Byers, Richard Lee – Zersetzung (Der Krieg der Spinnenkönigin 1)

Das Böse hat seine eigene Faszination. Besonders Rollenspieler lieben Schurken, die ein facettenreicheres Spiel erlauben als der ewig fromme und langweilige, ehrenwerte Paladin.

Mit den düsteren Drows oder Dunkelelfen hat der bekannte AD&D-Autor (Advanced Dungeons & Dragons, ein Rollenspielsystem) R.A. Salvatore die dunklen Brüder zu den klassischen Elfen geschaffen. Die übermäßig stolzen und arroganten Dunkelelfen lieben das Chaos, die Intrige und den Kampf – menschliche Gefühle wie Liebe, Dankbarkeit oder Mitleid sind ihnen völlig fremd. Ob mit Schwertern oder Magie – Drows sind unerbittliche und hinterlistige Gegner.

Im unterirdischen Reich der Drow sind Mord und Folter an der Tagesordnung. Wenn sich die Dunkelelfen nicht gerade auf einem Raubzug an die Oberfläche begeben, bekämpfen die Adelshäuser der mächtigsten und größten Stadt der Drows, Menzoberranzan, sich gegenseitig. Einzig die Priesterinnen der Spinnengöttin Lolth, die das Chaos verkörpert und die Gottheit der Drow ist, halten die Ordnung in dieser lebensfeindlichen Umgebung aufrecht. Besonders für Männer tödlich: In Menzoberranzan haben die Frauen das Sagen, und Männer stehen nur unwesentlich über Tiefengnomen und Grauzwergen sowie allen anderen minderwertigen Unterrassen.

Der wohl bekannteste Drow ist der aus der Art geschlagene Drizzt Do’Urden, dessen Lebensgeschichte man in Salvatores „Saga vom Dunkelelf“ nachlesen kann. Auch in diesem Fantasy-Klassiker stand die faszinierende Stadt Menzoberranzan im Mittelpunkt, die auch Ausgangsort der neuen sechsbändigen Reihe „Der Krieg der Spinnenkönigin“ ist. Allerdings diesmal nicht von Altmeister Salvatore: Jeder Band wurde von einem anderen Jungautoren geschrieben. Man kann davon ausgehen, dass damit auch ein gewisser Wettbewerb verbunden ist. Ich könnte mir gut vorstellen, dass ein oder zwei dieser Neulinge in Zukunft Salvatore beim Schreiben von Geschichten für die „Vergessenen Reiche“ unterstützen werden, wer weiß?

Die abgeschlossene Serie zeigt ein einschneidendes Ereignis in den Vergessenen Reichen aus Drow-Sicht: Die Göttin Lolth gewährt ihren Priesterinnen nicht mehr ihre Macht, erhört keine Gebete und offenbart sich ihnen nicht mehr. Ohne Lolths Gunst schwinden Macht und Einfluß der Priesterinnen, was zunächst verheimlicht werden kann. Doch bald erkennen immer mehr Feinde Menzoberranzans die prekäre Lage und machen sich auf, ihren Vorteil daraus zu ziehen. Auch die versklavten Kreaturen in den Elendsvierteln Menzoberranzans begehren auf, es kommt zur Revolte. Doch auch in dieser Lage halten die Drow nicht zusammen, einzelne Männer sehen gar den Zeitpunkt gekommen, das Matriarchat abzuschaffen, niedere Adelshäuser und ehrgeizige Drows die Chance, ihren der Magie beraubten Rivalen den Garaus zu machen…

„Der Krieg der Spinnenkönigin“ im Überblick:

Band 1: Zersetzung
Richard Lee Byers

Band 2: Empörung
Thomas M. Reid

Band 3: Verdammung
Richard Baker

Band 4: Zerstörung
Lisa Smedman

Band 5: Verheerung (November/Dezember 2004)
Philip Athans

Band 6: Auferstehung (Anfang 2005)
Mel Odom

Richard Lee Byers verschwendet keine Zeit, bereits auf den ersten Seiten werden die Fronten abgesteckt. Gromph Baenre, der Erzmagier von Menzoberranzan, streitet mit seiner Schwester Quenthel, der Herrin der Priesterinnen-Akademie Arach-Tinilith, um die Gunst ihrer Schwester Triel, die seit dem Tod der alten Baenre die Muttermatrone des mächtigsten Adelshauses der Stadt ist. Als einer der wenigen Eingeweihten weiß Gromph um die Misere der Priesterinnen und setzt einen Attentäter nach dem anderen auf Quenthel an, bis hin zu beschworenen Dämonen.

