Lehr, Thomas – 42

Die 42 ist eine Zahl, mit der man gerne Gutes verbindet. Man denkt unweigerlich gleich an Douglas Adams, bei dem 42 die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest ist, wenngleich diese sonderbare Antwort natürlich ganz neue Fragen aufwirft. Ironischerweise wohnt auch Agent Mulder aus der Mystery-TV-Serie „Akte X“ in Appartement Nr. 42. Sinnbildlich kann man die 42 also auch für die Suche nach dem Unbekannten, nach den unbeantworteten Fragen der Menschheit sehen. Und nun hat der deutsche Autor Thomas Lehr sein eigenes Stück zum Mythos der 42 beigetragen – einen Roman mit eben diesem Titel, in dem es ebenfalls um ein unerklärliches Phänomen geht.

Das Szenario, das Lehr in „42“ entwickelt, ist faszinierend: An einem wunderschönen Sommertag besichtigt eine Gruppe von Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern das Schweizer Forschungszentrum CERN, vor den Toren von Genf. Doch es ist kein gewöhnlicher Sommertag. Als die Besuchergruppe um genau 12:47:42 Uhr aus dem Fahrstuhl des DELPHI-Schachtes tritt, ereignet sich ein erschreckend verstörender Störfall: Die Zeit bleibt stehen.

Die Welt rund um die Besuchergruppe wird zur Ewigkeit, alles wirkt wie eingefroren. Nur unsere Besuchergruppe bleibt von den Auswirkungen verschont und kann sich weiter bewegen. Auf die Verwirrung erfolgt schon bald die Ernüchterung. Der Stillstand der Welt ist kein vorrübergehender. Auch am nächsten Tag, in der nächsten Woche, im nächsten Monat hält dieser Zustand an. Fünf Jahre verbringt die Gruppe der „Chronofizierten“ in der Mittagshitze des ewigen 14. August 2000, bevor die Welt sich für magische drei Sekunden weiterdreht, um dann wieder wie erstarrt anzuhalten.

Die Jahre vergehen, die Wissenschaftler des CERN suchen nach einem Grund für den temporalen Kollaps, versuchen zu verstehen und rückgängig zu machen, was die Welt ins Stocken brachte. Derweil richten sich die übrigen Mitglieder der Gruppe ein, lernen mit Stille und Einsamkeit umzugehen. Menschen sterben, Kinder werden geboren. Die „Chronofizierten“ lernen mit der Macht und Ohnmacht der Situation umzugehen. Doch dann sorgt eine Reihe von Mordanschlägen für Unruhe und Seuchen kommen auf …

Der Stillstand der Zeit, das Gefangensein in einer eingefrorenen Wirklichkeit und die Suche nach einem Ausweg, das ist eine für sich genommen faszinierende Vorstellung. Man stelle sich vor, die Zeit würde wirklich, zumindest für einen Moment, still stehen. Alles wäre in der Bewegung eingefroren, alle Menschen in einer Art Wachkoma gefangen, nur man selbst könnte sich durch die Welt bewegen und sie anfassen – als würde man durch eine Fotografie wandeln.

Dass bei Thomas Lehr dieser Zustand obendrein über mehrere Jahre anhält, wirft neben der wissenschaftlichen Begreifbarkeit einige weitere interessante Fragen auf, die sich vor allem auch auf sozialer Ebene stellen. Wie gehen die Bewegungsfähigen mit ihrem Schicksal in einer bewegungsunfähigen Welt um? Wie arrangieren sie sich mit ihrer komatös erstarrten Umwelt? Wie entwickeln sie sich als Gruppe? Und wie fühlt man sich, wenn nach fünf Jahren der lange herbeigesehnte Ruck einsetzt, der die Welt wieder in Gang setzt, nur um drei Sekunden später wieder alles anzuhalten? Es sind die wissenschaftlichen und sozialen Fragen, die das Ereignis aufwirft, die „42“ so faszinierend machen. Zumindest, solange man sich nur mit dem grundlegenden Ereignis und dem Klappentext befasst.

