Loomis, Chauncey – Verloren im ewigen Eis. Der rätselhafte Tod des Arktisforschers Charles Francis Hall

Im Jahre 1845 laufen in England zwei Schiffe zu einer historischen Expedition aus: Sir John Franklin, Held zahlreicher Entdeckungsreisen, hat es sich in den Kopf gesetzt, endlich die sagenhafte Nordwestpassage zu finden, die angeblich quer über den nordamerikanischen Kontinent läuft und in den Pazifik mündet. Dieser natürliche Kanal würde die Reise zu den lukrativen Geschäftsgründen Asiens um einiges verkürzen. Neben handfeste wirtschaftliche Gründe treten darüber hinaus patriotische Erwägungen: Die Briten beherrschen die Weltmeere, ihr Empire breitet sich über den Globus aus, und deshalb stellen sie auch die tüchtigsten und fähigsten Forschungsreisenden – Punkt! Ein Vierteljahrhundert wurde bereits nach der Nordwestpassage gefahndet, und Franklin wird sie nun gefälligst finden!

Leider lehnt es die Realität ab, sich dieser Argumentation zu unterwerfen. Mit der |Erebus| und der |Terror| verschwinden über einhundert Menschen im Dunkel der nordpolaren Gewässer. Nächstenliebe ist eigentlich keine Eigenschaft, die das 19. Jahrhundert auszeichnet, doch John Franklin ist kein „normaler“ Mensch, sondern ein Idol seiner Epoche, und so wird sein ungewisses Schicksal als nationale Tragödie betrachtet. Zwischen 1848 und 1853 machen sich mehr als dreißig Suchmannschaften auf den beschwerlichen Weg in die endlosen Weiten der nordamerikanischen Polarwüste. Viele fallen selbst der grausamen Natur zum Opfer – und meist tragen sie allein die Schuld an ihrem Ende, denn die Entdeckungsreisenden aus Europa und den noch jungen USA erforschen ferne Länder nicht: Sie erobern sie, und je größer die Qualen sind, die sie dabei erleiden, desto süßer schmeckt der Sieg!

Daher haben sich Franklin und jene, die nach ihm kamen, niemals wirklich Gedanken darüber gemacht, dass es dort, wo sie frieren und hungern, schon seit ewigen Zeiten Menschen gibt: Die Inuit oder Eskimo haben sich an das Klima und die Lebensbedingungen angepasst und führen ein hartes, aber zufriedenes Leben. Aber sie sind Wilde und Heiden, und der wahre Gentleman stirbt eher in luftiger Tuchkleidung und mit einem Zylinder auf dem Kopf (das ist die Uniform für britische Offiziere zur See – und sie wird in der Nordsee wie in der Karibik oder auf dem Polarmeer getragen …), als dass er sich auf ihr Niveau begäbe!

Genau an dieser Mischung aus Unwissenheit, Hochmut und Dummheit ist die Franklin-Expedition längst zugrunde gegangen. Das ahnt man allmählich in Großbritannien und in den USA, wo die Suche aufmerksam verfolgt wurde, aber man weiß nichts Genaues. Unter denen, die diese Ungewissheit nicht nur zu schaffen macht, sondern zu Taten drängt, ist in der Stadt Cincinnati im US-Staat Ohio, einem Ort, der dem Nordpolarkreis denkbar fern liegt, der erfolgreiche Geschäftsmann und Verleger Charles Francis Hall. Niemand würde in ihm einen Nachfahren Columbus‘ oder Magellans vermuten, doch tatsächlich brodelt in Hall schon lange das Fernweh. Zwischen 1860 und 1871 unternimmt er zwei Expeditionen, die ihn jeweils über mehrere Jahre in den äußersten Nordosten des nordamerikanischen Kontinents führen. Aus dem enthusiastischen, aber unerfahrenen Abenteurer wird ein erfahrener Reisender, der nicht nur über-, sondern sich einlebt, weil er begreift, dass man in Norden nicht gegen, sondern mit der Natur leben muss. Hall lernt bereitwillig von den Inuit, er unternimmt ausgedehnte Fahrten über das Eis, findet die Relikte früherer Polarforscher – aber niemals eine Spur von der Franklin-Expedition.

Doch Charles Hall wird trotz aller scheinbaren Weltoffenheit niemals ein echter Bewohner des Nordens. Er kann und will nicht von seiner strengen Frömmigkeit ablassen. Mit den Inuit lebt er weniger zusammen, als dass er sich zu ihnen herablässt. Sein ungestümes Temperament bringt ihn immer wieder in gefährliche Situationen – kurz: Hall verlässt sich ahnungslos ein wenig zu sehr auf die Gunst des Schicksals. Er sieht sich als Bezwinger des ewigen Eises, und als solcher fasst er ein neues, schier wahnwitziges Ziel ins Auge: Er will als erster Mensch den Nordpol erreichen!

