Gerard Donovan – Winter in Maine

Inhalt:

Seit Jahr und Tag lebt Julius Winsome in der einsamen Hütte in den Wäldern von Maine, die bereits sein Großvater und später auch seine Familie bewohnt hatte. Sein Mutter verlor er bereits bei der Geburt, seinen Vater als junger Erwachsener, sein Selbstvertrauen jedoch nie. Mit seinem Hund Hobbes, einem gewaltigen Bucharchiv mit 3282 teils raren Exemplaren und einer gewaltigen Grünanlage vertreibt er sich die Zeit, bevor der Winter über die Landschaft einbricht und Zeit zur inneren Einkehr bietet.

Ende Oktober deuten sich die ersten Zeichen der Kältemonate bereits an; doch diesmal ist alles anders: Julius vernimmt außerhalb der Hütte einen Schuss und entdeckt kurz darauf seinen schwer verwundeten Hund. Hobbes stirbt noch in der Tierarztpraxis und wird unter Trauer von seinem Herrchen begraben. In der Hoffnung, den Täter mit einem Aushang aufzuspüren, begibt sich Winsome wenig später in die Stadt. Doch die Bevölkerung des kleinen Provinzkaffs Fort Kent beschmiert sein Plakat und macht sich über Julius‘ Ansinnen lustig.

Für den belesenen, an sich so stillen und besonnen Mann ist dies definitiv zu viel. Winsome packt das Gewehr, das sein Großvater aus dem Ersten Weltkrieg hinterlassen hat, und zieht in den Wald – dorthin, wo sich derjenige herumtreiben muss, der es kaltblütig auf seinen Hund abgesehen hatte. Doch auch die Begegnung mit Claire, die ihm einen Sommer lang Gesellschaft geleistet hat, sich dann aber doch für das städtische Leben mit ihrem Geliebten Troy entschieden hat, nagt hart am Wesen des inzwischen verbitterten Waldbewohners …

_Persönlicher Eindruck:_

Was für ein Geschenk für den hiesigen Buchmarkt! Ein stilles Buch, sehr poetisch, bedacht, gemächlich im Tempo, aber stets in Harmonie mit sich und seinen Charakteren, melancholisch und herzlich, dann aber mit einem radikalen Schlag brutal und unverhofft hart und voller kaum geahnter Überraschungen. Die Geschichte des Julius Winsome gibt Stoff für einen bösartigen Psycho-Thriller, wäre gleichzeitig ein prima Thema für eine Profiler-Story, könnte letzten Endes in so vielen völlig unterschiedlichen Varianten verarbeitet werden, schenkt sich aber schließlich alles überflüssige Aufsehen und lässt sich bewusst auf die große Kraft der Worte reduzieren, die Autor Gerard Donovan wählt.

Das bedrückende Bild, das er hier zeichnet, ist in seiner Präsentation so schlicht und einfach, sitzt aber dennoch unheimlich tief, da es Donovan einfach unheimlich gut gelingt, die menschlichen Züge seines Protagonisten über seine zunehmenden Verfehlungen zu stellen. Winsome wird sicherlich als Eigenbrödler vorgestellt, aber auch als ein Mensch, der mit sich im Reinen ist und seine Zukunft bereits bis ins Ende geplant hat. Für ihn bedeutet sein Wohnsitz, seine Heimat, ja sein gesamtes Dasein alles – die Jagdhütte in den Wäldern ist sein heimlicher Palast, geschmückt in literarischen Schätzen und einer Familiengeschichte, die ihresgleichen sucht -, und diesen Input nutzt der Autor später auch immer effizienter für den Plot. In Nebensätzen, manchmal aber auch in ganzen Kapiteln, erfährt man, was dem Protagonisten widerfahren ist, welch inniges Verhältnis er zu seinem Vater pflegte, von welcher Bedeutung die gesammelten literarischen Werke in der Hütte sind, warum er sich mit seinen Shakespeare-Kenntnissen ein bisschen Souveränität verschafft und am Ende auch, welche Rolle Claire bei alldem spielt.

Claire kam vor vier Jahren im Sommer, verlief sich in Julius‘ Hütte, wurde ihm vertrauter und lebte eine Zeit bei ihm – bis sie nach einem schicksalhaften Tag plötzlich verschwand und nicht wiederkehrte. Dieser Tag zehrt heute noch am Waldbewohner Winsome, dem einsamen Kerl, dem die plötzliche Zuneigung schon fast über den Kopf gewachsen war, und die er jetzt umso mehr vermisst. Ausgerechnet jetzt kommt es zu einem unerwarteten Wiedersehen unter weniger schönen Umständen. Gleichzeitig lernt Julius auch Troy kennen, den neuen Geliebten, der gar nicht fassen kann, dass Claire ‚mit dem da‘ zusammen war – und schon wartet im stillen Kämmerlein von Winsomes Seele der nächste Konflikte, der sich diesmal aber nicht mehr länger aufstauen lässt.

Völlig überraschend folgt nämlich nach den immerzu harmonischen Beschreibungen aus der Vergangenheit und der sphärisch sehr dicht aufgemalten, liebevoll idyllisch beschriebenen Situationen in Julius‘ Haus der radikale Gegenschlag. In der Hoffnung, den Mörder seines Hundes zu erwischen, legt Winsome bei einem Streifzug durch den Wald auf einen Jäger an und bringt diesen zur Strecke. Und dabei soll es nicht bleiben, so dass der gesamte Roman mit einem Mal eine ganz andere, düstere Nuance gewinnt, die man ihm zunächst gar nicht zutraut.

Ja, und es ist am Ende genau dieser Kontrast zwischen stiller Harmonie und dem aufgewühlt, schier unbedachten Handeln des Hauptakteurs, der dieses Buch so eigenartig, aber eben auch unbeschreiblich anziehend machen. Es zeigt Phasen, in denen man am liebsten direkt auf dem Hängestuhl des verstorbenen Großvaters Platz nehmen, ins Buchregal greifen und vor dem Ofen mit einer gestopften Pfeife den Winter genießen möchte. Und dann folgen diese Momente, in denen einfach Dinge geschehen, die außerhalb jeglicher Kontrolle liegen, irgendwie nachvollziehbar wirken, dann aber doch so herb und unglaublich sind, dass man kaum verstehen kann, wie in einem solch ruhigen Menschen solche fast schon selbstverständlich anmutenden Gewaltakte heranreifen und zur Tat werden können.

Doch, und das ist entscheidend, gerade im Hinblick auf die Skepsis, die womöglich der Klappentext und der kurze Storyanriss weiter oben auslösen werden: Diese kurze, bewegende Erzählung geht unter die Haut und hat so viele faszinierende Passagen, dass man sich ihr bedingungslos hingibt und sich in ihr verliert, trotz ihrer offenkundigen (inhaltlichen) Schlichtheit. Aber vielleicht ist es ja auch gerade das, was den Leser ergreift. „Winter in Maine“ hat wirklich eine Menge ausgelöst und bewiesen, dass auch eine eigentlich so einfache, aber eben auch sehr unkonventionelle Geschichte mehr Emotionen auslösen kann als vieles andere, was als emotional angepriesen wird. Dass die englische Presse das Buch 2006 als Jahrgangsbestes auszeichnete, ist in diesem Zusammenhang auch nicht mehr verwunderlich.

208 Seiten, gebunden
Originaltitel: Julius Winsome
Übersetzung von Thomas Gunkel
ISBN-13: 978-3-630-87272-8
http://www.luchterhand-literaturverlag.de