Es ist gar nicht so einfach, über Michael Hardwick etwas mehr zu erfahren, als der knappe Verlagstext hergibt, zumal die Notiz 1:1 von einer englischen Site übernommen wurde, die einem dann laufend von der Suchmaschine präsentiert wird. Der Vermerk, Hardwick sei der Erste, „dem seit Christopher Morley das ‚Sign of the Four‘ der |Baker Street Irregulars of America| verliehen wurde“, klingt beeindruckend, obwohl es dem Normalleser wenig sagen mag. Über das „Sign of the Four“ wenigstens liest man, es sei „eine der denkbar höchsten Auszeichnungen für einen Verehrer von Sherlock Holmes, der sich um ihn verdient gemacht hat“; nun gut. – Hardwick, so die Notiz weiter, war Leiter des Bereichs Drama bei der BBC und deren führender Drehbuchautor. Sein Roman „Prisoner of the Devil“ „wird von vielen als das beste Sherlock-Holmes-Abenteuer angesehen, das nach dem Tod Conan Doyles geschrieben wurde“ (wer auch immer diese ominösen „Vielen“ sein mögen). Einiges schrieb Hardwick zusammen mit seiner Frau Molly. Und er ist mittlerweile verstorben. Lebensdaten werden nicht genannt. Genau so fehlen Originaltitel, Erscheinungsjahr und Copyright des vorliegenden Buches. Daher von mir ein paar Ergänzungen: John Michael Drinkrow Hardwick (1924 – 1991) verfasste insgesamt 14 Sherlock-Holmes-Pastiches, darunter Theaterstücke, Romane und 1985 die besagte Autobiographie. „Prisoner of the Devil“ kam 1979 heraus, und das hier zu besprechende Buch erschien 1987 unter dem Titel „The Revenge of the Hound“ (also „Die Rache des Hundes“ – nix mit „Fluch“ und „Baskerville“).
In diesem Abenteuer schreiben wir das Jahr 1902. Queen Victoria ist tot, Edward VII. hat den Thron bestiegen. Das „Viktorianische Zeitalter“ ist dahin, Europa und die Welt stehen vor großen Veränderungen. Der deutsche Kaiser W Zwo macht durch militärische Umtriebe besorgt. Und was halten eigentlich Russland und Frankreich von der Macht des British Empire?
Doch auch für den Meisterdetektiv wird sich einiges ändern. Zum einen steht Dr. Watson zum dritten Mal auf Freiersfüßen, eine junge Amerikanerin ist die Glückliche. Zum anderen meint Holmes, seine Zeit sei abgelaufen: Die moderne Gesellschaft mache die Menschen dermaßen gleich, dass seine Methode, aus individuellen Einzelheiten zu deduzieren, sich bald erledigt haben werde. Dabei ist er kein Fortschrittsfeind, er nutzt eifrig das Telefon und sagt diesem für die Polizeiarbeit eine große Zukunft voraus. Ansonsten aber hat sich in der Baker Street 221B nicht viel verändert. Die gute Mrs. Hudson sorgt immer noch fürs leibliche Wohl, und immer noch führt man bei Drinks und einer Pfeife Rededuelle am Kamin – wie die Fans des Meisterdetektivs es lieben. Hardwick kennt seinen Holmes ausgezeichnet, das Buch ist voll von Bezügen zu anderen Fällen und von genau nachempfundenen Figuren. Und es gelingt ihm, selbst einen guten Holmes-Fall zu konstruieren, mit genug Verwirrung, Spannung und Flair.
Zuerst kommen Gerüchte auf, der Hund von Baskerville treibe nun in Hampstead Heath sein Unwesen – jedenfalls wurde ein Landstreicher von einer mysteriösen Bestie angefallen. Dann stößt man bei Straßenbauarbeiten in Tyburn auf die Gebeine gehenkter Verbrecher – und mit Watsons Hilfe werden Oliver Cromwells Knochen samt seines Schwertes identifiziert (Cromwell wurde nach Wiedererrichtung der Monarchie aus seiner Gruft geholt und nachträglich „hingerichtet“). Bald darauf stiehlt jemand Knochen und Schwert, was Holmes nicht freut, denn er meint, in diesen unruhigen Zeiten könnten solche „Reliquien“ benutzt werden, um einen Umsturz herbeizuführen. Außerdem verschwindet in Lausanne Lady Frances Carfax. Diesen Fall kennen wir von Doyle selbst; Hardwick parodiert die Eingangsszene der Geschichte recht witzig. Ebenfalls entnimmt er der Vorlage, dass Watson an Holmes’ Stelle auf den Kontinent reisen muss und dort unverhofft auf den Meister trifft, der undercover operiert. Dann folgt wieder Hardwick pur: Als die beiden mit der Fähre nach England zurückkehren, wird an Bord ein chinesischer Steward ermordet. Außerdem sucht Mycroft Holmes seinen Bruder auf und lädt ihn zum König ein, der Holmes bittet, von der Frau eines Industriellen einen Brief zurückzuerlangen, den Edward dieser Dame geschrieben hat, als er noch Prince of Wales war (Irene Adler lässt grüßen, worauf Hardwick selbst hinweist). Was noch? Das Denkmal für Cromwells „Henker“ Charles II. vor Victoria Station wird enthauptet, und der vom Hund angefallene Landstreicher verschwindet spurlos: so viele Puzzleteile. Man hofft und wünscht nur, es möge Hardwick gelingen, sie zu einem stimmigen Ganzen zu fügen – alles muss schlüssig miteinander zu tun haben, oder der Autor hat versagt.
Hardwick schafft es. Am Ende ergibt alles einen Sinn, haben wir einen Fall mit brisantem politischen Hintergrund, in dem sogar Karl Marx eine kleine Rolle spielt, und das nicht nur, weil das Geschehen auf Highgate Cemetery kulminiert. Hat sich der Leser streckenweise gefragt, was das alles soll, wird er nun reichlich entschädigt – die Schluss-Szenen sind exzellent gelungen. Ansonsten bilden rätselhafte Morde, ein undurchsichtiger Lord, Bestien, Verkleidungen, Verfolgungen, Grüfte, Geheimbünde und ein wie immer ratloser Inspektor Lestrade genau die Mischung, auf die man hofft. Gewiss fragt man sich, ob Watsons Heiratspläne im Buch noch eine andere Funktion haben als die, den Meister anfangs abzulenken, oder ob nicht ein etwas zu großer Zufall die beiden gerade an Bord des Schiffes führt, auf dem der Steward ermordet wird, was wiederum mit allem anderen in Verbindung steht. Ich fand die Anhäufung immer neuer Fälle bis zur Hälfte des Buches mitunter ein wenig zu verwirrend und manche Anspielung auf „Der Hund von Baskerville“ allzu raffiniert … doch hilft die Sympathie für den großen fiktiven Briten, solche Dinge wegzustecken und einfach weiterzulesen. Was Hardwick jedenfalls sehr gut beherrscht, ist das Sherlock-Holmes-Milieu mit all seinen Facetten, mit den Eigenheiten der beiden Hauptfiguren und ihren immer interessanten Wortgefechten. Dies ist also eindeutig ein gutes Abenteuer des unsterblichen Detektivs.
© _Peter Schünemann_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [buchrezicenter.de]http://www.buchrezicenter.de veröffentlicht.|