Nothomb, Amélie – Quecksilber (Lesung)

_Die Schlacht um Freiheit, Wahrheit und Schönheit _

Auf der Normandie-Insel Mortes-Frontières hält der alte Kapitän Loncours die junge Hazel gefangen. Als sie erkrankt, reist Krankenschwester Francoise vom Festland an, um sie zu pflegen. Sie ist die einzige Person, die Zutritt zu Hazels Zimmer bekommt. Denn der Alte scheint ein furchtbares Geheimnis zu hüten. Warum zum Beispiel gibt es im ganzen Haus keinen Spiegel? (Verlagsinfo)

_Handlung_

Am Abend des 1. März 1923 schreibt Hazel in ihr Tagebuch, dass sie mit dem „Alten“ seinen 77. Geburtstag gefeiert habe. Danach sei er wie so oft in ihr Bett gekommen. Sie wird am 31. März 23 Jahre alt – „dann sind wir zusammen ein Jahrhundert alt“, freut sich der Alte. Nun sind es schon fünf Jahre, die sie hier auf der einsamen Insel Mortes- Frontières bei ihm lebt. Denn er ist nicht nur ihr Pflegevater, sondern auch ihr Lebensretter.

Hazel stammt aus einer internationalen Familie. Ihr Vater war Franzose, der eine Polin aus Warschau heiratete und mit ihr nach New York City zog, als Hazel erst sechs war. Dort lebten sie sechs Jahre, um dann pünktlich zum Ausbruch des Weltkrieges wieder in Paris zu leben. Aber erst 1918 zog ihr Vater von dort weg, in die Normandie. Dort wurden sie von einem deutschen Flieger angegriffen. Nur Hazel überlebte, und Kapitän Loncours nahm sie mit auf seine Insel. Aber er sagte ihr nicht, warum es in seinem Haus keine Spiegel gibt.

Doch Hazel wird eines Tages krank. Der Alte ruft eine Krankenschwester aus der nächsten Stadt, und dort wird Schwester Francoise Chavegnes gebeten, sich um Hazel zu kümmern. Zusammen mit der Dienerin Jaqueline setzt sie auf der Fähre über, nur um ihre Sachen dann von vier Männern inspiziert zu bekommen.

Kapitän Loncours gibt ihr ausdrückliche Anweisungen, sich auf professionelle Fragen zu beschränken, nichts Privates darf sie mit Hazel besprechen. Er ist aber von Francoises Schönheit recht angetan. Hazel versteckt sich unter der Bettdecke und kommt erst hervor, nachdem der Alte gegangen ist. Sie hält sich für hässlich, weil der Unfall vor fünf Jahren sie entstellt habe. Doch Francoise kann deutlich sehen, dass Hazel das schönste Mädchen ist, das sie je gesehen hat. Sie wagt jedoch nichts zu sagen, weil sie mutmaßt, dass der Alte sie belauscht.

Nach der ersten begegnung erweist sich Hazel als aufgewecktes Mädchen, das sich wie eine Zwölfjährige über die weibliche Besucherin freut. Schon nach wenigen Tagen sind die beiden die dicksten Freundinnen und erzählen einander von Liebesdingen und ihrer Vergangenheit.

Um herauszufinden, ob der Alte wirklich lauscht und worin das Geheimnis der fehlenden Spiegel besteht, ersinnt Francoise einen ausgeklügelten Plan …

_Mein Eindruck_

Die Dreiecksgeschichte entwickelt sich zu einer Geschichte über Freiheit, Wahrheit und Schönheit, also grundlegende Bedingungen des Menschen. Denn eines ist klar für Francoise: Durch Enthüllung der Wahrheit über ihre Schönheit soll Hazel befreit werden. Das erweist sich als schwieriger als gedacht. Und so fand es die Autorin sogar nötig, zwei mögliche Schlüsse der Geschichte zu schreiben.

