Gentle, Mary – Untergang Burgunds, Der (Die Legende von Ash 4)

Ein gewöhnlicher Fantasy- oder mittelalterlicher Roman, das ist Mary Gentle’s Saga um die Söldnerführerin Ash gewiss nicht. Ihr Roman „Ash – A Secret History“ ist das Ergebnis ihrer umfangreichen Studien (u. a. Master in Kriegsgeschichte und Geschichte des 17. Jahrhunderts) sowie ihres eigenen, recht unkonventionellen Werdegangs.

Genauso unkonventionell ist auch „Ash“ geworden: Für die deutsche Fassung musste das Werk auf vier dicke Bände aufgeteilt werden, aber nicht nur vom Umfang her ist ihr Romanzyklus wahrlich umfassend. Historie und modernste wissenschaftliche Theorien sowie Horror, Fantasy und Science-Fiction geben sich hier ein einzigartiges Stelldichein, das ich jedem an anspruchsvoller Unterhaltung interessierten Leser nur empfehlen kann.

Um was geht es eigentlich? Kurz gesagt, um ein Mittelalter, das anders ist als historisch überliefert, dessen Ereignisse ihre Schatten bis in unsere Gegenwart werfen und sie verändern. So gibt es mechanische Golems sowie eine Invasion Europas durch die in Karthago hausenden Westgoten. Diese verwüsten Europa, das von Dunkelheit überzogen wird, mit einem Ziel: Das Herzogtum Burgund muss fallen! Warum gerade Burgund? Das wichtigste der fantastischen Geheimnisse, neben vielen anderen. An Wundern mangelt es nicht: So erfährt Ash, dass sie eine Sklavin aus dem Hause des Emirs Leofric ist, nach Plan gezüchtet, um die Stimme eines gigantischen Taktikcomputers, des so genannten Steingolems, zu hören. Doch sie hörte sie nicht, wurde als kleines Kind getötet – so glaubte man –, nur um später als Söldnerführerin die Stimme des Golems, die sie für die eines Heiligen hält, doch noch zu vernehmen. Das machte sie zu einer der erfolgreichsten Condottiere Europas. Doch ihre Halbschwester, die sogenannte „Faris“ der Karthager, ihre Generalin, hört ebenfalls die Stimme der Maschine… und befehligt mit großem Erfolg die Heere Karthagos bei ihrem Vernichtungsfeldzug nach Burgund.

Ihr erstes Treffen ist für die beiden ein Schock, aber er ist nichts gegen eine andere, noch schrecklichere Erkenntnis: Die |Ferae Naturae Machinae|, „wilde Maschinen“, Pyramiden im Wüstensand rund um Karthago, sprechen durch den Steingolem und manipulieren durch ihn die Karthager für ihre Zwecke. Sie wollen Burgund vernichten und, wie später deutlich wird, es steht nur Burgund als letztes Hindernis zwischen dem Sieg der Maschinen und der Vernichtung der gesamten Menschheit.

Fast waren die Maschinen am Ziel, als Herzog Karl von Burgund starb, aber ein Nachfolger wurde gekürt – solange dieser lebt, wird die Menschheit leben… Im belagerten Dijon rafft Ash sich zum Kampf gegen den eigentlichen Feind, die „wilden Maschinen“, auf.

Der Historiker Dr. Ratcliff erlebt beim Lesen von Ash’s Autobiographie mit, wie sich die Realität wandelt. Anfangs verändern sich nur Seiten in Büchern oder Funde von Golems im Wüstensand, bald aber wird er Personen aus dem Mittelalter in ihrer modernen Version gegenüberstehen…

Verworren, faszinierend, schwer verständlich – wer in die Welt von Ash eintauchen möchte, hat keine andere Wahl als beim Anfangsband „Der Blaue Löwe“ zu beginnen. In der Rezension zum ersten Roman finden sich zudem weitere Informationen über die Autorin selbst.

