Alain Dorémieux – Spaziergänge am Rande des Abgrunds. Phantastische Erzählungen

Im Sandmeer dem Liebesvirus verfallen

In seinem gesamten Schaffen vermittelt der Autor auf besondere Weise die Atmosphäre des Unheimlichen und Bedrohlichen, kommt seine Neigung zum Absurd-Phantastischen zum Vorschein – eingebettet in die stets wiederkehrende Thematik des Weltuntergangs, der Vernichtung allen Lebens durch einen unsichtbaren Feind. (Verlagsinfo) Dieser Erzählband versammelt Erzählungen aus den Jahren 1959 bis 1979.

Zitat: “Was das Wort »Glück« betraf, so war es zu einem archischen Ausdruck geworden, sein zeitgemäßes Synonym hieß »Komfort«.” (S.80)

Der Autor

Sein schmales, aber gewichtiges Werk weist Alain Dorémieux – neben Daniel Walter und Michel Jeury – als einen der bemerkenswertesten Stilisten der französischen Science Fiction aus. 1933 in Paris geboren, spielt er seit 25 Jahren eine wichtige Rolle in der Entwicklung dieser Literaturgattung. Am bekanntesten war er als Herausgeber des Magazins „Fiction“, der bis 1990 führenden Zeitschrift für SF und Fantasy in Frankreich, die er 20 Jahre lang betreute.

Er veröffentlichte unter den verschiedensten Pseudonymen: Atlante Gilbert, Luke Vigan (mit Gerard Klein und Andre Ruellan), Monique Dorian (ein Pseudonym das er mit seiner Frau Monique teilte) und anagrammatische Pseudonyme wie Meauroix Daniel und Alex Dieumorain für seine Übersetzungen. Seine Kritikerarbeiten veröffentlichte er häufig unter dem Pseudonym „Serge-André Bertrand“. Er starb 1998 in Paris. Im Jahr 2000 wurde ein Preis mit seinem Namen gestiftet.

Neben zahlreichen Anthologien mit angelsächsischer SF veröffentlichte er 1967 einen eigenen Novellenband: „Mondes interdits“. Elf Jahre später, 1978, erschien die Sammlung „Promenades au bord du gouffre“. Die Übersetzung, „Spaziergänge am Rande des Abgrunds“, stellt dem deutschen Publikum das faszinierende Werk Dorémieux‘ erstmals in zusammengefasster Form vor. Danach folgte 1986 die Anthologie „Symbiose Phase Eins“, ebenfalls bei Heyne.

Werke

• Mondes interdits, Losfeld, 1967
• Promenades au bord du gouffre, Denoël, Présence du futur, 1978
• Le livre d’or de la science-fiction, Presses Pocket, 1980
• Couloirs sans issue, Denoël, Présence du futur, 1981
• Black Velvet, Denoël, Présences, 1991
• La Vana (1959)
– Symbiose Phase Eins (Heyne, 1986)

Die Erzählungen

1) Im Krankenhauszimmer: Aufwachen in einem sterilen Klinikzimmer, keine Erinnerung, nicht einmal der eigene Name will ins Gedächtnis zurückkommen. Ärzte. die experimentieren, Tage, die ineinander verschwimmen, Realitäten, die keine sind.

2) Gefangener der Insektenfrauen: Wenige Überlebende einer globalen Katastrophe, v.a. wenige Männer. Zu kleineren Gruppen organisiert werden sie von Wesen gejagt, die früher einmal menschliche Frauen waren, nun aufgrund einer Transmutation in insektenstaatlich aufgebauten Gebilden leben. Und auch entsprechend lieben, was die Gefangenen am eigenen Leibe feststellen müssen.

3) Der Turm: Der Planet, man nannte ihn einst Erde, ist bar jeden Lebens. Larcan, der letzte noch existierende Mensch, wartet in seinem Refugium, einem Wohnturm aus “besseren” Zeiten, auf das Ende der Generatoren, und somit sein eigenes. Gefangen im Schutz der Überreste jener Zivilisation, die seinen Untergang bedingt.

Larcan lebt als letzter Mensch in den Wohntürmen, die als einzige noch aus dem Sandmeer herausragen, das inzwischen die Stadt Paris bedeckt. Alle anderen sind bereits fortgezogen, doch er braucht seine gewohnte und angestammte Umgebung. Es herrscht Endzeitstimmung in einem ewigen Sommer, den das Treibhausklima verursacht hat.

Der Sand hat inzwischen das 10. Stockwerk erreicht, wo Larcan direkt die Wüste betreten könnte, die Europa nunmehr bedeckt. Doch immerzu weht der starke Wind stechende Sandkörner auf die Haut des Wanderers, selbst wenn er auf seinem Lieblingsplatz steht: oben auf der Dachterrasse. Doch selbst dort zeigt der Beton bereits Risse, und es ist abzusehen, dass auch der Turm, der stumme Wächter, eines nicht allzu fernen Tages einstürzen und sich zum Sandmeer gesellen wird.

Mein Eindruck

Obwohl kein einziges Wort gesprochen wird und es mangels Akteuren auch keine Handlung gibt, so beeindruckt diese Erzählung doch durch ihren ausgefeilten Stil, mit dem der Autor einen Endzeitzustand beschreibt und die dazugehörige Stimmung evoziert. An nichts erinnert die Geschichte so sehr wie an J.G. Ballards „Der ertrunkene Riese“ mit seiner statischen Zustandsbeschreibung, allerdings ohne die makabren Seitenaspekte, oder an seinen Roman „Kristallwelt“.

