Gillian Flynn – Cry Baby

Die Werbekampagne des Scherz-Verlages für den Debütroman der hübschen Autorin Gillian Flynn war groß und edel angelegt: Im Börsenblatt blickte einem eine dunkelrote zweiseitige Anzeige entgegen, das Buch wird in einem ansprechend bedruckten Pappkarton und mit einem schicken Schutzumschlag angeliefert und ist schon auf den ersten Blick ein Hingucker. Doch auch wenn man in das Buch hineinschaut und -liest, wird man feststellen, dass einem nicht zu viel versprochen wird durch die schicke Optik, sondern dass dieses Werk in der Tat etwas ganz Besonderes ist…

Die Journalistin Camille Preaker wird von ihrem Chef zurück in die eigentlich so beschauliche Heimat Wind Gap geschickt, die von zwei brutalen Verbrechen heimgesucht wurde, über die Camille nun exklusiv berichten soll. Ihr Chefredakteur Frank Curry verspricht sich von dieser Insiderstory Großes für seine Zeitung. Allerdings scheint er nicht zu ahnen, was er Camille damit antut, sie zurück nach Wind Gap zu schicken, wo sie zu ihrer kalten Mutter ziehen muss, die den Tod von Camilles Schwester Marian immer noch nicht verwunden hat.

In Wind Gap angekommen, platzt Camille in die verzweifelte Suche nach der verschwundenen Natalie. Doch niemand scheint große Hoffnungen zu hegen, das zehnjährige Mädchen lebend aufzufinden, da vor einigen Monaten bereits die kleine Ann Nash brutal ermordet wurde. Und tatsächlich dauert es nicht lange, bis auch Natalie erdrosselt aufgefunden wird. Die Polizei und auch die Verstärkung aus Kansas City – Richard Willis – tappen im Dunkeln. Niemand scheint das Verschwinden der beiden Mädchen beobachtet zu haben, sodass davon auszugehen ist, dass nur ein Einheimischer die Mädchen ungesehen entführt haben kann. Als der kleine James Capisi Camille erzählt, dass eine Frau in Weiß Natalie mitgenommen hat, gerät sie ins Zweifeln – kann wirklich eine Frau dieses brutale Verbrechen begangen haben? Kann eine Frau die beiden Mädchen erdrosselt und ihnen alle Zähne gezogen haben? Es klingt unglaublich, sodass weder die Polizei noch Camille in diese Richtung weiterdenken.

Doch Camille hat ohnehin ganz andere Sorgen: Die Konfrontation mit ihrer Mutter und ihrer Vergangenheit, die sie nur zu gerne hinter sich gelassen hätte, hinterlässt ihre Spuren. Camille ertränkt ihre Sorgen und Probleme im Bourbon, ihre alten Narben brennen stärker als je zuvor. Denn was in Wind Gap (fast) niemand ahnt: Camilles ganzer Körper ist übersäht mit Narben, die sie sich selbst über Jahre hinweg zugefügt hat. Ein geritztes Wort neben dem anderen überzieht Camilles Haut, nur ein kleiner Kreis auf dem Rücken, an den sie nicht heranreicht, ist glatt und unversehrt. Auch die Begegnung mit ihrer Halbschwester Amma, die von ihrer Mutter Adora angebetet wird, irritiert Camille. Während ihr zunächst von Amma nur Hass und Verachtung entgegenschlagen, nähern die beiden sich schließlich einander an. Doch je länger Camille im Hause ihrer Mutter wohnt, umso mehr wird ihre Reise in die Vergangenheit zum Horrortrip …

Gillian Flynn präsentiert uns mit „Cry Baby“ ein nicht nur optisch herausragendes Buch, sondern auch eines, das inhaltlich zu überzeugen weiß. Zunächst ist die Zielrichtung nicht ganz klar; wir begleiten Camille in ihre alte Heimat und wissen noch nicht, welche Überwindung sie diese Reise kostet, da wir nichts von den Narben auf ihrer Haut und auf ihrer Seele ahnen. Je länger wir Camille allerdings bei ihren Nachforschungen zur Seite stehen, umso mehr lernen wir sie kennen und umso eindringlicher schildert uns Flynn Camilles Vergangenheit. Zunächst lernen wir Camille Preaker als engagierte Journalistin kennen und glauben, dass sie für eine wenig aussichtsreiche Story nur keine Lust hat, in die Provinz zurückzukehren, doch mit der Zeit gewährt uns Camille immer mehr Blicke in ihre Seele. Nach und nach erahnen wir die seelischen Qualen, die sie in Wind Gap ausstehen muss. Wo auch immer sie hingeht, wen auch immer sie zu den beiden Mädchenmorden befragt, immer trifft sie auf ihre kalte Mutter, die ihr keine Liebe, sondern nur Verachtung entgegenbringt und die versucht, Camille aus Wind Gap zu vertreiben und die ihr immer wieder das Leben schwermacht.