DIE LEGENDE VON ASH

Band 1: [„Der Blaue Löwe“ 303 (ISBN 3404283384)
Band 2: [„Der Aufstieg Karthagos“ 333 (ISBN 3404283406)
Band 3: [„Der steinerne Golem“ 377 (ISBN 3404283430)
Band 4: „DER UNTERGANG BURGUNDS“ (ISBN 3404283457)
Das englische Original:
„Ash – A Secret History“ (ISBN 1857987446)

„Der Untergang Burgunds“ ist ein überraschend gut gelungener und würdiger Abschlussband des Zyklus. Wie oft wird man bei solch komplexen Zyklen nicht von einem relativ platten Finale enttäuscht?

Nach dem langatmigen und nahezu ereignislosen dritten Band geht es endlich wieder richtig zur Sache: Der König-Kalif Karthagos erscheint persönlich auf dem Schlachtfeld, die letzte militärische Hoffnung der Burgunder wird erbarmungslos zerschlagen, als man die Nachricht von Tod und Schändung der Gemahlin und Tochter Herzog Karls sowie dem Untergang des Entsatzheeres aus Flandern erhält. Doch die durch die Stimmen der wilden Maschinen in ihrem Weltbild schwer erschütterte Faris der Karthager läuft, bei dem neuen Kalifen in Ungnade gefallen, zu den Burgundern über.

An diesem Punkt hat Ash einige zündende Ideen, wie man die Maschinen, auch ohne den Würgegriff der Belagerung brechen zu müssen, bezwingen könnte…

Es tut sich etwas, Ash geht in die Offensive, bemerkenswert ist vor allem ihre Konfrontation mit den Maschinen: Sie erfährt ihre Motive, die durchaus nachvollziehbar sind und mich zum Schaudern brachten – und Ash vor eine schwierige Enscheidung stellen. Was Ash auch immer tut, es wird die Weltgeschichte verändern oder die Menschheit auslöschen. Wie sich Ash entscheidet, möchte ich nicht vorwegnehmen – nur so viel: Die Menschheit wird natürlich nicht untergehen.

Ihre Entscheidung hat fast schon philosophische Dimensionen, die Auswirkungen auf die Gegenwart werden mit modernen Theorien (Wellentheorie, parallele Realitäten u. a.) erklärt, wie auch die „Wunder“ des Propheten Gundobad, deren Bedeutung von zentraler Bedeutung für die Handlung sind. Man stelle sich vor, man könnte durch Zucht und Selektion eine Menschenrasse züchten, die Kraft ihres Willens das Antlitz der Erde verändern könnte. Die Folgen wären schrecklich, die wilden Maschinen erscheinen fast als Wohltäter, wollen sie doch sich und der Menschheit diese ständigen katastrophalen Veränderungen der Realität ersparen. Auch die Bedeutung Burgunds im Zusammenhang mit den Wunderwirkern wird geklärt: warum die Linie der Herzöge Burgunds die Fähigkeit besitzt, solche „Wunder“ zu verhindern.

Dieser Roman macht nachdenklich, neben der interessanten Handlung kommen die Charaktere nicht zu kurz. Die von den Ereignissen, die ihren Horizont (Sie lebt im Mittelalter und kennt nur das Schlachtfeld!) bei weitem übersteigen, überrollte Ash kann einem leid tun, ebenso wie die um ihr blankes Leben kämpfenden Bürger Burgunds und ihre Söldner. Blutige Gemetzel und mittelalterliche Grausamkeiten sind auch in diesem Roman reichlich vorhanden und verstärken die düstere und hoffnungslose Atmosphäre. Neben Ash wissen vor allem ihre engsten Vertrauten sowie die Faris der Karthager zu überzeugen, die, etwas jünger als Ash, ohne die Weisungen des Steingolems vollkommen hilflos und verstört vor der Hinrichtung durch Kalif Gelimer fliehen muss, zusammen mit ihrer gemeinsamen Mutter und ihrer Halbschwester Violante. Sie wird wie auch der anscheinend halb wahnsinnig gewordene Emir Leofric sehr überzeugend dargestellt.

Leider trifft das nicht auf alle Figuren zu. So ist Ash’s unglücklicher und zu den Karthagern übergelaufener Gatte Fernando mittlerweile Mönch geworden, hat er doch stets Leid und Krieg verabscheut. Seine Beziehung zu Ash konnte mich jedoch nie ganz überzeugen, sie wirkt auch ein wenig lieblos in die Rahmenhandlung gepresst.