Hazel lebt im Stande der Unschuld, als wäre sie Eva im Garten Eden. Loncours spielt den Adam, ihren Liebhaber und Retter. Nun drängt sich Francoise wie die Schlange dazwischen und will diesen Zustand beenden. Denn die Unschuld Hazels beruht ja auf einem Betrug. Die Perfidie dieser Tat verdoppelt sich für Francoise, als sie von Loncours erfährt, dass er dies alles schon einmal gemacht hat: mit Adèle, seiner ersten Frau. Auch sie wurde im falschen Glauben gelassen, entstellt zu sein. Für Francoise wird der Alte zu einem Ungeheuer, das einem Blaubart in nichts nachsteht.

Die erste Maßnahme muss also darin bestehen, das Lauschen zu unterbinden und einen Spiegel zu finden. Doch der Alte ist auf der Hut. Er hat vom Apotheker der Stadt erfahren, dass Francoise täglich ein Quecksilberthermometer kauft. Offenbar ist es ihr Plan, aus dem Quecksilber eine spiegelnde Fläche zu schaffen – bevor sie es benutzt, ihn damit umzubringen. Francoise weist diesen Verdacht selbstredend weit von sich. Sie wird eingesperrt.

Doch mit einem genialen Trick kann sie sich befreien und sich zu Hazel schleichen. In der ersten Fassung ist Hazel unbewacht, sodass Francoise ihr die schreckliche Wahrheit enthüllen kann. Doch wo ist der Spiegel, den Loncours versteckt hat? Sie müssen ihn überfallen und zwingen, ihnen Spiegel und Wahrheit herauszurücken. Bei ihrem eigenen Anblick fällt Hazel schier in Ohnmacht, dann versucht sie, Loncours umzubringen. Kann sie es übers Herz bringen, ihren Retter zu töten, auch wenn sie ihren Liebhaber hasst?

Der zweite Schluss sieht vor, dass Francoise entdeckt und gepackt wird, bevor sie Hazel erreicht. Die Handlung verläuft völlig anders, sodass es durchaus der Mühe wert ist, sich diese Variante anzuhören. In dieser Fassung findet beispielsweise Loncours ein anderes Ende, und die beiden Freundinnen fahren nicht in die USA, sondern bleiben auf der Insel bis an ihr Lebensende. In jedem Fall erben die beiden Loncours‘ Vermögen. Das klingt wie ein Märchen. Der König ist tot – hoch lebe sein Geld!

Nun aber zur Last der Schönheit. Sie ist die Ursache für Hazels Leid – und für ihr Überleben, wenn man Loncours glauben darf. Nur deswegen habe er sie aus den Trümmern gerettet und bei sich aufgenommen. Fünf Jahre lang sah sich Hazel als die Hässlichste unter den Evastöchtern und traute sich nicht unter Menschen, sodass ihre Gefangenschaft gerechtfertigt erschien.

Nun jedoch soll sie sich mit ihrer Schönheit und Anziehungskraft abfinden? Das wäre ja gerade so, als solle sie die Löwen einladen, das Lämmchen zu verspeisen! Alles nicht so einfach, muss Francoise feststellen. Loncours muss ihr helfen und einige Fakten erklären. Das dauert. So wie das Drama von Anfang an aus Dialogen bestand, so werden die Dialoge nun zu Streitgesprächen. Und dafür, dass sie zuweilen in Philosophie ausarten, muss man eben Geduld aufbringen.

_Die Sprecherin_

Die wichtigste Aufgabe der Sprecherin bestand offenbar darin, den drei Hauptfiguren Leben einzuhauchen. Das gelang ihr durchaus, und zwar vor allem durch die unterschiedliche Tonlage, die sie den Figuren zuwies.

