Der Engländer Stephen Baxter (* 1957) ist bekannt für seine naturwissenschaftlich fundierten Science-Fiction-Romane. Er studierte in Cambridge Mathematik und ist Doktor der Ingenieurswissenschaften. Er lehrte einige Jahre Mathematik, Physik und Informatik, bevor er 1991 seinen ersten Roman „Das Floß“ (The Raft) veröffentlichte. Seit 1995 arbeitet Baxter hauptberuflich als Autor und wurde seitdem mit zahlreichen renommierten SciFi-Preisen wie dem |Philip K. Dick Award| und unter anderem auch den deutschen Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.
Was Baxter von vielen anderen Autoren „harter“ Science-Fiction unterscheidet, ist seine Fähigkeit, schwierige Fragen, Sachverhalte sowie physikalische Gegebenheiten und Theorien unterhaltsam und für Laien nachvollziehbar zu verpacken.
Dabei ist Baxter kein Technomane, der sich auf die rein technologische Weiterentwicklung der Menschheit versteift. [Evolution 282 ist – wie in seinem gleichnamigen Roman – bei ihm ebenfalls ein Thema, und dabei hört er keinesfalls bei der menschlichen Evolution auf.
|Schwestern sind wichtiger als Töchter|
Der Roman „Der Orden“ (Original: „Coalescent“) stellt den Auftakt der Serie „Kinder des Schicksals“ dar, die in dem älteren „Xeelee“-Universum Baxters angesiedelt ist. Er bereitet den Boden für das Verständnis der Folgebände wie „Sternenkinder“, die in einer weit entfernten Zukunft angesiedelt sind und vom jahrtausendelangen Zermürbungskrieg der Menscheit mit den Xeelee handeln. Ganz im Gegensatz dazu spielt dieser Roman in unserer Gegenwart – und in der römischen Vergangenheit Britanniens!
Der Computerexperte George Poole kehrt nach dem Tod seines Vaters zur Haushaltsauflösung in sein Geburtshaus nach Manchester zurück. Dabei entdeckt er ein merkwürdiges Foto, das ihn im Alter von ungefähr drei Jahren zeigt – und ein unbekanntes Mädchen, das zur Familie zu gehören scheint. Seine ältere Schwester Gina kann es nicht sein. Wer ist die Unbekannte?
George stellt Nachforschungen an, unterstützt von seinem Jugendfreund Peter, einem ehemaligen Polizisten, der seine Vorliebe für Technik und alte Science-Fiction-Romane der 60er Jahre teilt, seinen abstrusen Theorien über außerirdische Intelligenzen, die er mit gleichgesinnten „Slantern“ im Internet entwickelt hat, allerdings skeptisch gegenübersteht.
Schließlich findet George die Spur seiner Schwester Rosa, die als Kind aufgrund sozialer Nöte der Familie von einem römischen Marienorden adoptiert wurde. Was George noch nicht weiß: Er steht genauso wie seine Schwester Rosa in einer Verwandschaftsbeziehung zu diesem Orden, der auf seine Urahnin Regina zurückgeht, die im dunklen Zeitalter des Niedergangs römischer Kultur in Britannien lebte und den Orden entscheidend prägte. Einen Orden, der sich abgeschottet in den römischen Katakomben jahrhundertelang entwickelte, zu etwas, das sowohl George als auch insbesondere Peter mit Entsetzen und Unverständnis erfüllt: einer Art menschlichen Schwarms.
|Unwissenheit ist Stärke|
Wer bei Science-Fiction den Blick Richtung Himmel und Zukunft wendet, wird bei diesem Roman eine herbe Bruchlandung erleiden, denn seine Erwartungshaltung wird gewiss nicht erfüllt werden.
„Der Orden“ handelt in der Gegenwart, in der George den Geheimnissen einer düsteren Vergangenheit auf die Spur kommt. Weite Teile der Geschichte spielen im historischen Britannien der Römerzeit und stellen einen lupenrein recherchierten historischen Roman dar, in dem Georges Vorfahrin Regina eine tragende Rolle spielt. Immer wieder wechselt Baxter zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Dabei dürften sich viele Leser fragen: Warum? Auf was will er hinaus?
Leider ist dieser tote Punkt in der Mitte des Buches ein echter Stolperstein, der auch nicht dadurch kompensiert werden kann, dass der historische Teil des Romans sehr gut und unterhaltsam geschrieben ist – Zusammenhang und Spannungsbogen fehlen hier, erst am Ende des Romans löst sich alles in Wohlgefallen auf.
