H. P. Lovecraft – Der Fall Charles Dexter Ward

H.P. Lovecraft zählt zu den ganz Großen im Gruselgenre. Er galt als Wunderkind und fing bereits im zarten Alter von sechs Jahren mit dem Schreiben an. Zeitlebens war er ein Einsiedler und menschenscheuer Sonderling, der mit Freunden und gleichgesinnten Autoren in erster Linie schriftlich verkehrte. Inspirieren ließ er sich größtenteils durch seine Albträume, und einem solchen könnte auch Lovecrafts Roman „Der Fall Charles Dexter Ward“ entsprungen sein.

Dieser erzählt die (Kranken-)Geschichte von Charles Dexter Ward. Der junge Mann lebt mit seinen Eltern in Providence und beschäftigt sich leidenschaftlich gerne mit Genealogie. Eines Tages stößt er bei seinen Nachforschungen auf den Urahnen Joseph Curwen, dessen Name aus der Familiengeschichte getilgt wurde – nicht ohne Grund, wie die weiteren schauerlichen Ereignisse zeigen werden.

Lovecraft erzählt die gesamte Geschichte, die sich aus der Entdeckung Joseph Curwens in den Annalen der Wards ergibt, in einer Rückblende. Der Leser erfährt gleich auf den ersten Seiten, dass Charles in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wird, aus der er wenig später entkommt. Im Krankheitsbild des jungen Mannes scheint es so einige Merkwürdigkeiten zu geben, die sich die Ärzte nicht erklären können. Lovecraft beginnt daraufhin von Charles‘ Nachforschungen zu berichten und widmet sich ausführlich dem Objekt der Betrachtungen: Joseph Curwen. Der Leser erfährt die Geschichte eines äußerst sonderbaren Mannes, der eine riesige Bibliothek obskurer Bücher sein Eigen nennt und offenbar in seinem Labor, das er auf einem alten Bauernhof außerhalb von Providence eingerichtet hat, merkwürdige alchemistische Experimente durchführt.

Den Bewohnern von Providence sowie den Nachbarn des geheimnisumwitterten Hofes ist Curwen ein Dorn im Auge. Immer wieder machen Gerüchte die Runde. Mal ist der Umstand, dass Curwen kaum zu altern scheint, ein Thema, mal geht es um sonderbare, furchteinflößende Geräusche, die des Nächtens rund um den Hof vernommen werden. Man vermutet im Zusammenhang mit der Person Joseph Curwen die düstersten Dinge. All dies findet Charles Ward bei seinen Nachforschungen heraus und er entwickelt eine außergewöhnliche Faszination, ja fast schon Besessenheit bei seinen Recherchen.

Je tiefer Charles in der Vergangenheit gräbt, desto mehr verändert er sich. Er schottet sich ab, tritt ausgedehnte Reisen nach Europa an und richtet sich im Hause der Wards ein Laboratorium für Experimente ein. Es scheint, als würde er Joseph Curwen nacheifern. Die Wards schalten zwischenzeitlich Dr. Willet, einen Freund des Hauses, ein, der im Fall Charles Dexter Ward noch eine maßgebliche Rolle spielen wird, als die ganze Situation außer Kontrolle gerät …

Lovecrafts Art zu schreiben und den Roman aufzubauen, hat schon etwas Faszinierendes. Der Horror ist bei Lovecraft kein plumper, unmittelbarer, sondern liegt vielmehr im Verborgenen, im Unausgesprochenen zwischen den Zeilen. Wer über eine ausgesprochen blühende Phantasie verfügt, der kommt bei Lovecraft somit voll auf seine Kosten. Wem es an eigenem Vorstellungsvermögen mangelt, der wird sich dagegen wohl eher langweilen.

Immer wieder ist es Sache des Lesers, Gerüchte zu deuten, das Angedeutete im Geiste einzuordnen und das daraus entstehende Puzzle zusammenzufügen. Das Grauen spielt sich viel mehr im Kopf des Lesers ab als im wirklichen Text. Lovecraft inszeniert einen Horror, der ohne viel Blutvergießen auskommt. Es gibt keine plumpen Splatterszenen, keine aufgesetzten Gruseleinlagen, sondern in erster Linie beklemmend düstere Szenen, die direkt im Unterbewusstsein ansetzen. Lovecraft rüttelt an den menschlichen Urängsten.

Lovecrafts Vorstellungen von Horror zeigen sich wunderbar an einer Randszene, die sich um Vampirismus dreht. Anstatt diese Thematik genüsslich nach gängigen Horrorklischees auszuschlachten, bleibt sie als kleine Randerscheinung ohne viel Blutrünstigkeit stehen, wird aber mit einer Selbstverständlichkeit dokumentiert, die sie uns umso realer erscheinen lässt. Das wirkt weitaus beunruhigender als bluttriefende, überzogene Splatterszenen. Bei allem Horror, den er schildert, bleibt Lovecraft eben doch eher auf dem Teppich und kann dadurch den phantasiebegabten Leser umso mehr beeindrucken.