Quenthel selbst hat alle Hände voll zu tun mit ihren Priesterinnen, die den Glauben an Lolth und den Respekt vor ihrer Hohepriesterin verlieren, sie gar für die Misere verantwortlich machen. Die Botschafterin der Drowstadt Ched Nasads, Faeryl, wird derweil zu Unrecht bei Triel Baenre in Misskredit gebracht und fällt schließlich deren halbdämonischem Sohn Jeggred (für Insider: Jeggred ist ein Draegloth) in die Hände und wird auf grausamste Weise verhört.

Eher nebensächlich erscheint da die Aufgabe, die man dem Meistermagier Pharaun Mizzrym und dem Waffenmeister Ryld Argith übertragen hat: Sie sollen herausfinden, wohin sich eine beträchtliche Zahl männlicher Adeliger in letzter Zeit abgesetzt hat. Der für einen Drow ungewöhnlich gewitzte und respektlose Pharaun ist seinen weiblichen Artgenossen ein Dorn im Auge, während sein eher simpler Freund Ryld Argith im Unterreich seltene Charakterzüge aufweist: Der aus niedersten Verhältnisse stammende Ryld ist ihm gegenüber relativ treu und loyal – für einen Drow.

Das ungleiche Paar stolpert bei seinen Nachforschungen in ganz Menzoberranzan bald über die Wahrheit: Wie sie haben auch einige der verschwundenen Männer gemerkt, dass die Priesterinnen Lolths derzeit keine Magie wirken können. Diese planen mit Feinden der Stadt einen Umsturz – Ryld und Pharaun versuchen sich einzuschleichen, werden aber erkannt und geraten in höchste Gefahr. Der Aufstand beginnt, nach schweren Kämpfen und nur durch Pharauns Gewitzheit kann der Untergang der Stadt verhindert werden.

Triel Baenre ist beeindruckt von dieser Leistung und beschließt, den cleveren, aber aufsässigen Magier zusammen mit Ryld und dem Späher Valas Hune, von der berüchtigten Söldnertruppe Bregan D’Aerthe, auf eine Reise nach Ched Nasad zu schicken. Sie sollen prüfen, ob nur Menzoberranzan den Segen Lolths verloren hat, oder ob auch andere Dunkelelfenstädte davon betroffen sind, vor allem aber, wer sonst noch alles über die Schwäche der Drow weiß. Um ihre Interessen sicherzustellen schickt sie ihren kampfstarken Beschützer Jeggred sowie ihre Schwester Quenthel und die Botschafterin Ched Nasads, die rehabilitierte Faeryl, mit auf die Reise. Eine explosive Mischung, zu der ihr nicht ganz uneigennützig ihr Bruder Gromph geraten hat…

Richard Lee Byers wagt sich auf gefährliches Terrain: Die Charakterisierung eines Dunkelelfen endet bei faszinierten, aber weniger geübten Rollenspielern oft in einem eindimensional platten, bösartigen, schwertschwingenden oder zaubernden Ungeheuer. Für ein Buch eine Mischung, die gepflegte Langweile garantieren würde.

Doch er macht seine Sache nicht nur gut, er erweist sich als Kenner und Experte der Dunkelelfen-Welt. Die Autoren tauschten sich untereinander aus, wie man unschwer in den Dankesworten und Vorwörtern erkennen kann, so war z.B. Philip Athans, der Autor des fünften Bandes, bei den ersten vier Büchern Lektor. AD&D-konform hat sich Byers keinen einzigen Lapsus bei der Beschreibung magischer Fähigkeiten und sonstiger Charakteristiken der Drow geleistet. Im Gegenteil, Pharaun beim Zaubern zu erleben oder Ryld beim Kämpfen gefiel mir oft viel besser als die langsam öde werdende, immer relativ ähnliche und abgenutzte Kampf-Choreographie eines R.A. Salvatore. Einige Kämpfe weniger hätten dem Buch jedoch gut getan, denn glänzen kann Byers auch bei der Charakterisierung seiner Figuren: Die schwache neue Herrin der Stadt, Triel, die von der Krise völlig überfordert ist, ihr listiger Bruder und Berater Gromph sowie ihre besonders gemeine Schwester Quenthel als perfekte Verkörperung einer Hohepriesterin Lolths können gefallen.