Regina, auf die der ominöse Orden zurückgeht, ist die Tochter eines römischen Gutsherren in Britannien. Aber leider wird sie in schlechten Zeiten geboren: Der Vater der Familie stirbt, ihre Mutter lässt sie im Stich. Mit ihrem Onkel Aetius, einem alten Soldaten, erlebt sie den Niedergang römischer Zivilisation in Britannien. Nach dessen Tod lebt sie unter Barbaren, auch ihre Tochter Brica wächst in primitiven Verhältnissen auf.
Regina wird gar zur Geliebten von König Artorius, der mitsamt seinen Zauberer Myrddin (hier: ein Experte für die Herstellung von Eisen und Eisenwaffen) eher als historische Person denn mythische Figur dargestellt wird. Beide haben einen Traum: eine andauernde Zivilisation zu schaffen. Doch, ganz im Sinne römischer und italienischer Tradition, steht bei Regina die Familie im Mittelpunkt ihres Handelns.
Während der erfolgreiche Kriegsherr Artorius schließlich doch scheitert bei seinen Feldzügen und seine Ordnung und Zivilisation dem Niedergang anheim fällt, schafft die mittlerweile nach Rom zurückgekehrte Regina, ohne es selbst ganz zu verstehen, ein hierarchieloses, ewiges, sich selbsterhaltendes Gebilde: einen menschlichen Schwarm.
|Hör auf deine Schwestern|
Die durch Leid und Niedergang der von ihr geliebten Kultur und Zivilisation tief getroffene Regina hat instinktiv begriffen, wie sie die ihr heilige Familie bewahren kann. Auch wenn ihre Angehörigen in der Krypta inmitten der Katakomben Roms sie nicht verstehen – sie hört noch auf dem Sterbebett den Satz „Ich verstehe dich nicht, meine Liebe“ – wird ihre Gesellschaft ohne Regeln und ohne einen „ehrgeizigen Idioten“, eine Autorität wie Artorius, funktionieren.
Die Grundlagen der Schwarmgesellschaft, die sich entwickeln wird, sind einfach: Schwestern sind wichtiger als Töchter. Unwissenheit ist Stärke. Hör auf deine Schwestern.
Die einzige Regel, die Regina ihren Angehörigen auferlegt hat, und die prinzipiell überflüssig ist, ist ihr Heiligtum: Ihre drei römischen Hausgötter oder Laren, die verehrten |matres|. Analog zu den drei Holzfiguren soll es reale Mütter geben. Diese Mütter sollen immer drei oder das mehrfache von drei zählen, und nur sie dürfen Töchter gebären – alle anderen sind Schwestern, eine große Familie. Eine Familie, die so genetisch enger verwandt ist, als es sonst üblich oder möglich wäre, würden sie alle Kinder zeugen mit fremden Vätern. Sie geben ihre Gene weiter, indem sie ihrer Mutter helfen, ihre Schwestern auszutragen.
Die Stärke aus der Unwissenheit ist die Bedingung, dass der Orden nicht von einzelnen Personen abhängt, sondern sich selbst erhält. Jedes Glied dieses Schwarms hat eine spezialisierte Aufgabe, kann aber jederzeit durch ein anderes ersetzt werden. Man muss nicht wissen, warum man etwas tut; etwas, das Lucia erfahren wird.
Lucia stellt ein Mädchen dar, das zur Brüterin des Ordens werden soll, zu einer Mutter. Sie will aber gar nicht, ihr ist die Konformität zuwider, sie will etwas ganz Anderes. Auch für George und Peter ist das spezialisierte Leben als Gebärmaschine des Ordens sowie der zahllosen Mädchen des Ordens, die quasi zu geschlechtslosen Neutren mutieren, eine Horrorvision.
Der letzte Leitsatz ist, man soll auf seine Schwestern hören. Keine hat dabei eine Vormachtstellung, sondern eine Aufgabe im Schwarm, ist ersetzbar. Auch wenn sie nicht mehr wissen sollten warum, arbeitet die Familie des Ordens oder Schwarms zusammen.
Sie knüpfen engere Bande als bei Menschen üblich. Der durch die Enge in der Krypta entstandene Geruch wird wichtig, wie bei Ameisen – Pheromone übertragen Eindrücke zu den anderen Mitbewohnern, fremde Personen wie George werden beim Betreten der Krypta vom Gestank überwältigt und bemerken verstört, wie alle sie ohne ein Wort als Fremdkörper betrachten und anstarren. Neben der intensiven Wahrnehmungen von emotionalen Befindlichkeiten, verändern sich die Bewohner von Reginas Orden auch körperlich: Schon alleine die Dauer einer Schwangerschaft ist bei den Müttern wesentlich kürzer als bei normalen Menschen.
|Koaleszenz, Emergenz und Eusozialität|
Der ganze historische Teil des Romans dient somit der sanften Einführung in fremdartige Konzepte und erklärt, wie sie möglicherweise entstehen könnten. Die Prinzipien der Eusozialität und Emergenz, auf denen eine Koaleszenz, also ein menschlicher Schwarm, beruht, werden so beispielhaft und nachvollziehbar anhand von Reginas Leben unterhaltsam nahe gebracht.
