_Bewegend: Die Bekehrung des Geizhalses_
1843 am Heiligen Abend im weihnachtlichen London: Für den grimmigen Geldverleiher Ebenezer Scrooge ist Weihnachten nicht mehr als verabscheuungswürdiger „Humbug“. Erst die Besuche seines verstorbenen Teilhabers Jacob Marley sowie der Geister der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht bewirken eine Wandlung. Aus dem stadtbekannten Geizhals wird ein liebenswerter Menschenfreund. Scrooge beginnt, den wahren Wert des Weihnachtsfestes zu erkennen.
_Der Autor_
Charles Dickens (1817-70) ist mit ziemlicher Sicherheit der bedeutendste Romanschriftsteller in der englischen Sprache (mit der Betonung auf „Roman“). Zu seinen bedeutendsten Werken zählen die verfilmten Romane „Oliver Twist“, „David Copperfield“, „A Tale of Two Cities“, „Nicholas Nickleby“ und das düstere „Bleak House“ (1853). Er veröffentlichte praktisch alle seine Romane vorab in Zeitschriften und Magazinen und machte sie so extrem populär. Dickens letzter Roman „Das Geheimnis des Edwin Droodge“ blieb unvollendet, was zu mehreren Versuchen Anlass gab, ihn zu vollenden, u. a. vom Autorenpaar Fruttero/Lucentini.
Von „A Christmas Carol“ gibt es zahllose Versionen, natürlich auch für die Bühne. Ich selbst habe einmal das gesamte Stück von nur einem Mann aufgeführt gesehen: phänomenal!
_Die Sprecher / Die Inszenierung_
Erzähler und Geist 1: Friedrich Schoenfelder (dt. Stimme von Vincent Price, David Niven u.a.)
Ebenezer Scrooge: Christian Rode (dt. Stimme von Sean Connery und Christopher Lee)
Geist 2: Peer Augustinski (dt. Stimme von Robin Williams u.a.)
Geist 3 und William Fezziwig: Heinz Ostermann
Mrs. Dilber: Arianne Borbach (dt. Stimme von Uma Thurman, Catherine Zeta-Jones u.a.)
Mrs. Fezziwig: Regina Lemnitz (dt. Stimme von Kathy Bates, Whoopi Goldberg)
Annie Cratchit: Daniela Hoffmann (dt. Stimme von Julia Roberts)
Bob Cratchit: Herbert Schäfer
Martha Cratchit / Fanny Scrooge: Theresa Mertens
Tiny Tim Cratchit / Straßenjunge / Scrooge als Junge: Lucas Mertens
Belle / Julie: Manja Doering
Fred: Alexander Doering
Außerdem sind die deutschen Stimmen von Reese Witherspoon, Natalie Portman, Telly „Kojak“ Savalas, Ally McBeal und anderen zu hören.
Das Hörspiel wurde von Marc Gruppe geschrieben, der auch Regie führte. Er produzierte es zusammen mit Stephan Bosenius. Die schöne, filmische Musik trug Manuel Rösler bei, sie wurde von |Bionic Beats| aufgenommen und gemischt.
_Handlung_
London 1843. Es ist Heiligabend, der 24. Dezember, und der Geldverleiher Ebenezer Scrooge, Londons stadtbekannter Geizhals, ist ohne jeden Zweifel überzeugt davon, dass sein Teilhaber Jacob Marley seit vier Jahren unter der Erde ist. Dennoch erscheint ihm Marleys Geist an diesem Abend – mit einer besonderen Botschaft.
Alle Menschen wünschen einander „Fröhliche Weihnachten!“. Alle? Nein, Ebenezer Scrooge, 55, hält das Fest und alles, was damit zusammenhängt, für reine Geschäftemacherei und den allergrößten Humbug, den man sich vorstellen kann. Er ist eben eine Krämerseele. Seinem Buchhalter Bob Cratchit zahlt er einen Hungerlohn und der Mieterin Mrs. Wilkins droht er mit dem Rauswurf, sollte sie ihre Hypothekenrate nicht bezahlen können. Nicht nur dem Spendensammler und einem singenden Jungen weist er die Tür, sondern auch seinem eigenen Neffen Fred, der ihm einen Weihnachtsbaum bringen will. Scrooge hat gute Verwendung dafür: als Feuerholz.
Bob Cratchit erbittet von Scrooge, früher gehen zu dürfen, da es ja schließlich Weihnachten sei und er nach seinem kranken Sohn Tiny Tim und seiner Familie sehen müsse. Erst will Scrooge nichts davon hören, gibt dann aber nach. Aber Cratchit muss nacharbeiten: am 25.12., komme, was da wolle!
Nachdem alle gegangen sind, stößt Scrooge einen tiefen Seufzer aus und stöhnt erleichtert: „Endlich Ruhe!“
Zu früh gefreut. In diesem Moment taucht Jacob Marleys Geist auf. Er rasselt mit Ketten, die ihn zu einem Schreckgespenst machen. Die habe er für seine schlechten Taten verpasst bekommen. Aber er warnt Scrooge, seinen ehemaligen Teilhaber, eindringlich vor weiteren schlechten Taten, wie Scrooge sie heute begangen habe. „Bessere dich!“ Und er kündigt das Kommen dreier Geister an: um Mitternacht, um drei und um sechs Uhr morgens. Scrooge lacht ihn aus, und Marley verschwindet.
