H. P. Lovecraft – Azathoth. Vermischte Schriften

Wenn er die Geschichten anderer Autoren überarbeitete, prägte H. P. Lovecraft ihnen seinen Stempel auf und erweiterte seinen fremden, erschreckenden, faszinierenden Privat-Kosmos. Außerdem in dieser Sammlung enthalten: frühe Lovecraft-Storys, (postum vollendete) Fragmente und theoretische Schriften, die interessante Einblicke in sein Denken und seine Arbeit ermöglichen: Muss-Lektüre für Phantastik-Freunde.

Inhalt:

Überarbeitungen und posthume Gemeinschaftarbeiten:

– Hazel Heald/H. P. Lovecraft: Der Mann aus Stein (The Man of Stone, 1932), S. 9-26: Was der gottlose Schurke seiner Gattin antat, fällt schauerlich auf ihn selbst zurück.

– Sonia Greene/H. P. Lovecraft: Das unsichtbare Ungeheuer (The Invisible Monster, 1923), S. 27-34: Sie zogen es aus der Tiefe des Meeres, aber für diesen Fischzug müssen sie grausam büßen.

– Sonia Greene/H. P. Lovecraft: Vier Uhr (Four O’Clock, 1949), S. 35-40: Um die genannte Uhrzeit werde er kommen, um sich zu rächen, hat der Hexer angekündigt, und so geschieht es auch.

– C. M. Eddy jr./H. P. Lovecraft: Die geliebten Toten (The Loved Dead, 1924), S. 41-52: Vom Leichenschänder zum Serienmörder – die Geschichte einer bizarren Obsession.

– C. M. Eddy jr./H. P. Lovecraft: Taub, stumm und blind (Deaf, Dumb and Blind, 1925), S. 53-66: Der hilflose Krüppel wird zur Kontaktperson für eine abgrundtief böse Macht aus dem Jenseits.

– Robert H. Barlow/H. P. Lovecraft: „Bis zur Neige“ („Till All the Seas“, 1935), S. 67-76: Eine Momentaufnahme und ein Rückblick auf die letzten Jahre der Menschheit.

– Hazel Heald/H. P. Lovecraft: Das Grauen auf dem Gottesacker (The Horror in the Burying-Ground, 1937), S. 77-92: Geschickt bringt die junge Frau den bösen Bruder unter die Erde, doch da will er partout nicht bleiben.

– William Lumley/H. P. Lovecraft: Das Tagebuch des Alonzo Typer (The Diary of Alonzo Typer, 1938), S. 93-117: Die Hexer-Brut der van der Heyls ist verschwunden, aber was sie aus der Hölle herbeiriefen, wartet in der Ruine ihres Hauses auf neugierige, unvorsichtige Besucher.

– Adolphe de Castro/H. P. Lovecraft: Die elektrische Hinrichtungsmaschine (The Electric Executioner, 1930), S. 118-140: in der Gewalt eines wahnsinnigen Hobby-Henkers kämpft ein Opfer um das nackte Leben.

– H. P. Lovecraft/August Derleth: Wentworths Tag (Wentworth’s Day, 1957), S. 141-152: Dass er seit fünf Jahren tot ist, hält Mr. Wentworth keineswegs ab, eine Geldschuld einzutreiben.

– H. P. Lovecraft/August Derleth: Der Fischer von Falcon Point (The Fisherman of Falcon Point, 1959), S. 153-157: Wen (oder was) er am Teufelsriff traf, setzte eine bizarre Mutation in Gang.

– H. P. Lovecraft/August Derleth: Das Hexenloch (Witches’ Hollow, 1962), S. 158-173: Ein mutiger Lehrer stellt sich gegen eine böse Macht, die eine unglückliche Familie unterjocht.

– H. P. Lovecraft/August Derleth: Innsmouth-Ton (Innsmouth Clay, 1971), S. 174-186: Die Rückkehr in die Stadt seiner Vorfahren lässt einen jungen Mann an deren gotteslästerlichen Praktiken anschließen.

Fragmente:

– Azathoth (Azathoth, 1922)
– Der Spross (The Descendant, 1926)
– Das Buch (The Book, 1933)
– Das Ding im Mondlicht (The Thing in the Moonlight, 1927)
– Das uralte Volk (The Very Old Folk, 1927)

Frühe Geschichten:

– Die Dichtkunst und die Götter (Poetry and the Gods, 1920)

– Die Straße (The Street, 1920): Orte können eine Seele besitzen, hier wehrt sich eine alte Straße, als ihre Anwohner sie missbrauchen.

– Das Verschwinden des Juan Romero (The Transition of Juan Romero, 1919): Eine versehentlich freigelegte Höhle erweist sich als Eingang zur Hölle.