Lehr erzählt die Geschichte aus der Sicht des Journalisten Adrian, der einerseits die Versuche der Wissenschaftler beobachtet, die Zeitpanne rückgängig zu machen, und andererseits auch seine eigenen Wege durch die im Dornröschenschlaf liegende Welt geht. Ganz wissenschaftlich erzählt er den Werdegang der Gruppe und den Verlauf der Ereignisse anhand von fünf Phasen, die die Gruppe durchlebt:
|“1. Schock
2. Orientierung
3. Missbrauch
4. Depression
5. Fanatismus“| (S. 18)
Diese Phasen bestimmen ganz wesentlich die Entwicklung der Gruppe auf sozialer Ebene und zeichnen den Handlungsverlauf vor.

Ein großer Teil der Faszination des Ereignisses verliert sich aber leider schon nach wenigen Seiten. Die aufgeworfenen Fragen beschäftigen uns als Leser weiterhin, doch die Art, wie Lehr den Leser mit seinen Figuren, dem temporalen Kollaps und der daraus resultierenden Handlung konfrontiert, dürfte so manchen Interessierten ziemlich vor den Kopf stoßen. Lehr macht es dem Leser alles andere als leicht, in die Handlung einzusteigen und seinen Schilderungen zu folgen.

Ich persönlich war schon gleichermaßen erstaunt und verwirrt, als ich den Anfang des Buches, für den Lehr bereits 2002 mit dem Georg-K.-Glaser-Preis ausgezeichnet wurde, hinter mich gebracht hatte. So richtig begreifen konnte ich nicht, was Lehr dort schildert. Vieles ergibt erst wesentlich später Sinn, denn im Grunde wirft Lehr dem Leser die Puzzleteile zum Verständnis nur bröckchenweise hin. Der Klappentext lobt „42“ gerade auch wegen der |“funkelnden und souveränen Sprache“|. Aus meiner persönlichen Sicht wirkt das schon fast ironisch, denn für mich ist gerade die Sprache die größte Barriere zwischen Leser und Autor – eine Barriere, an der so mancher Leser scheitern dürfte.

Die ganze Geschichte wirkt wie durch eine halbtransparente Gardine betrachtet. Der Leser steht draußen vor dem Fenster und versucht einen Blick auf die drinnen sich im Licht bewegenden Figuren zu erhaschen. Schattenhafte Schemen lassen sich erkennen, Bewegungen und Aktivitäten erahnen, aber so sehr man sich die Nase auch an der Fensterscheibe platt drücken mag, die Gardine schluckt sämtliche Blicke und die Handlungen bleiben diffus. Diese halbtransparente Gardine ist Lehrs |“funkelnde und souveräne Sprache“|.

Er wirft mit Fremdwörtern um sich, konstruiert verschachtelte Sätze, die in der Literaturgeschichte ihresgleichen suchen und sich auch schon mal über Zweidrittel der Seite erstrecken, um an anderer Stelle dann mit unvollständigen Dreiwortsätzen daherzukommen. Obendrein verwirrt er den Leser mit seiner abstrakten Symbolik. Manche Passagen muss man zwei- oder dreimal lesen, nur um sie dann immer noch nicht so ganz verstanden zu haben.

Es wirkt so, als wäre es Lehr gar nicht so wichtig, ob der Leser ihn versteht oder nicht. Er scheint in irgendeiner abgehobenen Sphäre sprachlicher Selbstverliebtheit seinem Ego zu frönen. Und so kann man es eigentlich keinem Leser verübeln, wenn er das Buch nach wenigen Kapiteln bereits entnervt aus der Hand legt. Lehr verlangt dem Leser enorm viel ab, sowohl mit seinen sprachlichen Mitteln und dem verwirrenden, ironischerweise in der Zeit sprunghaften Erzählstil, als auch mit den vielen unverständlichen Begriffen, für die er nicht einmal ein Glossar anhängt. Während der Lektüre hin und wieder den Fremdwörterduden zu konsultieren, ist also durchaus ratsam.