Der eindeutige Star ist jedoch Pharaun: Der raffinierte und geistreiche Magier begeistert nicht nur mit seinen genialen magischen Zaubereinlagen. Seine schnippische Art und wie er sich dennoch stets den Zorn der meist höhergestellten weiblichen Opfer entziehen kann, sind einfach köstlich. Ryld ist ein ihn gut ergänzender Kompagnon, hier setzt aber auch meine Kritik an: Die beiden sind wirklich Freunde, etwas, das es bei Drows nicht geben dürfte. Zum Glück nicht so sehr, dass sie ihr Leben in ausweglosen Lagen für den anderen opfern würden, wie wir sehen werden… Aber dennoch, Ryld würde Pharaun nie zu seinem eigenen Vorteil drowtypisch in den Rücken fallen, etwas, das genauso unverständlich und grundlos ist wie ihre Freundschaft. Ich bin gespannt, wie sich das in den Folgenbänden entwickeln wird. Pharaun wird Ryld einmal in der Patsche sitzenlassen, ich bin gespannt, ob Ryld sich in Zukunft einmal revanchieren wird…

Das bunte Treiben mannigfaltiger Kreaturen auf den Basaren Menzoberranzans wird sehr gut eingefangen, exotischere Wesen als im Unterreich finden sich wohl nirgendwo anders in den Vergessenen Reichen. Für jeden Rollenspieler eine wahre Freude!

Nebenhandlungen wie die um Faeryl und den Auftritt Valas Hunes habe ich nur kurz beschrieben, auch habe ich nicht einmal annährend den ganzen Umfang der Verschwörungen in der Stadt angedeutet. Byers hat den verschlagenen Charakter der Drow, die sich selbst in höchster Gefahr noch gegenseitig übers Ohr hauen, einfach sehr gut eingefangen.

Von einem Jungautoren erwartet man nicht, dass er gleich ein tadellos lesbares Buch abliefert. Byers hat es geschafft. „Zersetzung“ hat keine Hänger, man wird immer gut unterhalten und möchte das Buch gar nicht aus der Hand legen. So etwas können selbst anerkannte Autoren nicht immer von sich behaupten. Natürlich kann er dabei vom faszinierenden Szenario der Drowstadt Menzoberranzan profitieren.

Ein weiterer Pluspunkt der Reihe ist die optisch ansprechende Gestaltung: Die Titelbilder zeigen meist Drow, deren weißes Haar im angenehmen Kontrast zu dem sonst blauschwarz/lila und dunkel gehaltenen Hintergrund steht. Sie sind allesamt sehr gut, vor allem passen sie perfekt zum Szenario, man erkennt oft einzelne Figuren aus dem betreffenden Roman wieder. Die Kapitel werden mit kruden drowischen Runen eingeleitet, die Absätze von kleinen Spinnensymbolen getrennt, der verschnörkelte Zeichensatz, der bei Kapitelüberschriften und auf dem Cover eingesetzt wird, trägt zum insgesamt vorzüglichen Erscheinungsbild bei.

Für die Übersetzung (Ralph Sander), Lektorat und Gestaltung zeichnen die Fantasy-Spezialisten von „Feder und Schwert“ verantwortlich, die im Gegensatz zu früheren Projekten hier ihr ganzes Können professionell in Szene setzen konnten. Nur ein paar Kleinigkeiten der Übersetzungen störten mich. Sogar eine Karte Menzoberranzans wurde nicht vergessen.

Alles in allem kann ich „Zersetzung“ Rollenspielern und Fans der Vergessenen Reiche nur empfehlen. Pharaun und Ryld genießen schon jetzt in Rollenspielerkreisen eine hohe Beliebtheit. Die Reihe ist bereits vollständig übersetzt und genau terminiert, der letzte Band erscheint im Oktober 2004. Neueinsteiger sollten vielleicht eher mit der „Saga vom Dunkelelf“ mit Drizzt Do’Urden beginnen, da Byers wie auch die anderen Autoren für Kenner schreibt und man ohne Vorkenntnisse schier erschlagen wird von unbekannten Details, vor allem dem doch recht eigenwilligen Wesen der Drowgesellschaft. Bleibt nur zu hoffen, dass die fünf anderen Autoren Byers‘ recht hohes Niveau halten können. Der letzte Tick fehlt ihm vielleicht noch, ich meine aber, hier wächst den Vergessenen Reichen ein würdiger möglicher Partner oder Nachfolger Salvatores heran.

Feder & Schwert:
http://www.feder-und-schwert.com/