Auf den ersten Blick scheint „Cry Baby“ ein Psychothriller wie viele andere zu sein; eingeleitet wird das Buch mit zwei brutalen Mädchenmorden, die nun aufzuklären sind. Doch im Gegensatz zu konventionellen Psychothrillern geht es hier nicht so sehr um die Aufklärung der Verbrechen, sondern um die Nachforschungen, die eine Journalistin anzustellen hat, die gegen ihren Willen in ihre Heimatstadt zurückgeschickt wird. Camille macht sich zwar auf den Weg, Informationen für ihre Story zu finden, doch im Mittelpunkt steht vielmehr die Konfrontation mit ihrer Mutter und ihrer Vergangenheit. Vor vielen Jahren ist Camilles kleine Schwester Marian nach Jahren der Krankheit gestorben. Nach dem Tod ihrer geliebten Schwester begann Camille mit den Selbstverletzungen, da es niemanden in ihrer Familie gab, der ihr in ihrer Trauer beigestanden hat. Seitdem ist nichts mehr wie zuvor und Camille muss nun erkennen, dass ihre junge und hübsche Halbschwester Amma Marians Platz im Herzen der Mutter eingenommen hat.

Die Charakterdarstellung, die Gillian Flynn hier schafft, sorgt für deutlich mehr Grauen als die Mädchenmorde selbst, denn der große Hass, der Camille von Adora und Amma entgegenschlägt, und der zu weiteren Selbstverletzungen führt, ist brutaler als so manches Verbrechen. Gillian Flynn ermöglicht uns einen ganz genauen Blick in Camilles Seele, der Verzweiflung, Schmerz, Wut und den Wunsch zu verschwinden offenbart. Wir sehen eine tief verletzte Frau, die es kaum schafft, ihr Leben zu meistern, die sich so viele Narben zugefügt hat, dass sie nun kein normales Leben mehr führen kann, und die sich immer fragt, wie ihr Leben hätte verlaufen können, wenn Marian damals nicht gestorben wäre. Und ihre Mutter verpasst keine Gelegenheit, Camille weiter zu verletzen, beispielsweise bei einer Einkaufstour, als sie ihre Tochter mit einem tief ausgeschnittenen Kleid in die Umkleidekabine schickt, obwohl sie doch weiß, was das Dekolleté offenbaren würde. Jede weitere Verletzung vonseiten ihrer Mutter tut nicht nur Camille weh, sondern versetzt dem Leser einen Stich ins Herz.

Das Grauen, das Gillian Flynn in ihrem Debütroman entwickelt, könnte kaum schlimmer sein, doch ist das Schlimmste noch nicht überstanden. Obwohl die Ermittlungen im Mordfall der beiden Mädchen zwar eher im Hintergrund stehen, werden die beiden Verbrechen natürlich am Ende doch aufgeklärt. Und dieser Aufklärung nähern wir uns ganz langsam und ganz behutsam. Camille ist es, die allmählich begreift, was in Wind Gap tatsächlich vorgefallen ist, sodass wir hautnah dabei sind, wenn der Mörder der beiden Mädchen gefunden wird. Was uns Flynn hier präsentiert, ist so abartig, wie man es sich kaum hätte vorstellen können. „Cry Baby“ beginnt zwar zunächst wie viele andere Psychothriller auch, was uns dann aber geboten wird, das bekommen wir nicht allzu oft zu lesen.

So bleibt am Schluss festzuhalten, dass Gillian Flynns Debütroman nicht nur durch die ansprechende Optik besticht, sondern auch durch eine packende Geschichte voller Grauen. Im Mittelpunkt steht Camille Preaker, die wir in jeder Situation begleiten und die wir daher sehr genau kennen lernen dürfen. Wir blicken ganz tief in ihre Seele und denken jeden ihrer Gedanken mit. Hier verbirgt sich das wirkliche Grauen in diesem Psychothriller, der durch eine gelungene und eindringliche Figurenzeichnung, durch einen stetig ansteigenden Spannungsbogen und vor allem durch ein Buchende überzeugen kann, das es in sich hat. Dieser Debütroman macht wirklich Lust auf mehr, sodass man gespannt sein darf, wie Gillian Flynn diesem Erstlingswerk weitere hinzufügen wird.

Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
Originaltitel: Sharp Objekcts
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