Anne Eliot Crompton – Merlins Tochter

Der wievielte Artus/Merlin/Morgaine/…-Roman ist das eigentlich? An die zehn habe ich rezensiert, gelesen weit mehr. Die Highlights waren Mary Stewarts Merlin-Zyklus und natürlich MZBs „Die Nebel von Avalon“; den Tiefpunkt markierte Susan Shwartz’ „Der Wald von Broliande“. Und alle mischten die Karten neu, besetzen Rollen um, rückten Verhältnisse in ein anderes Licht…

Ein Beispiel: Wer ist Mordreds Mutter? Mary Stewart: Artus’ Halbschwester Morgause, die Frau des Königs Lot von Orkney. MZB: Artus’ Halbschwester Morgaine, die Priesterin von Avalon. Anne E. Crompton: Weder Morgause noch Morgaine, sondern Niviene, die Tochter Merlins (?) und der Herrin von See, Nimway (= Nimue). Niviene wird an Artus’ Hof irrtümlich Viviane genannt. In anderen Quellen sind Nimue, Niniane (= Niviene) und Viviane ein und dieselbe Person. Hingegen gibt es bei MZB eine Nimue als spätere Herrin vom See und Viviane als ihre Vorgängerin; diese ist die Schwester Igraines, also die Tante von Artus und Morgaine, und zugleich die Mutter Lancelots, welcher damit zum Cousin der beiden wird … während Cromptons Lancelot Nivienes Pflegebruder ist und ihre Morgan zwar Artus’ Halbschwester, aber nicht Mordreds Mutter, sondern seine Pflegemutter … Das klingt vielleicht auf den ersten Schreck verwirrend, macht aber einen Teil der Faszination des Artus-Stoffes aus.

Die Geschichte dieses Stoffes beginnt in der walisischen und bretonischen Literatur des 6. bis 11. Jahrhunderts, welche noch ältere Namen und Motive aus der vorchristlichen keltischen Mythologie aufgreift. Weitere Meilensteine sind die „Historia Regum Britanniae“ des Geoffrey von Monmouth (12. Jh.) und die Werke des französischen Dichters Chretien de Troyes sowie seiner Nachfolger, u. a. des Deutschen Wolfram von Eschenbach (12./13. Jh.). Den letzten mittelalterlichen Höhepunkt bildet Thomas Malorys „Le Morte Darthur“ (um 1480). Später nehmen sich die deutschen, französischen und englischen Romantiker des Stoffes an. Für das 20. Jahrhundert wäre z. B. Tankred Dorsts Drama „Merlin oder Das wüste Land“ (1981) zu nennen; auch der DDR-Schriftsteller Christoph Hein kleidete seine Systemkritik 1988 in das Stück „Die Ritter der Tafelrunde“ … Und die Straße reicht bis zu den x Bearbeitungen der ab den 60ern boomenden Fantasy. Die Zahl der Werke ist Legion (nicht gerechnet die Verfilmungen!). Es dürfte nicht viele andere Stoffe der Weltliteratur geben, die derart lange lebendig geblieben und derart oft variiert worden sind – was also macht die Faszination dieser Geschichte aus?

Ich möchte vier Gesichtspunkte nennen (es gibt sicher mehr). Zum einen erzählt sie vom kämpfenden Guten und von der nie versiegenden Hoffnung auf eine bessere Welt; Camelot und die Tafelrunde stehen als Symbole für eine gerechte Ordnung. Zum zweiten bewegt das Scheitern der Helden mehr als ein Happyend, das man wünscht, aber nie ganz glaubt; außerdem ist es ein großes Scheitern, das späteres Gelingen verheißt. Zum dritten leben ganz verschiedene Menschen in Artus’ Welt – wirkliche Menschen, die sich freuen und leiden, oft das Gute und oft das Böse wollen und mitunter, ohne es zu wollen, beides bewirken; Menschen, die Lust und Schmerz empfinden und in deren Geschichten sich alle Motive und Gefühle finden, die auch uns bewegen. Und zum Letzten reizt wohl gerade die Fülle der Literatur zu eigener Gestaltung: jedes Werk ein neues Experiment, ein besonderer Akzent; Figuren werden anders in Beziehung gesetzt und anders gedeutet, manche steigen zu Bedeutung empor, andere verschwinden fast ganz, doch der nächste Dichter korrigiert das wieder. Gestalten lassen sich hinzuerfinden, wie Prinz Eisenherz, kaum weniger berühmt als Lancelot – aber selbst Lancelot ist eine Erfindung, die im erst in den französischen und deutschen Romanen und Epen des 12. Jahrhunderts auftaucht, also nach bereits sechs Jahrhunderten geschriebener Artusliteratur. – So bietet sich dieser Stoff förmlich als Ausgangspunkt des Schreibens an. Er offeriert einerseits ein tradiertes Figurentableau, und Leser lieben Wiedererkennenseffekte. Diese erleichtern auch die Verständigung mit dem Autor, die bekannten Namen sind Metaphern, in deren Gebrauch ein leidlich belesener Mensch relativ sicher ist. Andererseits sind die Grenzen der Geschichte so weit gesteckt, dass jede Dichterin, jeder Dichter eigene Wege gehen und unter dem Deckmantel des Bekannten das darstellen kann, was sie / ihn besonders bewegt. Man kann den Stoff gerade wegen der Bekanntheit des Stoffes vergessen und sich auf das neu zu Sagende / neu Gesagte konzentrieren. Oder aber: Die Bekanntheit des Stoffes reizt zum Bruch, der Nachfragen, Nachdenken herausfordert.