Prosagedichte:

– Erinnerung (Memory, 1919)
– Ex Oblivione (Ex Oblivione, 1920/21)
– Was der Mond bringt (What the Moon Brings, 1922)

Essays:

– Autobiographie. Einige Anmerkungen zu einer Null (Some Notes on a Nonentity, 1933)
– Anmerkungen zum Schreiben unheimlicher Erzählungen (Notes on Weird Fiction, 1932/33)
– Einige Anmerkungen zu interplanetarischen Erzählungen (Some Notes on Interplanetary Fiction, 1934/35)
– Anmerkungs- und Notizbuch
– Notizbuch
– Geschichte und Chronologie des Necronomicons (History and Chronology of the Necromomicon, 1927)
– Lord Dunsany und sein Werk (Lord Dunsany and His Work, 1922)

I. Die Geschichten

Genius in monetär bedingter Verdünnung

H. P. Lovecraft (1890-1937) gehört zu jenen Pechvögeln, denen der verdiente Ruhm erst nach dem Tod zu Teil wurde. Heute ist er als Pionier einer Phantastik anerkannt, die meisterlich klassischen Grusel mit moderner Wissenschaft mischt. Vor allem das Spätwerk weist deutliche Elemente der Science Fiction auf.

Mainstreamtauglich waren Lovecrafts kraftvolle Beschwörungen des menschlich nur marginal Fassbaren allerdings nie. Für anspruchsvolle Phantastik gab es zu seinen Lebzeiten keinen Markt. Lovecraft versuchte sich als Autor für die in den 1920er und 30er Jahren wie Pilze aus dem Boden schießenden Magazine, die freilich nicht ohne Grund „Pulps“ genannt wurden. Schlecht bezahlte Verfasser lieferten simpel gestrickte Storys, spannungsgeladene Masse ging vor Klasse. Ein selbstkritischer Stilist wie Lovecraft musste in dieser Umgebung untergehen. Statt sich anzupassen, zog er sich zurück. Ein „Gentleman“ – so sah sich Lovecraft gern – arbeitete ohnehin nur um des Vergnügens willen. Obwohl am Rande des Existenzminimums lebend, war er deshalb jederzeit freigiebig mit Ratschlägen. Vielen später bedeutenden Schriftstellern leistete Lovecraft gewissermaßen Starthilfe.

Außerdem verdiente er sich ein wenig Geld mit der Überarbeitung fremder Manuskripte. Viele definitiv weniger talentierte Autoren heuerten ihn an, weil er gut und billig arbeitete. Kontakte ließen sich schnell knüpfen, denn Lovecraft war in der Amateur-Pressewelt Neuenglands sehr präsent. Hazel Head (1895-1961), Adolphe Danzinger De Castro (1859-1959), William Lumley und August William Derleth (1909-1971) korrespondierten mit ihm, Clifford Martin Eddy, Jr. (1896-1967) und Robert Hayward Barlow (1918-1951) gehörten zu seinem persönlichen Freundeskreis, mit Sonia Greene (1883-1972) war er zwischen 1924 und 1926 verheiratet.

Stroh wird zu Gold gesponnen

Lovecraft machte sich keine Illusionen über seinen Status als Ausputzer. Dass beispielsweise Adolphe De Castro ihn einsetzte, um die ursprünglich bereits 1891 veröffentlichte Story „The Automatic Executioner“ so zu überarbeiten, dass sie 1930 noch einmal an das Magazin „Weird Tales“ verkauft werden konnte, kommentierte er in seinen Briefen sarkastisch. Aber Lovecrafts literarische Redlichkeit ließ ihm keine Wahl. Auch in solche Auftragsarbeiten investierte er mehr Arbeit, als sie oft verdienten. Dies galt erst recht, wenn er Potenzial in ihnen erkannte bzw. die Möglichkeit sah, sie als Bausteine für sein fremdes, vieldimensionales, von überirdisch mächtigen und bösartigen Entitäten bevölkertes und kontrolliertes Universum zu verwenden. So fallen selbst in De Castros Geschichte einige Namen auf, die eindeutig Lovecrafts „Cthulhu“-Kosmos angehören. Sie passen hier nicht hinein, während Storys wie „Das Grauen auf dem Gottesacker“ oder „Das Tagebuch das Alonzo Typer“ deutlich erfolgreicher ‚lovecraftisiert‘ werden konnten.

