sie hier propagiert wird, auch wenn wir uns dies immer wünschen.

Meinen Erwartungen und Ansprüche verfehlt dieser Roman leider völlig. Ein detailliertes Grundgerüst mit allen Facetten von Politik und Gesellschaft, mit Schuld und Sühne, der Vergebung und Vergegenwärtigung wäre sinnvoll gewesen, dann hätte dieser Roman ein wunderbar spannendes und zugleich glaubhaftes Zeugnis abgegeben.

Der Roman ist der vierte aus Kerrs Reihe um den eigensinnigen Gunther, aber man kann sicherlich „Das Janus-Projekt“ lesen, ohne die drei vorherigen Titel zu kennen.

_Der Autor_

Philip Kerr wurde 1956 in Edinburgh geboren. Heute lebt er in London. Mit dem Roman „Das Janus-Projekt“ schließt er die Berlin-Reihe um den Privatdetektiv Bernhard Gunther ab. Aus dieser Reihe sind noch die Romane „Feuer in Berlin“, „Im Sog der dunklen Mächte“ und „Alte Freunde – neue Feinde“ erschienen.

http://www.rowohlt.de

_Philip Kerr auf |Buchwurm.info|:_

[„Game over“ 4245
[„Der Coup“ 2174
[„Der zweite Engel“ 500
[„Newtons Schatten“ 440
[„Esau“ 136

Schreibe einen Kommentar