Francoise spricht in einer weiblichen Alt-Tonlage, die wesentlich tiefer ist als die von Hazel. Die ist meist sehr emotional, leicht begeistert oder erzürnt. Der Kapitän ist das genaue Gegenteil: In der tiefsten, der Sprecherin möglichen Tonlage spricht er langsam und bedächtig, wie es einem 77-Jährigen angemessen ist. Nichts, was ihm Francoise vorwirft, kann ihn aus seiner Ruhe bringen. Für Aktionen hat er ja seine „Schergen“.

Musik gibt es ebenso wenig wie Geräusche, was das Ganze zu einem Kammerspiel macht, für das man Geduld aufbringen muss. Ich konnte pro Tag stets nur eine CD ertragen, also rund 65 Minuten. Sonst wäre ich eingeschlafen.

Marlen Diekhoff, vielseitige Bühnen- und Filmschauspielerin, gehört nach Verlagsangaben seit vielen Jahren zum Ensemble des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Für Hörbuch Hamburg hat sie bereits Texte von A. Baricco, Amélie Nothomb, Colette, Sándor Márai und „Tausendundeine Nacht“ gelesen.

_Die Autorin_

Amélie Nothomb, 1967 in Kobe/Japan geboren, verbrachte ihre Kindheit als Tochter eines belgischen Diplomaten in japan und China. Nach ihrem Philologiestudium begann sie zu schreiben. Besonders in Frankreich feiert sie Erfolge. Sie lebt in Paris. „Mit Staunen und Zittern“ trug ihr den „Prix de l’Académie Francaise“ ein.

Bei Hörbuch Hamburg sind bereits ihre Romane „Quecksilber“, „Metaphysik der Röhren“ und „Der Professor“ erschienen. Die Buchfassungen erscheinen bei Diogenes. Sie sind bei Amazon.de nicht zu bekommen.

_Unterm Strich_

Eine junge, die als Gefangene eines alten Knackers wie eine gefangene Sexsklavin gehalten wird – kann das gutgehen? Die Krankenschwester jedenfalls will schleunigst für den Sieg von Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit sorgen. Doch aus dem Dreiecksverhältnis entwickelt sich unversehens ein Drama darum, wer die Oberhand behalten wird. Das ist durchaus spannend, wenn man etwas für Wortgefechte übrig hat. Der Ausgang ist so oder so möglich, sodass die Autorin zwei Schlüsse präsentiert.

Dass diese Schlacht um die Befreiung Hazels zugleich auch als Kampf um die Emanzipation – also Befreiung aus Sklavenschaft – der Frauen allgemein gelesen werden kann, versteht sich wohl von selbst. Der Alte spielt in diesem Szenario den tyrannischen Patriarchen, der die Frau gefangen hält, weil er sie liebt – das ist ja das Perfide daran.

|Das Hörbuch|

Die Sprecherin erweckt die drei Hauptfiguren dieses Kammerspiel zum Leben, indem sie ihnen nicht nur eine jeweils passende und unterschiedliche Stimme zuweist, sondern auch indem sie ihre Emotionen deutlich zum Ausdruck bringt. Das gelingt ihr am besten bei de emotionalsten Figur, der jungen Hazel.

Schade, dass es weder Musik noch Geräusche gibt. So neigt das dialoglastige Stück dazu, den Hörer einzulullen. Ich konnte jeweils nur eine CD pro Tag von dieser Dosis vertragen. Daher empfiehlt sich diese Lesung vor allem für Hörer, die gut zuhören können und das Drama in den Dialogen erkennen. Theaterschauspieler dürfte diese Präsentation wohl am meisten entgegenkommen.

|4 Audio-CDs
Spieldauer: 260 Minuten
Originaltitel: Mercure
Aus dem Französischen übersetzt von Wolfgang Krege
Regie: Margrit Osterwold,
Toningenieur: Ansgar Döbertin
ISBN-13: 978-3899037487|
[www.hoerbuch-hamburg.de]http://www.hoerbuch-hamburg.de

_Amélie Nothomb bei |Buchwurm.info|:_
[„Der Professor“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1308
[„Mit Staunen und Zittern“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1358

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