Schlag zwölfe erscheint im Wandschrank der Geist der vergangenen Weihnacht. Denn wir fragen uns natürlich, was für ein Kind Scrooge früher einmal war. Nach dem frühen Tod seiner Mutter lebte er vor allem im Internat und strengte sich an, um den Ansprüchen seines Vaters gerecht zu werden. Sogar an Heiligabend. Da holt ihn seine Schwester Fanny ab, damit er bei seiner Familie feiern kann. Jetzt kommen Scrooge erste Gewissensbisse wegen des Jungen, den er weggeschickt hat. Fanny starb als verheiratete Frau und hinterließ nur ein Kind: seinen Neffen Fred.
1811 lernte er bei dem lebenslustigen Kaufmann William Fezziwig in London. Sie feiern zusammen mit Mrs. Fezziwig und der Nichte Belle einen schönen familiären Heiligabend. Unterm Mistelzweig dürfen sich, wie es alte englische Sitte ist, Jungs und Mädels küssen – und das tun Ebenezer und Belle auch. Sie werden ein Paar, denn Mr. Fezziwig macht ihn zum Teilhaber und Partner in der Firma. Am 24.12.1817 jedoch beging Scrooge eine Riesendummheit: Er hatte seine Verlobte Belle schon fünf Jahre auf die Hochzeit warten lassen, und jetzt stellt sie ihn vor die Wahl. Er hört gar nicht richtig zu, sondern brütet über der Kasse. Ja, er fordert sogar Geld von ihrem Vater zurück, der bei ihm Schulden hat. Mit Schmerzen erinnert sich der gegenwärtige Scrooge an Belles Fortgehen.
Aber es soll für ihn noch viel schmerzhafter werden, als die Geister der gegenwärtigen und der zukünftigen Weihnacht bei ihm erscheinen und ihn mit auf die Geisterreise nehmen …
_Mein Eindruck_
Die Geschichte vom bekehrten Geizhals ist schon in ihrem Ursprung an Familien und Kinder gerichtet gewesen. Dickens schrieb sie, um die lesende, d.h. gebildete und besitzende Klasse auf die Misere der besitzlosen und ausgebeuteten Menschen in London und allgemein in ganz England aufmerksam zu machen. Zerbrochene oder unvollständige Familien, kranke oder verkrüppelte Kinder wie Tiny Tim gehören zu seinem Standardpersonal. Selbst der Straßenjunge, der Weihnachtslieder trällert, tut dies nicht aus Spaß oder Übermut, sondern um einen Penny oder zwei zusammenzukratzen – vielleicht ist das genug, um im Armenhaus zu überleben.
Dies ist das Lumpenproletariat, das die Industrielle Revolution erzeugt hat, als sie ihnen die traditionelle Landarbeit oder ihr Handwerk wegnahm, die entwurzelten Menschen in die Städte zog und dort in Elendsquartieren vegetieren ließ. Dieser Zustand dauerte nicht etwa nur fünf Jahre an, wie mancher heutige Zeitgenosse hoffen mag, sondern mindestens hundert Jahre. Überträgt man die ökonomischen Bedingungen auf Länder der Dritten Welt, so findet man sie heute in Lagos, Rio de Janeiro und Mexiko City. Und zunehmend wohl auch bei uns, denn der Bevölkerungsanteil unter der Armutsgrenze steigt nicht erst seit Hartz IV unaufhaltsam an.
|Das Patentrezept?|
Gibt es Hoffnung auf Besserung, hat sich Dickens sicherlich gefragt. Die Antwort ist sein „Christmas Carol“. Wenn sich nur ein schlechter Mensch zum Guten bekehrt, so ist das Leben und Glück von mindestens fünf oder sechs Familien gerettet. Dies ist die Wirkung, die Scrooges nächtliche Bekehrung auf seine unmittelbare Umgebung ausübt. Natürlich wird er von denkenden Menschen wie seinem Neffen Fred zunächst misstrauisch beäugt, was zu der recht lustigen Vermutung führt, dass Scrooge nun völlig durchgeknallt sein müsse.
Aber was ist es denn nun eigentlich, das Scrooges rasante Bekehrung herbeiführt? Er hat drei Grundsätze mit Marley geteilt, so etwa „Zeit ist Geld“ und „Weihnachten etc. ist Humbug“. Seine direkten und indirekt betroffenen Opfer halten ihm christliche Grundsätze entgegen, an die er zunächst nicht glaubt: „Man soll die Hoffnung nie aufgeben“, sagt Tiny Tim Cratchit, und „Es ist nie zu spät, sich zu ändern“. Denn erst Hoffnung und Liebe im Familienkreis scheinen das Glück zu garantieren. Aber was ist, wenn man nicht an sie glaubt – so wie Scrooge? Dann sind sie nämlich bedeutungslos.
|Wohl doch nicht!|
Es ist letzten Endes wohl der Schrecken, der ihm in die Glieder fährt, als er durch den Geist der künftigen Weihnacht sieht, dass er erstens selbst unbetrauert diese Welt verlassen wird und zwar schon bald – und zweitens, dass er ganz direkt am Tod von Tiny Tim, also einem unschuldigen Kind, schuld sein wird. Scrooge ist noch Christenmensch genug, um sich an einen Kern erinnern zu können, der Nächstenliebe kannte, und diesen zu reaktivieren.