In „Der Turm“ herrscht eine besondere Stimmung des Dazwischen: Das, was wir für selbstverständlich gehalten haben, die globale Zivilisation, ist vergangen, und etwas anderes hat noch nicht angefangen. Aber es erweist sich als ein Trugschluss des subjektiven Beobachters, dass er bzw. die Türme auf etwas warten sollen. Es wird nie eintreten, denn da draußen ist außer dem Wind und dem Sand nichts mehr. Keine Reiterhorden werden von Osten heranstürmen, allenfalls eine Kamelkarawane auftauchen.

Was der Autor nie erklärt, ist die Frage, wie sich Larcan überhaupt in einer Umwelt ernähren kann, die a) völlig verlassen ist und b) unter Sand begraben. Offenbar lebt er von der frischen Luft und den zur Neige gehenden Tabakvorräten. Das ist allerdings ein bisschen wenig.

4) Die Tiere: Parasitische, vampirähnliche Lebenwesen bedienen sich junger weiblicher Menschen, um ihr Überleben auf der Erde zu sichern.

5) Begegnungen der vierten Art: Zusammentreffen von Menschen mit außerirdische Lebewesen, welche die Erde zur Kontaktaufnahme besuchen. Der Plot ist befremdlich und etwas frivol in der Annahme, dass die Kontaktaufnahme in erster Instanz sexueller Natur sein solle.

6) Welche Katastrophe: Orthez kehrt mit dem Zug von einem Auslandsaufenthalt in seine Heimat zurück. Je näher er seiner Heimatstadt kommt, desto mehr erkennt er, dass diese in keinster Weise mehr dieselbe ist, die er einst verlassen hat. Zu behaupten, dass die Zugfahrt nach Hause in einem bösen Erwachen endet, würde voraussetzen, dass es am Ende ein Erwachen gäbe.

Der Schluss: „Es begann unmerklich. Orthez stockte der Atem. Die Stille löste sich auf, zerfiel, zerbröckelte. Winzige Geräuschfetzen überlagerten sich, bis sie einen einzigen Ton bildeten, der am Rand der Stadt widerhallte. Und allmählich wurde dieses Geräusch zum Schlurfen von Millionen Raupen, zum dumpfen Trippeln einer Horde Ratten, zum unterirdischen Wühlen einer Armee von Maulwürfen.

Es erreichte die Nachbarstraßen, kam näher, breitete sich aus, weckte das Echo zwischen den Fassaden der leeren Häuser. Es schwoll unaufhörlich an, erschütterte die Grundmauern des Hauses, ließ die Scheiben der Fenster klirren. Orthez wusste, was dies bedeutete: er war verurteilt. Verurteilt wie vor ihm die anderen Bewohner der Stadt. Aber er floh nicht.

Die Treppe erzitterte. Der Lärm wurde zum Tumult. Hinter der Tür war ein Scharren zu hören, wie das Kratzen von Krallen. Einige Schritte entfernt splitterte die Tür.“

So endet Orthez, der letzte Mensch.

7) Die Vana: Eine übervölkerte, von Sozialgesetzen bestimmte Gesellschaft der zukünftigen Menschheit bildet die Bühne der Geschichte. Die Vana, als Tiere von einem Planeten in der Oriongegend importiert, aber mit einer frappierenden Ähnlichkeit zu menschlichen Frauen, entpuppen sich als Träger eines Virus, der ihre vergnügungssüchtigen Besitzer tötet. (Die Novelle erschien bereits 1959 (s.o.).)

8) Alptraum in Rosa: Routine macht nachlässig, v.a. wenn man auf einem trostlosen Wüstenplaneten ohne erkennbares höher entwickeltes Leben in einer Forschungsstation zu zweit seinen Dienst versieht. Nachlässigkeit, die tödlich enden kann, v.a. wenn man die ansässige Flora unterschätzt.

9) In eine ferne Fremde: Wie lange dauert es wohl, bis ein soziales Wesen wie der Mensch seines Lebens überdrüssig wird, wenn er sich der Erkenntnis gegenüber sieht, der letzte seiner Art zu sein?

10) Wie ein Vogel der davonfliegt: Wie wäre es, in anderen Menschen zu lesen wie in einem offenen Buch? Seit ihrer Verschmelzung mit einem Symbionten ist Vera dies möglich. Der Preis dafür übersteigt allerdings ihre Vorstellung bei weitem und für das erst zwölfjährige Mädchen beginnt eine beklemmende, psychische wie physische Odyssee.

Unterm Strich

Wer in den vorliegenden Novellen die in deutschsprachigen SF überwiegende Ausrichtung auf klassisch technische Themen erwartet, wird sich enttäuscht sehen. Alain Dorémieux, der u.a. von 1958 bis 1974 die Zeitschrift „Fiction“ als Chefredakteur leitete, prägte mit seinen introspektivischen Dystopien das französische SF-Autorenfeld entscheidend mit. Die Geschichten aus seiner Feder bilden einen angenehm verstörenden Kontrapunkt zu techniklastigen Zukunftsentwürfen anderer SF-Sparten. Im Zentrum stehen die Themen Tod, Vergehen, Übergang und Erotik.

Das Nachwort

Helga Abret, die einige der Geschichten in diesem Band übersetzt hat, schrieb das Nachwort im Jahre 1980 zu dieser Novellensammlung. Zwar hat sich seit dieser Zeit auch im deutschen Sprachraum einiges in Hinblick auf die Anerkennung der SF als “echte” Literaturgattung getan, doch hilft der Rückblick, die historische Position der deutschen SF im Vergleich zu jener der französischen Kollegen besser zu verstehen und ist aus diesem Grund schon lesenswert.

Michael Matzer © 2018ff

Taschenbuch: 190 Seiten
Originaltitel: Promenades au bord du gouffre, 1978
Aus dem Französischen von Helga Abret
ISBN-13: 9783453307889

www.heyne.de


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