In interessantem Gegensatz zu den beschriebenen Geschehnissen mit ihrem unvorstellbar albtraumhaften Höhepunkt steht die Erzählperspektive. Lovecraft schreibt aus einer sehr neutralen, distanziert-analytischen Sichtweise. Die Geschichte erscheint wie eine fast schon wissenschaftliche Betrachtung des Falls Charles Dexter Ward. Der Erzähler nimmt am Geschehen nicht Teil und äußert keinerlei Emotionen. Diese kühle Betrachtungsweise, die so sehr im Kontrast zu den aufwühlenden Ereignissen steht, sorgt für eine weitere Steigerung des Grauens. Es entsteht eine ganz eigentümliche Spannung, die durch die vielen Andeutungen und Vorahnungen umso dichter erscheint.

Geradezu klassisch verläuft der Spannungsbogen. Lovecraft steigt fast am Ende der Handlung ein und erzählt den Fall dann aus der Rückblende heraus, die sich wiederum in mehrere Teile untergliedert: Das Leben Joseph Curwens, Charles Wards Nachforschungen bis zu seiner Einweisung in die Irrenanstalt und die Ereignisse danach. Auch zeitlich spielt der Roman damit auf unterschiedlichen Ebenen: Joseph Curwens Leben im 18. Jahrhundert und Charles Wards Nachforschungen um 1927/28 herum – zur etwa gleichen Zeit, als auch der Roman entstanden ist. Der Spannungsbogen steigt kontinuierlich an, stets angeheizt durch eingestreute Gerüchte, Andeutungen, Vorahnungen und die im Leser entfachte brennende Neugierde.

Im letzten Drittel des Romans strebt die Handlung ihrem Höhepunkt entgegen. Ein Moment, den der Leser bis dahin schon sehnsüchtig erwartet. Das Grauen, das Lovecraft im Höhepunkt der Geschichte inszeniert, ist schon sehr krass, eben auch deshalb, weil Lovecrafts Horror durch die nüchterne Erzählperspektive und die nicht so plumpe Art des Horrors umso realer erscheint. Nach diesem Höhepunkt lässt Lovecraft den Leser erst einmal durchatmen und die Figuren Kraft für das Ende schöpfen. Und obwohl man das Ende erahnen mag (wie man so vieles in der Handlung erahnt), so hält der Autor im letzten Absatz doch noch eine kleine Überraschung parat.

So sehr Lovecrafts distanzierte Erzählweise mit Blick auf die Spannung ihr Positives haben mag, so hat sie zumindest auch einen Schwachpunkt, der den Genuss aber nur geringfügig schmälern kann. Wenn es um die Figuren geht, allen voran um Charles Dexter Ward, hält Lovecraft sich etwas bedeckt. Man erfährt nicht sonderlich viel über den jungen Mann. Besonders seine Motivation bleibt dabei etwas im Dunkeln. Charles geht in seinen Nachforschungen sehr weit und überschreitet dabei eine Grenze, vor der eigentlich jeder normale Mensch zögern bzw. zurückschrecken muss. Charles‘ Motivation, diese Grenze zu überschreiten, wird dabei leider nicht ganz deutlich. Aber auch dies liegt vermutlich in der Erzählperspektive begründet. Durch die neutrale und distanzierte Betrachtungsweise bleibt dem Leser eben ein tieferer Blick in die Figuren verwehrt.

Lovecraft weiß seine Geschichte durchaus auch auf sprachlicher Ebene fesselnd zu erzählen. Sein Satzbau mag manchmal etwas konstruiert und lang wirken, seine Wortwahl manchmal etwas altertümlich daherkommen, aber trotz allem liest sich der Roman insgesamt sehr flüssig. Man darf nicht vergessen, dass Lovecraft Ende des 19. Jahrhunderts das Licht der Welt erblickte, sein Stil sich also zwangsläufig sprachlich von heutigen Standards unterscheidet. Der Roman ist insgesamt ausgesprochen plastisch in seinen Beschreibungen und treffend und akkurat in seinen Formulierungen.

Lovecraft versteht mit Worten zu jonglieren und damit im Kopf des Lesers ein Bild entstehen zu lassen. Er zaubert dadurch auf relativ wenigen Seiten eine ganz eigentümliche Atmosphäre aufs Papier, der sich der Leser nur schwer entziehen kann. Obwohl er sich nicht lange mit ausschweifenden Beschreibungen aufhält und die Geschichte nur über 226 Seiten geht (für Lovecrafts Verhältnisse ist das schon lang), lässt er die damalige Zeit sehr anschaulich aufleben. Insbesondere die Passagen, die im 18. Jahrhundert spielen, wirken sehr lebhaft, was sich vielleicht auch durch einen interessanten und nicht minder merkwürdigen Umstand aus Lovecrafts Biographie erklärt, denn er hat sich angeblich immer als ein Menschen des 18. Jahrhunderts gefühlt und auch seine Briefe um 200 Jahre zurückdatiert.

Alles in allem kommt man nicht umhin, H. P. Lovecraft als einen wirklichen Großmeister des Grusels zu würdigen, der einen Platz neben Autoren wie Edgar Allen Poe verdient hat. Das belegt auch „Der Fall Charles Dexter Ward“. Das Buch enthält keinen plumpen, überzeichneten Horror, sondern schildert Dinge, die letztendlich durchaus im Bereich des Vorstellbaren liegen. Bei Lovecraft entsteht der Horror im Kopf des Lesers. Er selbst streut vielmehr Andeutungen und Hinweise aus, dokumentiert aus distanziert-kühlem Blickwinkel und überlässt den Rest dem Betrachter. Und das ist für mich das eigentlich Geniale an Lovecrafts Werk.

Taschenbuch: 240 Seiten
Auflage: 10 (29. Juli 1990)