Was den potenziellen Leser sprachlich erwartet, sei an einem Beispiel verdeutlicht: |“Dass ich für Karins Aufenthalt die gesamte deutsche Ostseeküste in Erwägung ziehen musste, gab ich den anderen preis, nicht aber – und wie auch? -, dass ich ein zerrissener Mann war, verschlagen auf die calvinistische Insel der Zeitschiffbrüchigen mitsamt einem befreundeten Arbeitskollegen und dessen Frau, die ich wenige Wochen zuvor in einem Fotolabor aus beruflichen Gründen aufgesucht und unversehens geküsst hatte in einem diffus glättenden, plötzlich mitleidlosen und pornografischen Rotlicht, das uns die Geschlechtsorgane freilegen ließ und hastig bearbeiten, für beide Seiten wohl erschreckend professionell, wie routinierte Lustnotfallhelfer, die vor nichts zurückschrecken dürfen (das aus der Hülle gleitende stumpfe Skalpell, der Tränengeschmack deiner klaffenden violetten Wunde, später, auf meinen Fingerkuppen) und keine Zeit zu verlieren zu haben, zu Recht, denn wir hatten nur wenige Minuten, bevor Annas Handy uns zur Vernunft brachte oder zur Feigheit bis auf den heutigen Tag, an dem uns kein elektrisches Klingeln mehr aufschrecken kann und nichts an Zeit mehr zu versickern oder wegzudriften scheint, wenigstens in dem enormen räumlichen Außerhalb jenseits unserer Körper.“| (S. 102/103) Das war in der Tat nur ein einziger Satz …

Lehrs sprachliche Mittel erschaffen in jedem Fall eine Distanz zum Leser. Man tut sich nicht nur schwer, die Handlung nachzuvollziehen, auch die Figuren rund um die Hauptfigur Adrian bleiben einem seltsam fremd, fast schon gleichgültig. Man fiebert nicht mit, staunt höchstens über die Welt, durch die die Protagonisten wandeln. In manchen Momenten kommt man nicht umhin, Lehrs Umschreibungen der eingefrorenen Welt als treffend zu bezeichnen. In Momenten, in denen man ihm folgen kann, geht von seinen Worten in der Tat eine gewisse Sprachgewalt aus. Doch das sind eher seltene Glanzpunkte in einem ansonsten oft fast hoffnungslos verworrenen Erzählstil.

Auch der Spannungsbogen hat darunter zu leiden. Ist es erst noch die Betrachtung der Menschen, die teils auf wirklich groteske Weise erstarrt sind, die den Leser fasziniert, so verliert sich dieser Effekt mit der Zeit und die Handlung dahinter tut sich etwas schwer damit, in Fahrt zu kommen. So wenig, wie der Leser anfangs in die Handlung eintauchen kann, so wenig wird er auch durch einen spannenden Handlungsverlauf bei der Stange gehalten.

Das ist alles sehr bedauerlich, in Anbetracht eines preisgekrönten Autors, eines prämierten ersten Kapitels und eines immerhin für den Deutschen Buchpreis 2005 nominierten Romans. „42“ ist in jedem Fall ein Paradebeispiel dafür, wie Lesereindruck und hochrangige Literaturkritik in ihrer Einschätzung divergieren können.

„42“ dürfte die Meinungen sehr stark spalten, denn entweder man bewegt sich als Leser in der gleichen Sphäre wie der Autor und kann ihm folgen, oder man findet erst gar keinen Zugang zu seinem Werk. Hier scheint es nur diese beiden Extreme zu geben (wie beispielsweise auch ein Blick auf die Kundenrezensionen bei Amazon.de offenbart) und in meinem Fall ist bedauerlicherweise das Letztgenannte zutreffend. Schade, denn das gesamte Szenario ist für sich genommen außerordentlichen vielversprechend.

[Verlagsseite zum Buch]http://www.aufbauverlag.de/index.php4?page=28&show=5326

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