Wie reiht sich nun Anne E. Cromptons Buch in diese Tradition ein? Vorweg genommen habe ich schon einige personelle Änderungen, auf die ich nicht weiter eingehen möchte; vorweg genommen sei gleichfalls, dass der Text gut lesbar ist. Psychologische oder soziale Tiefe weist er freilich wenig auf; gut 300 Seiten gestatten dies auch wohl kaum, Tiefe fängt bei diesem Stoff in MZB- oder Stewart-Dimensionen an, es sei denn, man verzichtete auf epische Breite und konzentrierte sich nur auf einen kleinen Ausschnitt der Saga. Wer aber, wie Crompton, einen Großteil der vollen Distanz absolvieren will – von Nivienes Geburt bis zu Artus’ Tod -, der kann sich an den Giganten des Subgenres nicht messen. Trotzdem ist ein gutes Buch entstanden.

Der erste Grund dafür ist ein inhaltlicher: Crompton rückt die weibliche Protagonistin ins Zentrum; alle anderen Figuren verblassen gegen diese eine, die als Ich-Erzählerin natürlich die Deutungshoheit (des – notwendig – eingeschränkten Blickwinkels) hat. Zugleich wendet sie den Kunstgriff an, ihre Heldin gelegentlich mittels Magie Schlüsselereignisse aus anderer Perspektive sehen zu lassen – Niviene versetzt sich in den Geist etwa von Mordred oder von Lancelot und gibt dann (ebenfalls in der Ich-Form) wieder, was diese erleben. Somit begreift sie einiges besser. Außerdem erschafft die Autorin ihre Hauptfigur als Elfe und betont immer wieder deren enge Beziehung zum Elfenleben, das sie durchaus originell schildert. Hier liegt der Akzent, der diesen Roman nicht verwechselbar macht. – Inhaltlich gelungen finde ich auch die (seltenen) Schilderungen der Welt der Menschen des frühen Mittelalters; Crompton bemüht sich sichtlich um Nähe zu den Wurzeln des Stoffes (Camelot als größeres Dorf mit einem Erdwall, die Ritter als an Knochen nagende, Schweiß und Sperma ausdünstende Männer). Sie will auch dem einfachen Volk („Träger der Menschengesellschaft“) gerecht werden, das episodisch auftaucht. – Gleichfalls hervorzuheben ist die Geschichte von Merlins Ende; das tradierte Motiv der Einschließung in den Baum deutet Crompton gelungen um, und auch das Resümee des Zauberers über die eigenen Fehler bringt Neues, vor allem in Bezug auf die Gralsgeschichte: Der Gral ist nur eine Erfindung Merlins, um die Leute vom Christentum abzubringen – was sich ins Gegenteil verkehrt.

Der zweite Grund des Gelingens liegt in der Form des Erzählens. Die einzelnen Kapitel (das beste und intensivste, das erste, ist auch das längste) bilden oft nahezu abgeschlossene Erzählungen, einige Sätze stellen zeitliche Distanzen und Verbindungen zum Vorhergehenden oder Folgenden klar. Diese Technik des Auslassens erlaubt es, sich auf die einzelne Szene stärker zu konzentrieren; allerdings muss der Leser vieles aus seiner Kenntnis des Mythos hinzutun, und manches kürzere Kapitel, wie das von Gweneveres und Lancelots Sünde und von der Rettung der Königin, folgt sehr dem Gewohnten. Unterscheidet man den Elfen- und den Menschen-Strang des Textes, so liegen die Stärken bei Ersterem, die Schwächen bei Letzterem (ausgenommen die Gildas-Kapitel, wo eine historische Figur des 6. Jahrhunderts, ein geschichtsschreibender Abt, als neuer Protagonist auftaucht und gut integriert wird).

Insgesamt: Große Literatur liegt hier nicht vor; auch die Sprache schmeckt bisweilen nach Klischee, und die Gedichte fügen sich selten organisch ein, überzeugen als Lyrik wenig (zumindest in der Übersetzung). Aber dennoch gehört dieses Buch zu den besseren Artus-Romanen und hat einiges Neues zu bieten; ich kann es also guten Gewissens empfehlen und werde auch in die beiden folgenden einen Blick werfen (schon aus Neugierde, was es nach Artus’ Tod noch zu sagen gibt).

Taschenbuch: 320 Seiten
Originaltitel: Merlin’s Harp
Aus dem Amerikanischen übertragen von Joachim Pente und Birgit Reß-Bohusch (die Gedichte)
www.piper.de

Peter Schünemann
Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins buchrezicenter.de veröffentlicht.