Die spendablen Gesten, die er jedoch auf einmal an den Tag legt, verblüffen nicht nur seine Mitmenschen, sondern auch uns. Dieser Wandel kommt ganz schön abrupt. Aber weil die ganze Geschichte sowieso das Wesen eines Wunders und den Anstrich einer Parabel hat, kann man auch diesen plötzlichen Wandel hinnehmen, ohne sich gleich am Kopf zu kratzen.
_Die Sprecher / Die Inszenierung_
Die Macher dieser Hörspiele suchen ihren Vorteil im zunehmend schärfer werdenden Wettbewerb der Hörbuchproduktionen offensichtlich darin, dass sie dem Zuhörer nicht nur spannende Gruselunterhaltung bieten, sondern ihm dabei auch noch das Gefühl geben, in einem Film voller Hollywoodstars zu sitzen. Allerdings darf sich niemand auf vergangenen Lorbeeren ausruhen: bloßes Namedropping zieht nicht, und So-tun-als-ob ebenfalls nicht.
Die Sprecher, die vom Starruhm der synchronisierten Vorbilder zehren, müssen selbst ebenfalls ihre erworbenen Sprechfähigkeiten in die Waagschale werfen. Zum Glück machen sie dies in hervorragender und glaubwürdiger Weise. Statt gewisse Anfänger zu engagieren, die mangels Erfahrung bei den zahlreichen emotionalen Szenen unter- oder übertreiben könnten, beruht der Erfolg dieses Hörspielverlags ganz wesentlich darauf, dass hier zumeist langjährige Profis mit schlafwandlerischer Sicherheit ihre Sätze vorzutragen wissen. (Wir wissen allerdings nicht, welche Pannen ihnen dabei unterlaufen sind. Fest steht aber, dass keine Pannen oder Fehler zu hören sind.)
|Musik und Geräusche|
Die Geräusche sind genau die gleichen, wie man sie in einem realistischen Spielfilm erwarten würde. Da heult und seufzt der Wind durch die Ritzen der Fenster, kratzt der Gänsekiel von Bob Cratchit, klirren Ketten und klingen Gläser, läuten die Kirchenglocken.
Aber gewisse Sounds werden auch effektvoll überhöht. Da heult nämlich ständig der Wintersturm auf der Straße vor dem Haus von Scrooge. Und wenn der Furcht erregende Geist der künftigen Weihnacht auftritt wie der leibhaftige Tod, so besitzt er keine natürliche Stimme, sondern eine elektronisch verfremdete, die dem Zuhörer Schauder verursacht. Auch die Stimmen aus Scrooges Erinnerung erlangen durch Halleffekte eine ganz andere Qualität, die viel eindringlicher wirkt als normale Sprechakte.
Die Musik gibt sehr genau die vorherrschende Stimmung einer Szene wieder; so ist sie zunächst melancholisch, als vom Tode Marleys erzählt wird, wird aber sofort fröhlich und festlich, als Heiligabend gefeiert wird – außer natürlich von Scrooge. Sie wird wehmütig, als der Geizkragen sich selbst als zehnjährigen Jungen am 24.12.1798 sehen kann. Der stimmungsmäßige Tiefpunkt wird mit der Enthüllung von Scrooges potenziellem Sterbedatum auf seinem Grabstein erreicht: 24.12.1844. Zum Glück lässt sich Scrooges durch diesen Schrecken bekehren, so dass am Schluss nicht die Trauerglocken läuten, sondern eine fröhliche und zuversichtliche Hymne das Finale bestreitet.
_Unterm Strich_
Das Hörspiel zu dem bekannten Weihnachtsklassiker von Charles Dickens, sehr aufwendig produziert, unterhält den Zuhörer wie ein schöner Spielfilm, der das Anliegen, das Gute im Zuschauer zu wecken, zu transportieren weiß. Die moralische Botschaft, die schon im Original steckt, wird auch im Hörspiel recht dick aufgetragen. Und da mögen die Schauspieler noch so gekonnt sprechen, die Geräusche noch so echt erscheinen und die Musik noch so emotional sein – dieses Werk spricht in erster Linie Familien und Kinder an, nicht aber eingefleischte Singles und Weihnachtsboykottierer. Diese dürften sich wie Scrooge wehmütig daran erinnern, wie schön es einstmals war, als sie noch Teil einer Familie waren. Vielleicht trägt das Hörspiel dazu bei, sie wieder in die menschliche Gemeinschaft zurückzuführen. Denn: „zu zweit ist man weniger allein“.
|Originaltitel: A christmas carol in prose, 1843
120 Minuten auf 2 CDs|