John Halliday – Gewitterfische. Jugendroman

Alles beginnt in einer schwülen Augustnacht. In dieser Kirmesnacht schlägt der Blitz in dem Städtchen Westlake ein, obwohl es dort um diese Zeit des Jahres eigentlich nie Gewitter gibt. Es ist die Geburtsstunde von Josh und Rainy, die sich elf Jahre später in der 5. Klasse zum ersten Mal begegnen. Josh, so prophezeit seine Tante, wird die Geschicke der kleinen Stadt nachhaltig verändern. Rainy, Bigfoot, Kate und der Goldfisch Elvis spielen dabei eine entscheidende Rolle.

Der Autor

John Halliday ist von Beruf Bibliothekar und lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Charlottesville, Virginia. Dies ist sein zweiter Roman. (Verlagsinfo)

Das Titelbild

… zeigt im Vordergrund einen hübschen Goldfisch, der in einer wassergefüllten Plastiktüte schwimmt. Auf den ersten Blick übersieht man leicht, dass er auf der Stirn ein E trägt. Deshalb nennt ihn seine neue Besitzerin ELVIS. Später erhält Elvis Gesellschaft: MADONNA. Im Hintergrund sieht man ein Riesenrad, das allerdings unter einem Gewitterhimmel still steht, weil der Blitz die Elektrik außer Gefecht gesetzt hat.

Handlung

Die Ortschaften Westlake und Eastlake liegen an einem gemeinsamen See, wo sonst, aber sie unterscheiden sich doch in fast allen Dingen. Wo Eastlake dynamisch und modern ist, verharrt Westlake in der Vergangenheit und der Tradition. Folglich hat Eastlake eine Menge Geld und Westlake praktisch keines. Es gibt weder ein Einkaufszentrum noch ein Kino und schon gar kein Fastfood-Restaurant. Es ist wie das Fifties-Amerika aus „Zurück in die Zukunft, Teil 1“. Die öffentlichen Gebäude werden nicht mehr instandgehalten, keine neuen Geräte mehr angeschafft – der Exitus von Westlake ist schon irgendwie abzusehen (wie in Teil 2 der Film-Trilogie zu besichtigen).

Aber nicht an diesem Abend. Die alljährlich im August in Westlake Station machende Rosa-und-Weiß-Kirmes-Gesellschaft hat wieder einmal Jung und Alt angezogen. Die schwangere Mrs. Jolly und ihr Mann sind ebenfalls von den Attraktionen angezogen, vor allem aber wollen sie Mrs. Jollys Schwester Julie besuchen, die hier als Wahrsagerin arbeitet. Obwohl sie aus den Karten, Teeblättern und der Kristallkugel liest, beruhen ihre Weissagungen doch eher auf dem Offensichtlichen. „Du wirst bald ein hübsches Baby bekommen, Schwesterlein“, ist solch eine „Weissagung“, die sich angesichts von Mrs. Jolly kugelrundem Bauch leicht erstellen ließ.

Das Gewitter

Auf einmal zieht ein Gewitter auf und der gegabelte Blitz schlägt seltsamerweise an zwei Stellen gleichzeitig ein. Blitz Nr. 1 plättet eine alte Eiche weit draußen vor der Stadt, wo aber gerade die unkonventionelle Miss Day in ihrem Wohnwagen ein Baby zur Welt bringt. Als es zu regnen beginnt, nennt sie das Mädchen Rainy – Rainy Day. In Madame Julies Wahrsager-Zelt setzen bei Mrs. Jolly plötzlich die Wehen ein, als der Blitz in der Nähe einschlägt, das Stromnetz lahm legt und alles in Dunkelheit versinkt. In diesem Moment kommt Josh Jolly zur Welt.

Das Brett

Elf Jahre später verändert Tante Julie Joshs Leben, als sie ihm zum Geburtstag ein selbst geschnitztes Wahrsage-Brett schenkt. Sie erklärt ihm, wie es funktioniert: Er muss einen Stein über die Buchstaben und Zahlen in den Feldern des runden Brettes wandern lassen, um die Antwort auf seine Frage zu erhalten.