Lovecraft war nie daran interessiert, dem „Cthulhu“-Mythos fest umrissene Grenzen zu geben. Auf diese Weise unterstrich er das Fremde der Realität. Seine Epigonen sahen dies anders. Vor allem August Derleth, der Lovecrafts Werk nach dessen Tod bewahrte und ihm Beachtung verschaffte, imitierte sein Vorbild nicht nur, sondern ‚ordnete‘ dessen vorsätzlich chaotische Welt, was Lovecraft sorgfältig vermieden hatte. Derleths ‚postume‘ Zusammenarbeiten mit Lovecraft fallen ausschließlich in seine eigene Verantwortung und im Vergleich zu den Vorbildern ab. Vor allem zu Beginn erinnern sie zwar an das Original, verflachen dann aber und gipfeln in vordergründigen Horror-Szenen, die ansonsten gelungene Storys wie „Wentworths Tag“ oder „Das Hexenloch“ zur nachträglichen Enttäuschung geraten lassen.

II. Die Schriften

Einsamer Kampf um die Phantastik

Bevor auch in Deutschland endlich L. Sprague de Camps monumentale Lovecraft-Biografie erschien (2002) und das Internet seinen Siegeszug antrat, waren Hintergrundinformationen über H. P. Lovecraft spärlich. Sie vermittelten das Bild eines menschenfeindlichen Sonderlings, dem man lieber nicht in der Abenddämmerung begegnet sein mochte.

Dass sich hinter der persönlichen Exzentrik nicht nur ein umgänglicher Mensch, sondern auch ein ernsthaft um die Phantastik bemühter Schriftsteller verbarg, war 1989 noch kein Allgemeinwissen. Deshalb gewannen Lovecrafts in der deutschen „Azathoth“-Ausgabe gesammelten „vermischten Schriften“ große Bedeutung, und dies gilt immer noch, denn sie wurden klug aus einem gewaltigen Opus gewählt und geben ebenso knapp wie präzise Einblick in Lovecrafts Denken und Schreiben.

Viele Vorwürfe, die Lovecraft seitens einer keineswegs immer objektiven Literaturkritik gemacht wurden, lösen sich in Rauch auf, wenn man ihn selbst argumentieren ‚hört‘. Lovecraft war ein Autor mit einer Vision, der er strikt folgte, obwohl er sehr genau einschätzen konnte, dass er sich mit den selbst gesetzten Ansprüchen mit voller Kraft in eine windstille Seitennische des Marktes manövrierte. „Einige Anmerkungen zu interplanetarischen Erzählungen“ zeigen ihn als strengen Kritiker, der mit der Science Fiction, wie sie in den zeitgenössischen „Pulp“-Magazinen dominierte, wenig am Hut hatte.

Andere Welten sind stets fremdartige Welten

Lovecraft sah in der Phantastik die Möglichkeit, den Leser in Welten zu entführen, die in ihrer Exotik sowohl fesselten als auch Furcht erregten. Der überzeugenden Darstellung des absolut Fremden galt sein Streben, wobei ihm die Atmosphäre wichtiger war als eine Handlung, die womöglich nur irdisches Geschehen auf andere Planeten übertrug. Dieses Credo betonte er in seinen theoretischen Schriften immer wieder.

Einige ebenfalls abgedruckte Prosagedichte und frühe Storys belegen entsprechende Bemühungen bereits in den Jahren um 1920. Noch hatte Lovecraft seine berühmten Geschichten und Kurzromane nicht geschrieben, aber man erkennt bereits, worum es ihm geht. In diesen Jahren lernte Lovecraft durch das Schreiben, wobei er in seiner selbst gewählten Abgeschiedenheit diverse Eigenheiten kultivierte, die seinen Kritikern Angriffsflächen boten. Diese hässlichen Seiten Lovecrafts werden in „Azathoth“ nicht verschwiegen. Vor allem „Die Straße“ belegt rassistische Vorurteile, die Lovecraft freilich relativierte bzw. überwand. Dass ihn seine in sich selbst ruhenden, kaum lesbaren Beschwörungen einer verklärten antiken Vergangenheit – ein schlimmes Beispiel ist „Die Dichtkunst und die Götter“ – in eine literarische Sackgasse führten, bedauerte Lovecraft später selbst heftig. Ebenfalls lange dauerte es, bis er den Einfluss allzu intensiv bewunderter Vorbilder abschüttelte, der sich hier im Essay „Lord Dunsany und sein Werk“ manifestiert.

Wie einige nie weiter entwickelte Fragment-Texte zeigen, ließ Lovecraft sich von Träumen und Stimmungen inspirieren, folgte aber als Schriftsteller durchaus einem Plan. In „Anmerkungen zum Schreiben unheimlicher Erzählungen“ beschreibt Lovecraft sein Vorgehen, hinzu kommen interessante Blicke in sein Notizbuch. Von den dort festgehaltenen Einfällen und Bildern flossen viele in sein Prosawerk ein. Schon die frühen Geschichten und selbst die Fragmente beeindrucken zumindest durch intensive Stimmungsbilder.