Leider wird dies dem Leser erst gegen Ende des Romans klar, bis dahin mag der geneigte SciFi-Leser sich fragen, warum ein historischer Roman, wenngleich ein gut recherchierter und geschriebener, unter der Bezeichnung Science-Fiction vermarktet wird.
Die Gegenwartsebene schildert die Reaktion von George und Peter auf diesen menschlichen Schwarm. Am Beispiel Lucias, die zu einem Leben als „Brüterin“ verdammt wird, wird uns die Unmenschlichkeit dieses Konstrukts bewusst. Aber Baxter ist hier nicht einseitig moralisierend, er zählt auch Vorzüge auf, von Nähe und Geborgenheit, intensiver Zugehörigkeit und selbstloser Aufopferung, die eine menschliche Familie gewöhnlicher Prägung niemals erreichen könnte.
_Fazit_
Man kann geteilter Meinung sein, ob es klug war von Baxter, den Leser so lange im Dunkeln tappen zu lassen, besonders pure SciFi-Fans könnten von dem historischen Teil des Romans sehr gelangweilt sein. Wer hingegen historischen Romanen etwas abgewinnen kann, wird besser unterhalten. Letzten Endes ist auch die dem Roman zugrunde liegende Idee recht dünn und zudem nicht neu: Menschliche Ameisenhaufen sind in der Science-Fiction-Literatur mindestens so zahlreich wie die zahllosen menschlichen Schwarmgesellschaften der Zukunft, die Baxter uns in einem kurzen Ausblick gegen Ende des Romans in die Zukunft seines Universums schildert.
Er legt hier die Grundlage für den Folgeband „Sternenkinder“, in dem die hier beschriebenen Problematiken und Gesellschaftsformen in der Zukunft für handfeste Probleme sorgen werden.
Seit nahezu dreitausend Jahren liegt die Menschheit im Krieg mit den Xeelee, die sowohl technologisch als auch physiologisch und strategisch im Vorteil sind. Dieser Zermürbungskrieg muss zwangsweise verloren gehen, uralte Doktrinen hemmen Individualität und Kreativität, überall bilden sich Menschenschwärme in abgelegenen und vergessenen, auf sich allein gestellten Ecken der Galaxis, die von Presskommandos ausgelöscht und die Überlebenden als Kämpfer im Krieg gegen die Xeelee verheizt werden, in einer Art Mottentaktik: Die Menschen-Motten stürzen in Massen auf die Kerze, in der Hoffnung, das Licht zu ersticken …
Womit die martialische Doktrin des legendären Hama Druz „Ein junges Licht brennt hell“, einen makabaren Beigeschmack erhält.
Wenn man den „Orden“ gelesen hat, werden Zusammenhänge und Problematiken in „Sternenkinder“ begreiflicher. So kann man sich fragen, ob die Menschheit in ihrer Gesamtheit nicht als Schwarm handelt und außerirdische Rassen wie andere Schwärme bekämpft, so wie man es mit Sub-Schwärmen innerhalb der eigenen, durch Doktrinen eingeengten Gesellschaft seit Jahrtausenden tut. Denn an Individualität und Eigeninitiative fehlt es den unzähligen Menschen in ihrem riesigen, galaxienüberspannenden Menschheitsschwarm, der zwar keine extreme Form darstellt, aber durch Doktrinen in ähnliche Bahnen gedrängt wird wie der kleine Ur-Schwarm des Marienordens in „Der Orden“.
Der „Kinder des Schicksals“ genannte Zyklus zeigt auf unterhaltsame Weise Möglichkeiten der menschlichen Evolution auf. Auch wenn der „Orden“ auf einer recht simplen Idee fußt und weitgehend ein historischer Roman mit anfangs scheinbarer Zusammenhanglosigkeit zur Gegenwart und zur Science-Fiction im Allgemeinen ist, kann er, wenn man eine gewisse Durststrecke überwunden hat, faszinieren. Vor allem ermöglicht die Lektüre den vollen Genuss des Folgebands „Sternenkinder“, der sowohl klassisch-konventionelle Wünsche von Science-Fiction-Lesern befriedigt als auch eine ganze Ecke fantastischer und spannender ist.
The Baxterium – Die offizielle Homepage des Autors:
http://www.cix.co.uk/~sjbradshaw/baxterium/baxterium.html