Mit der ihm eigenen Energie gelingt es ihm, ein Schiff zu finden und eine Besatzung zusammenzustellen, doch dieses Mal verlässt ihn sein Glück: Auf der [„Polaris“ 311 beginnt 1871 eine Reise ins Herz der Finsternis, die in Streit, Wahnsinn, Schiffbruch und womöglich Mord endet und die Überlebenden für den Rest ihres Lebens zeichnen wird …

„Verloren im ewigen Eis“ ist ein Sachbuch im besten Sinne des Wortes: Wissen wird dem Leser in leicht verständlicher Form präsentiert, ohne dass die Fakten „vereinfacht“ würden. Chauncey Loomis ist auf seine Weise selbst ein Besessener vom Schlage Halls, dessen Schicksal ihn seit Jahrzehnten bewegt. „Verloren …“ ist sichtlich das Resultat langwieriger und penibler Recherchen; kein Schnellschuss auf der Jagd nach dem Buchmessen-Bestseller der Saison. Chauncey hat viel Zeit in diversen Archiven verbracht; als Dozent für englische und amerikanische Literatur wusste er, wie und was er dort zu suchen hatte. Aber er klebte nicht an seinem Schreibtisch, sondern hat im Laufe der Jahre viele der Orte, die Hall einst bereiste, selbst besucht – und er ist dem Subjekt seiner Recherchen dabei buchstäblich bis ins Grab gefolgt.

So ist „Verloren …“ ein Kleinod auf dem Gebiet der historischen Reiseliteratur. Halls Erlebnisse werden immer wieder in die Geschichte des 19. Jahrhunderts eingebettet; vor diesem Hintergrund wird vieles klar, was heute fremd erscheint, denn die Welt vor 150 Jahren folgte eigenen, längst vergangenen Regeln. Mit spielerischer Leichtigkeit (die definitiv das Ergebnis harter Arbeit ist) verbindet Chauncey Fakten, Erläuterungen und Anekdoten zu einem echten „Pageturner“. Er hatte dabei Glück: Hall war ein eifriger Tagebuchschreiber. Aber auch hier zeigt sich Chaunceys souverän der Informationsflut gewachsen. Er zitiert nicht einfach, sondern wählt aus, prüft nach und interpretiert dort, wo es ratsam erscheint. Außerdem verschweigt er endlich einmal nicht jene Passagen, die kein so gutes Licht auf ihren Schreiber werfen. Es ist eigentlich eine bekannte Tatsache, dass berühmte Entdecker auf Reisen oft wenig von der menschlichen Größe an den Tag legten, die sie sich selbst in ihren Büchern bescheinigten, oder die ihnen ihre bewundernden Zeitgenossen und Nachfahren unterstellten. Dabei nahmen sie vor Ort durchaus kein Blatt vor den Mund und verewigten ihre (Un-)Taten womöglich selbst in später sorgfältig zensierten Aufzeichnungen. Hall war hier keine Ausnahme. Kluger Kopf, der, aber ungebildet, wie er war, hielt er sogar geradezu exemplarisch fest, wie die Forscher seiner Zeit über die unglücklichen Einheimischen kamen, ihnen Krankheiten, Alkohol oder die zweifelhaften Segnungen der christlichen Religion brachten, sie ohne Skrupel als lebendige Ausstellungsobjekte in die Fremde verschleppten oder wie selbstverständlich voraussetzten, von ihnen, die kaum echten Grund hatten, sich dem Forscherdrang zu ergeben, in gefährliche Region geführt oder gar noch bedient zu werden.

„Verloren …“ ist die erweiterte, aktualisierte Neuausgabe eines Buches, das zum ersten Mal Ende der 60er Jahre erschien. Chauncey tat gut daran, die Forschungsergebnisse der seither verstrichenen Jahrzehnte zu berücksichtigen, denn in der verstrichenen Zeit konnten doch einige damals notgedrungen offene Fragen geklärt werden. Aber in einem Punkt ist Chauncey hart geblieben: In der Frage, ob Charles Hall nun ermordet wurde oder einem Unfall zum Opfer fiel, legt er sich (zum Kummer seines Lektors) auch jetzt nicht fest. Die Indizien reichen eben für eine endgültige Entscheidung nicht aus, und Chauncey ist redlich genug, historische Genauigkeit vor marktschreierische Werbewirksamkeit zu setzen.

Mut beweist der Verlag mit der Wahl des Titelbildes. Wir sehen dort den kühnen Forscher Hall im Porträt gewürdigt; allerdings nicht als zeitgenössisches Foto oder Kupferstich, sondern so, wie er 1968 vorgefunden wurde, als ihn seine von Wissbegier durchdrungenen Nachfahren aus seinem eisigen Grab hoben – als verweste Leiche, deren Anblick selbst den (medien-)horrorerfahrenen Kindern des 21. Jahrhunderts schlaflose Nächte bereiten könnte.

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