Obwohl er zunächst skeptisch ist, setzt Josh das Brett doch einmal ein – mit erstaunlichem Erfolg: „Greig den Gisch“. Was soll das denn heißen, wundert sich Josh. Er ist gespannt, was heute in der Mittelschule von Westlake, die er besucht, passieren wird.

Rainy Day

Erstmals ist auch ein Mädchen namens Rainy Day in der 5. Klasse, und Josh braucht kein Ouija-Brett, um zu erkennen, dass sein bester Freund Billy „Bigfoot“ Dumper, ein wahrer Riese, aber sonst sehr intelligent, sich auf der Stelle in das unkonventionelle Mädchen verliebt. Leider lässt dieser Zustand Billy stumm wie einen Fisch werden. Das Cheerleader-Girl Kate Haskell, das reichste Mädchen in Westlake, findet Rainy nur „meschugge“, während sie Josh bloß den „Kirmesknaben“ nennt. Kate hält sich trotz der Tatsache, dass sie ihre Finger mit duftendem Wundpflaster umwickelt, für die beste Kandidatin für den Schülerrat. Da hat sie sich aber geschnitten.

Katastrophe

Diese vier Spezialisten erhalten von der Lehrerin Mrs. Agnes Moody, die alle nur „Old Gelbschnabel“ nennen, den Auftrag, dem Hausmeister beim Leeren und Putzen des Aquariums zu helfen. Leider gerät im Dunkeln einer Filmvorführung auch Elvis in einen der Wasserkübel, mit denen die äußerst kurzsichtige Rainy das Becken leert. Elvis ist der Goldfisch, den Mrs. Agnes auf der letzten Kirmes geschenkt bekommen hat (siehe das Titelbild). Flutsch, schon ist der Fisch ins Waschbecken gefallen. Rainy merkt erst jetzt, was passiert ist. Voll Panik ruft sie Josh zu „Greif den Fisch!“ Josh ist sofort klar, dass sein magisches Brett diese Szene geweissagt hat und „greigt den Gisch“ – um eine Zehntelsekunde zu spät. Elvis hat das Gebäude verlassen …

Ein magisches Brett, das nicht richtig buchstabieren kann, ist manchmal eine Plage, aber eine sehr interessante. Und eine mit ungeahnten Folgen. Es rettet beispielsweise Westlake, aber das ist eine lange Geschichte, im Grunde die ganze Geschichte des Buches.

Triumphe

Auf seine eigene verschlungene Weise trägt Josh mit seinen Freunden Kate, Rainy und Billy dazu bei, dass Westlake erstmals in seiner Geschichte wieder an Meisterschaften im Schachspiel und Wettschwimmen teilnehmen kann. Kate und die „meschugge“ Rainy werden Freundinnen, und weil Rainy täglich im See geschwommen ist, stellt sie sich als ausgezeichnete und ausdauernde Schwimmerin heraus. Kate bringt ihr die Schwimmstile bei, und los geht’s! Leider hat sie vergessen, ihr zu sagen, dass beim Start eine Pistole abgefeuert wird …

Mein Eindruck

Ich könnte mir Josh Jolly, Weissager und Loser, gut als modernen Tom Sawyer vorstellen, doch Tom war erstens viel schlauer und zweitens viel fieser. Aber das dem Vergessen entgegendämmernde Westlake hat ein wenig etwas von Tom Sawyers Städtchen (Hannibal?): es gibt immer etwas zu entdecken, und das Interessanteste sind stets die Einwohner.

Da ist zum Beispiel Kates Nachbar Mr. Farkas, der in seinem Keller noch spät in der Nacht Licht brennen hat. Was treibt er da bloß? Was Mr. Farkas so unheimlich macht, ist die Tatsache, wie Kate sagt, dass sein Hund von den Toten auferstanden ist. Mr Farkas hat große Ähnlichkeit mit jenem unheimlichen alten Nachbar von Kevin (Macaulay Culkin), der zu Weihnachten „allein zuhaus“ ist, weil seine Familie ihn vergessen hat.