Mary Gentle hat es sich teilweise auch sehr leicht gemacht, einige Probleme haben einfach keine stimmige Lösung. So fällt Ash jetzt auf einmal ein Weg ein, wie man den Maschinen Einhalt gebieten könnte, den sie schon fast zwei Bücher zuvor hätte gehen können. Genauso ihr Überleben als Ausschuss der genetischen Experimente Leofrics – Kehle durchgeschnitten, in den Hafen geworfen, trotzdem überlebt, von Seefahrern aufgesammelt und nach Europa gebracht… als Waisenkind aufgewachsen und Söldnerführerin geworden. Hier hätte sich die Autorin ruhig etwas mehr Mühe geben können. Dazu kommen noch kleinere Details wie plötzlich erfroren vom Himmel fallende Vögel in Burgund, ganz Europa wird von düsterem Zwielicht überzogen, wie bereits Karthago. Dort wird es auch immer kälter, aber warum fallen sogar im nach wie vor exklusiv sonnendurchfluteten Burgund tote Vögel vom Himmel?

Zum Glück halten sich diese kleineren Fehler (bzw. nicht aufgelösten Fragen) in dem 2326 Seiten starken Zyklus in Grenzen. Allerdings hätte man vor allem den dritten Band gehörig straffen können, dem durchaus gelungenen Abschluss geht so ein wenig eine Schlaftablette voran. Dafür ist das Finale ein echter Paukenschlag.

_Fazit:_

Dr. Ratcliff wird einer faszinierenden Gegenwartsversion von Ash gegenüberstehen, der Zyklus würdig und nachdenklich stimmend beendet. Angesichts des schieren Umfangs kann man Mary Gentle einige der genannten Schwächen verzeihen, bietet sie doch so viel, um sie mehr als wett zu machen. Eine echte Innovation im Bereich der Phantastik, die Genres sprengt. Ihre historischen Kenntnisse werden mit bemerkenswertem Wissen physikalischer Theorien ergänzt und zu einem spannenden Roman verwoben, in dem auch die menschliche Seite nicht zu kurz kommt, im Gegenteil, „Der Aufstieg Karthagos“ und „Der Untergang Burgunds“ sind emotional unheimlich intensive Romane, die mit einer gehörigen Prise Lovecraft’schen Grauens sehr schmackhaft gewürzt sind. Der wilde Genremix dürfte viele verschrecken, ich hoffe jedoch Interesse geweckt zu haben. Einen recht hohen Anspruch stellt Mary Gentle an ihre Leserschaft: Lässt sie elegant historische Fakten durch Fußnoten von Dr. Ratcliff erklären, fehlt leider jegliche Erläuterung zu den zahlreichen Theorien, auf denen sie ihre Realitätsveränderungen aufbaut. Selbst als erfahrener Sci-Fi-Leser und durchaus physikalisch nicht Unkundiger wird man von den abverlangten Kenntnissen oft überfordert und zum Nachlesen gezwungen!

Wer sich die Mühe macht, wird belohnt – richtig anspruchsvoll wird erst der letzte Band. „Ash“ ist sicher einer der bemerkenswertesten Romane/Romanzyklen der letzten Jahre und somit eine absolute Kaufempfehlung für Freunde ungewöhnlicher Phantastik.

Tipp: Wer des Englischen mächtig ist, kann viel Geld sparen und das englische Original kaufen. Wer lieber auf Deutsch liest, muss sich aber auch nicht grämen, das Lektorat und die Übersetzung von Rainer Schumacher sind hervorragend, kein Vergleich zu vielen oft schlampig übersetzen und nachlässig lektorierten Romanen im Fantasybereich. Dazu kommt noch die ansprechende Präsentation im edlen Hardcover-Stil von |Lübbe|’s „Bibliothek der Phantastischen Literatur“.

Wer erfahren will, wie stark Ash die Geschichte verändert hat, sollte nicht zögern und sich diese Serie besorgen, dann erfährt er, warum Cato’s berühmte Aussage von Dr. Ratcliff in das Motto „Non delenda est Carthago“ („Karthago darf nicht zerstört werden“) geändert wird.