„Azathoth“ als würdiges Schlusswort

H. P. Lovecraft war kein Kuriosum der (phantastischen) Literaturgeschichte. Er hat sie mitgestaltet und kommentiert. Die „vermischten Schriften“ lassen daran keinen Zweifel, und die Kraft seiner Visionen adelt selbst die nur überarbeiteten Gemeinschaftswerke. Sie wurden 1970 vom späten August Derleth erstmals in der schon legendären Sammlung „The Horror in the Museum and Other Revisions“ zusammengetragen. Diese Anthologie wurde seither mehrfach überarbeitet und ergänzt.

In Deutschland erschien sie 1984 als „Das Grauen im Museum“. Von den ursprünglich 21 (später 26) Geschichten enthielt sie nur 9: Mehr als 300 Seiten Umfang gedachte der Verlag nicht in eine Sammlung schnöder Gruselgeschichten zu investieren. Umso erfreulicher ist, dass fünf Jahre später neun weitere Storys aus genannter Sammlung in „Azathoth“ aufgenommen wurden und „The Horror in the Museum“ somit fast vollständig (sowie in hochwertiger Übersetzung) auch hierzulande greifbar ist.

Autor

Howard Phillips Lovecraft wurde am 20. August 1890 in der neuenglischen Stadt Providence, Rhode Island, geboren. Der Vater, ein Handelsvertreter, starb bereits 1898 im Wahnsinn. Die ebenfalls labile Mutter und zwei Tanten zogen Howard auf, der sich als Wunderkind erwies, mit drei Jahren zu lesen und mit sechs zu schreiben begann. Die arabische Vorgeschichte, dann das griechische Altertum begeisterten ihn. Er entwickelte sich zum belesenen aber nicht wirklich gebildeten Bücherwurm.

1917 begann Lovecraft ‚ernsthaft‘ phantastische Kurzgeschichten zu schreiben, nachdem er zuvor Poesie und Essays den Vorzug gegeben hatte. 1924 heiratete er und zog mit seiner Gattin nach New York. Dort kam er in Kontakt mit den „Pulp“-Magazinen, deren Herausgeber zwar schlecht zahlen aber stets neues Material suchten.

In der großen Stadt konnte sich Lovecraft nicht einleben. Die Ehe scheiterte. Schon 1926 kehrte Lovecraft nach Providence zurück. In den zehn Lebensjahren, die ihm blieben, führte er das zurückgezogene und sehr bescheidene Leben eines mäßig erfolgreichen Unterhaltungsschriftstellers. Als solcher machte er beachtliche Fortschritte und schuf die Cthulhu-Saga.

Lovecraft verfügte nie über die Energie oder das Selbstbewusstsein, aktiv an seiner Karriere zu arbeiten. Seine Werke erschienen unter Wert in billigen Magazinen, wo sie die Leser oft genug irritierten, wenn sie nicht sowieso von den Herausgebern abgelehnt wurden. Lovecraft versuchte nie, diese Geschichten anderweitig unterzubringen. Zu seinen Lebzeiten erschien überhaupt nur ein Buch in einem obskuren Kleinverlag. Am 15 März 1937 erlag H. P. Lovecraft einem Krebsleiden.

Dass er nicht in Vergessenheit geriet, verdankt er den Bemühungen zweier junger Verehrer. August Derleth und Donald Wandrei gründeten 1939 den Verlag „Arkham House“, um Lovecrafts Werk zu veröffentlichen. Nach schwierigen Anfängen traten Cthulhu & Co. einen bemerkenswerten Siegeszug an. In der phantastischen Literatur nimmt H. P. Lovecraft längst den ihm gebührenden Platz als kauziger, allzu sehr in Adjektive verliebter, aber origineller Mann mit großen Visionen ein, der den klassischen Horror um die Komponente Science Fiction erweiterte, ohne dem Gernsbackschen Traum von der perfekt technisierten Zukunft hinterher zu laufen. Stattdessen schuf Lovecraft etwas Eigenständiges: ein alternatives Universum mit eigenen Naturgesetzen, so konsistent in seiner Darstellung, dass es uns, die wir um seine fiktive Natur wissen, erstaunlich real erscheint.

Mit H. P. Lovecraft und seinem Werk beschäftigen sich unzählige Websites. Eine der schönsten ihrer Art ist diese.

Taschenbuch: 312 Seiten
Originalausgabe
Übersetzung: Franz Rottensteiner
http://www.suhrkamp.de

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