Frauke Buchholz – Frostmond. Montreal-Krimi (Ted Garner 01)

Philosophischer Montreal-Thriller

In den Tiefen Kanadas werden Verbrechen an indigenen Frauen aufgedeckt. Seit Jahren verschwinden junge Frauen indigener Herkunft spurlos entlang des Transcanada-Highways. Für die Polizei scheinen diese Verbrechen keine Priorität zu haben. Doch als die 15-jährige Jeanette Maskisin mitten in Montreal tot aus dem Fluss gefischt wird und die Medien darüber groß berichten, werden die Ermittler Jean-Baptiste LeRoux und Ted Garner auf den Fall angesetzt.

Ihre erste Anlaufstelle ist ein Cree-Reservat im hohen Norden Quebecs, aus dem Jeanette stammt. Dort stoßen die Polizisten auf Ablehnung, denn aus Sicht der First-Nation-Familien hat sich die Polizei nie für die vermissten Frauen interessiert. Die Ermittler kommen immer mehr in Bedrängnis, denn es werden weitere Opfer befürchtet, und auch der Täter wird zur Zielscheibe – jemand hat blutige Rache geschworen.… (korrigierte Verlagsinfo)

Die Autorin

Frauke Buchholz wurde 1960 in der Nähe von Düsseldorf geboren. Sie studierte Anglistik und Romanistik und promovierte über ­zeitgenössische indigene Literatur. Sie liebt das Reisen und fremde Kulturen und hat einige Zeit in einem Cree-Reservat in Kanada verbracht. Heute lebt sie in Aachen und schreibt Romane und Kurzgeschichten, die in zahlreichen Anthologien erschienen sind. Ihre Geschichte »Barfly« wurde 2020 mit dem 1. Preis der Gruppe 48 ausgezeichnet. www.frauke-buchholz.com.

Handlung

Die Stadt Montreal liegt direkt am St.-Lorenz-Strom, der die Oberen Seen mit dem Atlantik verbindet. Québec, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, war 1608 die erste Gründung der Franzosen in der Neuen Welt, heute ist Montreal eine französischsprachige Millionenstadt. Trotz aller Traditionsbewusstheit kämpft auch diese Stadt mit modernen Problemen: Drogen, Prostitution und Mord. Als die grausam zugerichtete Wasserleiche einer jungen indigenen Frau an einem Restaurant angeschwemmt wird, ist der Inhaber geschockt.

Die Serie

Das hat Directeur Morel gerade noch gefehlt. Der Chef der Kripo steht unter schwerem politischen Druck. Eine Mordserie zieht sich seit fünf Jahren entlang des Transcanada Highways. Fahndungserfolg? Gleich null. Die junge Tote ist eines von mehr als einem Dutzend Mordopfern. Kein Wunder, wenn die Vertreter der Ureinwohner sowohl auf lokaler als auch nationaler Ebene sauer sind und politischen Druck ausüben: Den Eroberern, die ihnen ihr Land stahlen, seien sie piepegal. Das können die Politiker nicht auf sich sitzen lassen. Die Sensationsblätter pfeifen es von den Dächern, dass bald Köpfe rollen werden.

Der Auftrag

Also schaltet Morel einen seiner Leute ein. Jean-Baptiste LeRoux, der seinen Job insgeheim hasst, soll sich mit dem Profiler Ted Garner, der von der Royal Canadian Mounted Police in Saskatchewan kommt, zusammentun und den Fall endlich knacken. LeRoux dreht sich beim Anblick frischer Leichen regelmäßig der Magen um. Obwohl er mit der Buchhändlerin Sophie kinderlos verheiratet ist, geht er in jeder Mittagspause fremd, um sich bei Céline abzureagieren. Garner ist hingegen zufrieden verheiratet und hat zwei Kinder. Gefühle sind für ihn nichts. Zusammen würden sie sich hervorragend ergänzen, aber Garner hasst Froschfresser, wohingegen LeRoux seinen Job hasst und endlich aufhören will. Gleich am ersten privaten Abend macht Sophie LeRoux Ted Avancen. Als ihr Mann das merkt, hasst er Garner noch mehr.

Das Opfer

Mehr durch Zufall findet Garner heraus, wer die Tote ist: Jeanette aus dem Reservat Niskawini. Ihr Familienname lautet Maskisin. Das Cree-Reservat liegt weit im Norden, und das dynamische Duo muss dorthin den letzten Flug vor dem Wintereinbruch nehmen. Im Frachtraum befindet sich Jeanettes Sarg. Der Vertreter der Stammespolizei, ein gewisser Voyageur, zeigt sich wenig kooperativ, denn auch er weiß, was ein Indianer von den Weißen zu erwarten hat: Verachtung, Unterdrückung und Ausbeutung. Die meisten Cree, die die Polizisten befragen, sind abweisende Alkoholiker. Und Jeanettes Lehrer McFallon entpuppt sich als ihr heimlicher Verehrer – wenn nicht noch Schlimmeres.

Jeanettes Beerdigung ist ein Trauerspiel, und nicht alle Verwandten sind gekommen. Der letzte Mensch, der Jeannette vor ihrem Verschwinden gesehen hat, ist ihr Cousin Leon. Zu ihm flüchtete sie vor ihrem prügelnden Vater, stahl ihm aber auch sein letztes Geld – für den Bus nach Montreal, erzählt Leon. Er ist ein Traditionalist, der in den tiefen Wäldern Fallen stellt und die Felle der Pelztiere gewinnbringend verkauft. Auf diese Weise hat er sich das Geld für ein 1000 Dollar teures Gewehr zusammensparen können. Er geht auch regelmäßig auf den Powwow-Trail, der ihn bis nach Montana führt. Er zeigt den Cops den Brief, den Jeanette ihm verzweifelt aus Montreal geschickt hat, nicht.

Vorzeichen

Als die beiden Polizisten fast ergebnislos Jeanettes Spur nach Montreal folgen, macht sich Leon mit seinem zerlegten Gewehr selbst auf den Weg. Er hat seinen Fehler eingesehen: Er hätte dem Hilferuf seiner Cousine Folge leisten müssen. Denn sie ist allen Anzeichen nach in die Hände der Großen Schlange gefallen: Le Serpent. Und genau so heißt auch der Nachtklub, in dem sie zuletzt arbeiten musste, bevor jemand ihr eine Kugel durch den Kopf jagte…

Mein Eindruck

Der Roman ist in einem sachlichen Ton gehalten, wie man ihn von einem Chandler-Krimi erwarten würde – allerdings ohne die kühnen Metaphern des Meisters. Die Geschichte wird aus drei Blickwinkeln erzählt: Garner, LeRoux und ein gewisser „Frostmond“. Bei Letzterem handelt es sich um Leon Maskisins subjektive Perspektive. Für die Eigenart des Romans ist dieser Blickwinkel sehr wichtig, denn Leon ist nicht nur ein Cree, sondern auch noch ein Cree-Traditionalist, deine eisernen Grundsätze, die ihm sein Großvater, vermittelt hat, vertritt: kein Alkohol, Glaube an die Geister der Verstorbenen (wie Jeanette) und keine Gnade mit dem Bösen und seinen zahlreichen Vertretern. Obendrein ist Leon ein ausgezeichneter Jäger.

Afghanistan

Allmählich kommen Garner und LeRoux mindestens zwei Tätern auf die Spur. Dabei hilft Garner der Umstand, dass er Psychologie studiert hat und auf eine frühere Kommilitonin trifft, die nun Soldaten posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) betreut. Auf höchst illegale Weise überlässt sie ihm eine ganz bestimmte Akte: bingo! Der gesuchte Afghanistan-Veteran ist der Killer, der seine indianischen Opfer entlang des Transcanada Highway entsorgt. Garner und LeRoux stellen den Mann vor einem Motel. Doch mit dem unvermittelten Beschuss hat keiner von ihnen gerechnet…

Die Große Schlange

Nun ist LeRoux auf sich allein gestellt. Er sucht weiterhin Zeuginnen im Milieu der indianischen Prostituierten von Montreal. Seit seine Geliebte Celine wie vom Erdboden verschluckt ist, sucht er andere Frauen auf, die ihm Befriedigung verschaffen. Eines Nachts ruft eine leise, ächzende Stimme auf seinem Handy an: Es ist Leon. Er gibt ihm lediglich die Adresse des Nachtklubs Le Serpent durch. Offenbar hat es ihn erwischt. Diese beschissen Roten, flucht LeRoux – und dreht sich auf die andere Seite. Doch die Sache lässt ihm keine Ruhe. Immerhin ist es ein Hinweis, oder? Doch als er im Klub auftaucht, wo man Seinesgleichen schon kennt, wird er sofort unter Drogen gesetzt…

Die Szenen mit Leon sind zwar nicht von Erfolg gekrönt, doch der junge Cree überlebt und stellt den Besitzern von Le Serpent eine raffinierte Falle, die eines professionellen Jägers würdig ist. Das einzige, was ihn selbst fast das Leben kostet, ist sein jugendlicher Übermut und sein Hass auf die Verbrecher. Doch um Jeanettes wahren Mörder zur Strecke zu bringen, ist noch wesentlich mehr nötig.

Schopenhauer

Dieses Trio arbeitet in einem detailliert choreografierten Plot zusammen, ohne es eigentlich zu wollen. Unfreiwillig muss LeRoux dem gehassten Nebenbuhler zu Hilfe eilen, und LeRoux, der Indianer verachtet, hilft indirekt Leon, der ihm zuvor einen Tipp gegeben hat – und gerät dabei in eine tödliche Falle. Begegnungen sind das unterschwellige Thema des Romans. Es wird mehrfach von Sophie LeRoux und Ted Garner zur Sprache gebracht, denn zufällig (?) lieben beide Arthur Schopenhauer und finden einer in dem anderen die ideale Ergänzung (was geradezu nach einer Fortsetzung schreit).

Die Philosophie des alten deutschen Denkers erklärt, kurz gesagt, die Notwendigkeit von scheinbar zufälligen Begegnungen. Nur so wird verständlich, dass die drei „Ermittler“ mehr oder weniger über ihren Erfolg stolpern, aber die anschließende Begegnung überleben, muss sich erst noch erweisen. Die Liebe, die zwischen Garner und Sophie entbrennt, wird konterkariert durch die drei tödlichen Auseinandersetzungen, in die Garner, LeRoux und Leon geraten. Auch diese haben etwas Zwangsläufiges an sich, besonders Leons Showdown mit den Killern aus dem Le Serpent. Denn er hat den Weg eines mythologischen Cree-Helden gewählt.

Die Welt der Cree

Apropos Große Schlange: Nach dem Glauben der Cree lauert sie im Wasser auf ihre Beute. Diese Beschreibung schickt Jeanette ihrem Cousin in ihrem letzten Brief. Eigentlich hätte er sofort handeln müssen. Doch er hat noch wachsen müssen, um in die Rolle des Helden Wesakechak (S. 284) schlüpfen zu können. Denn es ist schon gehöriger Mut nötig, um sich mit der Welt der Weißen wagen zu können und es mit deren Geistern aufzunehmen. Diese Geister sind in Garner und LeRoux verkörpert: voller Selbsthass, ohne Liebe und voll Hass auf die Indianer.

Dass Leon das traditionelle Leben der Cree für sich wiederentdeckt hat, stellt einen starken Kontrast zu dem Leben dar, das Jeanettes Eltern und viele ihrer Verwandten leben müssen: Sie sind vom Alkohol und anderen Drogen abhängig, um nicht mehr ihr Elend sehen zu können. Da Alkohol enthemmt, hat ihr Vater seine Tochter Jeanette regelmäßig verprügelt. Sie wollte weg. Als auch noch ihr Lehrer ihr nachstellte, wurde der Gedanke an Flucht, zum Plan. Leon versorgte sie wider Willen mit dem Geld, das sie für das Busticket nach Montreal brauchte.

Jeanettes Schicksal wird langsam Schritt für Schritt in all seinen Schrecken enthüllte. Der Leser leidet praktisch mit ihr. Die Ironie besteht nun darin, dass ausgerechnet LeRoux um ein Haar ihr Schicksal nachvollzieht. Denn auch er ist ein Verlorener. Kann er Jeanette Gerechtigkeit verschaffen? Der Preis dafür ist noch zu bestimmen…

Textschwächen

S. 137: „ermächtigte sich seiner ein Gefühl der Schicksalhaftigkeit…“: Das Gefühl ermächtigt sich nicht, sondern bemächtigt sich seiner.

S. 232: „Ich drückte gegen die Messerscheide und Blut rieselte aus einem dünnen Riss am Hals…“ Nun, eine Messerscheide hat noch selten beim Schneiden geholfen, denn Schnitte zu verhindern ist ja ihr Zweck. Offenbar fehlt hier ein Buchstabe im Wort. Sinnvollerweise sollte es daher „Messerschneide“ heißen.

S. 260: „Es war eine[s] dieser leichten automatischen Schnellfeuergewehre…“: Das S fehlt.

Unterm Strich

Ich habe diesen Krimi in nur zwei Tagen gelesen. Er ist sehr gut geschrieben, drängt dem Leser keine Predigten auf und wartet mit zwei grundverschiedenen Weltanschauungen auf – der der Cree und der von Arthur Schopenhauer. So wird aus der simplen Klage über das Schicksal junger indianischer Frauen eine mehrschichtige Fabel über die Zwangsläufigkeit von Begegnungen, die mal tödlich verlaufen, mal Liebe entzünden. Wer Jeanettes Mörder ist, muss der Leser selbst herauskriegen. Die Erkenntnis erfolgt wie ein Schock. Sie wirft ein Schlaglicht auf den desolaten Zustand, in dem sich die westliche, angeblich christliche Zivilisation bereits befindet.

Ein Glossar ergänzt die zahlreichen einheimischen, also englischen und Cree-Ausdrücke, die den Text spicken. Was eine Trapline ist, wird hingegen nicht erklärt. Aber man muss kein Fallensteller (Trapper) sein, um sich denken zu können, dass es die Spur ist, auf der ein Trapper seine Fallen ausgelegt hat.

Für die beiden Druckfehler und den Stilfehler gibt es Punktabzug.

Info: Pendragon, 2021,
288 Seiten,
Taschenbuch: 288 Seiten
ISBN-13: 9783865327239

www.pendragon.de

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