Kunkel, Benjamin – Unentschlossen

Wenn ein Buch als „neuer Kultroman aus New York“ angepriesen wird, dann weckt das Erwartungen an einen hippen, lässig geschriebenen Roman, der sich in Szeneclubs abspielt und jede Menge Sex und Drogen bietet. Andere „Kultromane“ wie „Less Than Zero“, „Bright Lights, Big City“ oder „Trainspotting“ sparten zumindest nicht mit solchen Dingen.

Ob ein Roman zum Kultbuch wird, muss erst die Zeit beweisen. Ein bemerkenswertes Debüt ist „Unentschlossen“ von Benjamin Kunkel aber auf jeden Fall. Auch wenn sein Name durchaus auf einen deutschen Autoren schließen lässt, handelt es sich bei ihm um einen Amerikaner. Viel erfährt man im Klappentext jedoch nicht über ihn: „Benjamin Kunkel wuchs in Colorado auf. Er schreibt für Dissent, The Nation und The New York Review of Books und ist Mitbegründer des Magazins n+1.“

Die wichtigste Information zum Autor erhält man allerdings erst, wenn man zu schmökern beginnt. Kunkel hatte eine echte „novel idea“. So stattete er seinen Protagonisten und Erzähler in Personalunion mit einer wirklich skurrilen Krankheit aus. Der 28-jährige Dwight Wilmerding leidet an Abulie, auf Deutsch chronische Unentschlossenheit. Die Krankheit gibt es wirklich. Sie bezeichnet eine krankhafte Willenlosigkeit, bei der die betroffenen Personen zwar den Wunsch nach einer Handlung haben, sich für die Durchführung dieser Handlung aber oft nicht entscheiden können. Der überaus sympathische Dwight schafft diesem Problem mit Hilfe einer Münze ab, indem er sie entscheiden lässt, ob er zu etwas Lust hat oder nicht. Auch sonst scheint sich der New Yorker nur irgendwie durchs Leben zu wuseln. Nach dem Besuch einer Elite-High-School entscheidet er sich für ein Philosophiestudium an einer kleinen Universität. Dass dieses zu keiner erfolgreichen Karriere führt, ist klar. Dafür hat es ihm die Werke des Philosophen Otto Knittel (hinter dem sich Heidegger verbirgt) näher gebracht, aus denen der Erzähler des Öfteren Zitiert.

Eine Anstellung hat Dwight schließlich in dem Pharmakonzern Pfizer gefunden, doch dort wird er gekündigt. Die WG, in der er mit seinen drei Slackerfreunden wohnt, steht ebenfalls kurz vor der Auflösung. Höchste Zeit also, um ein paar Entscheidungen zu treffen. Sein Mitbewohner und Medizinstudent Dan weiß auch schon Abhilfe: Abulinix soll die Wunderwaffe gegen chronische Unentschlossenheit sein und Dwight stellt sich bereitwillig als Proband zur Verfügung. In der Zwischenzeit hat er sich mit Hilfe seiner Münze dazu entschlossen, seine alte Schulfreundin Natasha in Ecuador zu besuchen. In einer neuen Umgebung auf die neue Willensstärke warten, das ist sein Plan. Dieser wird aber gleich wieder durcheinander gebracht: In Ecuador angekommen, verschwindet Natasha und Dwight muss mit ihrer Freundin Brigid vorliebnehmen. Anstatt durch den Großstadtdschungel muss sich Dwight nun durch den Urwald kämpfen.

Von der Hochburg des Kapitalismus wechselt das Geschehen also in ein Land, das stark an dessen Folgen zu leiden hat. Der Ton des Buches ändert sich auf subtile Weise, immer überdeckt von der komisch-lockeren Sprache des Protagonisten. Dieser Wechsel wurde vielerorts kritisiert, vielleicht auch, weil die Themenbandbreite mit scheinbar jedem Kapitel weiter anwächst. Aus „Unentschlossen“ hätte gut ein über 500 Seiten langer Schmöker werden können. So wird das Thema 9/11 mal eben im Vorbeigehen gestreift. Dwight und seine Freunde haben den traurigsten aller New Yorker Tage im Ecstasyrausch einfach verschlafen. Doch es tut sich noch mehr auf. Da wäre die komplizierte Beziehung zu den Eltern (sein Vater scheint ihn wie einen Hund zu sehen) und die noch viel verworrenere Beziehung zu seiner Schwester Alice. Von der lässt er sich nicht nur psychoanalytisch untersuchen, es gibt auch inzestuöse Gefühle zwischen beiden. Wirklich ausgebaut wird dieses Thema jedoch nicht von Kunkel. Stattdessen mutiert der Roman, oder besser dessen „Held“, im equadorianischen Urwald mehr und mehr zu einem „demokratischen Sozialisten“. Zwischen Dwight und seiner Begleitung entwickelt sich zudem eine Liebesbeziehung. Beides findet seinen Ausbruch in einem wirklich grandios erzählten psychedelischen Drogentrip mit Adam und Eva Romantik.

Was nimmt man also von diesem postmodernen Bildungs- und Coming-of-Age-Roman mit? Erst eimal eine wirklich unterhaltsame Geschichte, die dank der (zum Teil auch mal derben) Situationskomik mehr als nur einen Lacher kreiert. Zum anderen portraitiert Kunkel einen jung gebliebenen Endzwanziger im Zusammenspiel mit dessen komplexer Umwelt. Dwight wurde sicherlich nicht mit Abulie ausgestattet, um dieser eher unbekannten Krankheit Gehör zu verschaffen. Sie mutiert vielmehr zu einer Metapher, die das Dilemma eines weiten Teils der westlichen Gesellschaft thematisiert. Mit einer unbegrenzten Zahl an Alternativen ausgestattet, fällt es nicht nur dem Protagonisten schwer, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen. Am leider weniger gelungenen Ende der Erzählung muss der Leser feststellen, das es nicht unbedingt die Unentschlossenheit Dwights war, die ihn in eine Krise stürzte, sondern vielmehr die Passivität, mit der er ihr begegnete. Das Warten auf eine Entscheidung, in diesem Fall auf das Wirken eines Medikaments (was im Übrigen ein weiterer Schlag gegen die amerikanische Mentalität, alle psychischen Probleme mit einem Medikament lösen zu wollen, ist), ist das eigentliche Problem. Wenn Dwight glaubt, die Wirkung von Abulinix zu spüren, wird er aktiver – und siehe da: Auf einmal weiß er, was er will.

In der New York Times fragte man „Wer hat Angst vor Holden Caulfield?“, dem Helden aus Salingers „Der Fänger im Roggen“. Dwight Wilmerding sicherlich nicht, auch wenn man auf den etwas kitschigen Epilog gerne verzichtet hätte. Hollywood wird das sicherlich nicht stören.

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