Eine ganze Weile habe ich mich gefragt, ob dieses Gewebe von Geschichten auch einen Plot hat. Aber so funktioniert das Buch nicht. Daher kommt es, dass erst im letzten Drittel so etwas wie Spannung aufkommt und eine Entwicklung, die sich lange angebahnt hat, endlich zum Vorschein kommt, als sich ihre Ergebnisse zeigen. Die Spannung bezieht sich oberflächlich aus den zwei Wettbewerben, an denen sich die Westlake Mittelschule beteiligt: im Schach und im Schwimmen.

Aber es kommt auch zu persönlcihen Veränderungen, wie man schon an der Freundschaft zwischen der reichen, aber einsamen Kate Haskell und Rainy, die aus einer großen, aber armen Familie stammt, ablesen kann. Schließlich sagt Kate nie wieder, jemand sei „meschugge“ – denn sie ist es ja selbst, mit ihren umpflasterten Fingern, an denen sie dauernd schnüffelt (wegen der Chemikalien oder wegen des Alkohols?).

Und so, wie sich die Kinder verändern, ändert sich auch der Charakter der Stadt – mehr durch blinden und glücklichen Zufall als durch irgendwelche Planung. Es ist schon recht witzig, welche Marketingstrategien sich Stadtrat Calvin einfallen lässt, um Westlake wieder attraktiv zu machen. Sich in eine Western-Stadt umzuwandeln, das haben schon viele Dörfer gemacht. Und dass man sich im See ein Ungeheuer à la Nessie zulegen sollte, wird ebenfalls abgelehnt. Meistens von Stadträtin Nr. 2, Agnes Moody, weniger von Bürgermeister Chang. Der vertagt die ergebnislose Sitzung einfach. Bis zum nächsten Spleen von Calvin. Bis dann eines Tages unverhofft durch Joshs Aktivitäten die Rettung kommt, und gerade noch rechtzeitig.

Wenn Josh jemals Anwandlungen gehabt hätte, ein zweiter Harry Potter zu werden, so sind seine Träume unweigerlich zum Scheitern verurteilt, aber auf ironische Weise. Zum Beispiel dadurch, dass sein magisches Brett zwar richtig weissagt, aber falsch buchstabiert. Daher auch der falsch geschriebene Originaltitel: „Predicktions“ – etwa „Weissägungen“.

Die Übersetzung

… ist recht gut gelungen, wenn auch ein paarmal etwas zu wörtlich, so dass der deutsche Ausdruck entweder ungewohnt klingt oder es eine bessere deutsche Entsprechung gegeben hätte, besonders bei amerikanischen Redewendungen. Niemand würde beispielsweise sagen „Ich habe keine Idee, was du meinst“, sondern vielmehr „Ich habe keine Ahnung, was du meinst“.

Unterm Strich

Mir hat „Gewitterfische“ recht gut gefallen, aber es ist nicht umwerfend. Dazu fehlt erstens ein ausgeprägter Grundkonflikt, denn es zu lösen gilt, zweitens ein ständiger Widersacher (es gibt einen in Gestalt des Sportlehrers, aber wir empfinden eher Mitleid als Furcht für ihn), und drittens ist der Spannungsbogen, falls es ihn gibt, nicht von Anfang an klar. Man sollte meinen, Rainy Day und Josh Jolly, geboren am gleichen Tag zur gleichen Stunde, müssten ein romantisches Liebespaar werden: „star-crossed lovers“. Da dies aber ein höchst ironisches Buch ist, klappt das natürlich nicht – ähnlich wie im richtigen Leben.

Kinder ab elf Jahren werden sicher viele lustige und skurrile Szenen in diesem Roman finden, vielleicht auch etwas Spannung und Mystery. Wichtiger ist aber, dass sie lernen, worauf es wirklich im Leben ankommt: sich auch auf das Unvorhergesehene einzulassen und das Beste daraus zu machen. Wie Josh, Rainy, Kate und Bigfoot zeigen, kann das die Welt verändern.

Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
Originaltitel: Predicktions, 2003
Besprochene Auflage: Februar 2005

Aus dem US-Englischen übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn