Indriðason, Arnaldur / Kattanek, Claudia / Zylka, Martin – Kältezone. Hörspiel

Verhängnisvoll: Isländer in Leipzig

Ein Toter wird im Kleifarsee bei der isländischen Hauptstadt Reykjavik entdeckt. Nach einem Erdbeben hatte sich der Wasserspiegel gesenkt und ein menschliches Skelett sichtbar werden lassen. Es ist an ein russisches Sendegerät aus dem Jahr 1961 angekettet. Dass es Mord war, belegt ein Loch in der Schläfe des Schädels. Wer ist der Mann, wer war sein Mörder?

Kommissar Erlendur Sveinssons Ermittlungen führen ihn in die fünfziger Jahre, als der Kalte Krieg herrschte. Isländer, die von einer gerechteren und besseren, sprich: sozialistischen Welt träumten, gingen in den fünfziger Jahren oft zum Studium in die DDR. Einer von ihnen gerät unter Verdacht.

Der Autor

Arnaldur Indriðason, Jahrgang 1961, war Journalist und Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung. Heute lebt er als freier Autor bei Reykjavik und veröffentlicht mit großem Erfolg seine Romane. Sein Kriminalroman „Nordermoor“ hat den „Nordic Crime Novel’s Award 2002“ erhalten, wurde also zum besten nordeuropäischen Kriminalroman gewählt, und das bei Konkurrenz durch Håkan Nesser und Henning Mankell!

Weitere Romane von Indriðason:

[Engelsstimme
[Todeshauch
[Frostnacht
[Gletschergrab
[Nordermoor
[Tödliche Intrige
[Menschensöhne

Die Inszenierung

Die Regie bei dieser Hörspielfassung, die Claudia Kattanek erstellte, führte Martin Zylka, der für den Westdeutschen Rundfunk WDR arbeitet.

Die wichtigsten Sprecher und ihre Rollen:

Bernhardt Schütz: Erlendur Sveinsson, Kommissar
Sandra Borgmann: Elínborg, Polizistin
Michele Cucuiffo: Sigurdur Oli, Polizist
Michael Ewers spricht den Erzähler Thomas
Rita Lengyel spricht Ilona, die ungarische Studentin, die Thomas liebte
Claus-Dieter Clausnitzer spricht den alten Hannes
Daniel Berger spricht den jungen Hannes
Thomas Arnold spricht Lothar
Martin Bross spricht Emil
Und viele andere.
(Alle Angaben sind dem Booklet entnommen.)

Handlung

Es ist Mai, als nach einem Erdbeben der Kleifarvatn-See trockenfällt und eine Spaziergängerin darin ein Skelett findet. Die Knochen sind an ein altes russisches Sendegerät aus dem Kalten Krieg gekettet. Ein klarer Hinweis auf Mord. Kommissar Erlendur Sveinsson und sein Assistent Sigurdur Oli werden eingeschaltet. Erlendur lässt Vermisste aus dem Zeitraum zwischen 1965 und 1975 suchen.

Oli findet heraus, dass in jenem See mehrmals Abhörsender aus Russland gefunden worden waren. Sie hatten eine Reichweite, mit der Spione den Funkverkehr des amerikanischen Luftwaffenstützpunktes in Keflavik nahe der Hauptstadt Reykjavik belauschen konnten. Da meldet eine siebzigjährige Frau, dass ihr Verlobter vor 30 Jahren verschwand. Er nannte sich Leopold, war Vertreter für Baumaschinen und kam daher ganz schön was rum. Die Maschinen stammten allesamt aus der DDR und der Sowjetunion. Eines Tages erschien er nicht mehr bei einem Kunden und verschwand spurlos.

Dieser Hinweis führt zu den Russen. Der Sekretär der Botschaft jedoch gibt sich freundlich, aber völlig ahnungslos. Dabei war Island ein lohnendes Ziel für sowjetische Agenten: Überall auf der Insel hielten sich Amerikaner auf. Endlich meldet sich auch die amerikanische Botschaft: Etwa 1967 kam ein DDR-Vertreter nach Island, verließ es aber nicht wieder, sondern verschwand im Herbst 1968 spurlos. Der Mann nannte sich Lothar Weiser, geboren in Bonn, lange Zeit wohnhaft in Leipzig, DDR.

Bei der deutschen Botschaft erfahren Erlendur und Oli, dass Weiser ein Stasi-Mann war, der 1953 bis 1958 in Leipzig zwecks Observierung der Ausländer arbeitete. Dazu gehörten auch Isländer. Und „Leopolds“ ehemaliger Chef erklärt, die Baumaschinenhersteller aus der DDR hätten ihn praktisch erpresst, den Mann schwarz einzustellen. Dieser „Leopold“ rekrutierte Leute für die Stasi auf Island, damit sie die Amis abhörten. War Lothar Weiser also „Leopold“? Das ist nicht sicher.

Jetzt sieht Erlendur einigermaßen klar. Aber wer ist der Mörder Lothar Weisers – falls dieser das Skelett im See ist? War es ein Mann aus seiner Vergangenheit oder jemand aus Island?

Die Geschichte von Thomas

Die andere Hälfte des Hörspiels besteht aus einem Handlungsstrang, der 45 Jahre vorher einsetzt, im Jahr 1953. Damals geht der isländische Jungsozialist Thomas nach Leipzig, um dort Ingenieurswissenschaften in einem aufstrebenden sozialistischen Staat zu studieren. Aber als er 1956 zurückkehrt, ist er total verändert und verkriecht sich als gebrochener Mann ohne Hoffnung in seinem Haus. Erst 1998, als der Tote im See gefunden worden ist, beginnt er mit der Niederschrift seiner Erlebnisse in Leipzig.

Thomas, der Ausländer, verliebt sich in eine andere Ausländerin, Ilona aus Ungarn. Obwohl sich das Misstrauen gegen die aufmüpfigen Ungarn, deren Aufstand ja 1956 blutig niedergewalzt wurde, auch in Leipzig bemerkbar macht, verschließt der verliebte Thomas die Augen vor der Realität. Er vertraut den falschen Leuten. Und selbst dann noch, als die Stasi zuschlägt und Ilona spurlos verschwinden lässt, kann er nicht glauben, dass ein „sozialistisches Bruderland“ zu so etwas fähig sein könnte.

Man sollte meinen, dass 1990 nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Öffnung der Stasi-Archive Ilonas Spur verfolgbar sein müsste. Dem ist nicht so, wie Thomas bitter feststellen muss. Die Geheimdienste haben 1956 zu gründliche Arbeit geleistet. Wahrscheinlich wurde sie, gebrochen von Folter und Misshandlung, irgendwo in einem Internierungslager zwischen der DDR und der Sowjetunion verscharrt.

Aber wer waren die Verräter? Thomas muss es unbedingt wissen, bevor seine Seele Ruhe finden kann. Und er folgt dem Weg bis zum bitteren Ende. Dort erkennt er, dass er nie einen Freund in Leipzig hatte. Als die Kripo 1998 in sein Haus eindringt, ist er froh, denn das Manuskript seiner Geschichte fertig. Er spannt den Hahn des Revolvers …

Die Inszenierung

Ein trauriges Kapitel in der Geschichte von Isländern, die ihr Glück im Ostblock suchten. In der Schilderung der Erlebnisse, die Thomas in Leipzig hat, legt der Autor eine große Detailkenntnis an den Tag. In der Porträtierung der einzelnen Vertreter der verschiedenen Interessensgruppen an der Universität Leipzig lassen sich die sorgfältige Recherche und der Realitätssinn des Autors ablesen. Man sieht also, dass der reinen Krimihandlung eine ergreifende Geschichte zugrunde liegt, ja, dass der Krimi im Grunde nur eine Fußnote darstellt, in der die losen Fäden zusammengeführt werden.

Die Inszenierung des Hörspiels trägt diesen Voraussetzungen in mehrfacher Hinsicht Rechnung. Zunächst einmal sind die Kripo-Ermittlungen Erlendurs auf Island den Erlebnissen Thomas‘ in Leipzig direkt gegenübergestellt. Während sich die Ermittlung schrittweise der Lösung des Rätsels nähert, verläuft Thomas‘ Geschichte in einer dramatischen Abwärtskurve: Liebe und Verlust Ilonas, der Anwerbungsversuch durch die Stasi, der allgemeine Verrat, die Ausweisung. Das Ende vom Traum eines „sozialistischen Bruderstaates“.

ACHTUNG, SPOILER

Dann das Nachspiel auf Island. Thomas lässt nicht locker in seinem Bemühen, Ilonas Schicksal aufzuklären. Und hier wird das Hörspiel etwas verwirrend. Thomas stößt auf zwei Männer, die er aus Leipzig kennt. Erstens wird nicht klar, wann das war – vermutlich 1961, dann stimmt der Ablauf der Ereignisse. Ich dachte, er würde Hannes wiedersehen, doch es ist stattdessen Emil, der Mann, der sich „Leopold“ nennt.

Das Drama spitzt sich zu, bis es zu einer fatalen Kurzschlusshandlung kommt. Das Ergebnis ist bekannt. Ein weiterer Mann kommt hinzu – wie heißt er? Ist es Lothar Weiser? Nein, anscheinend handelt es sich um Hannes, und der ist bereit, Thomas aus der Patsche zu helfen. Eine gewisse Wiedergutmachung dafür, dass er Thomas in Leipzig fünf Jahre zuvor im Stich ließ (Hannes wurde ebenfalls ausgewiesen). Auf einmal heißt es, Lothar Weiser sei in Gefahr. Wat denn nu? Um im vernünftigen Rahmen der Logik zu bleiben, ist anzunehmen, dass der Tote im See dennoch nicht Lothar, sondern Emil ist.

SPOILER ENDE

Musik und Geräusche

Der Zweiteilung der Handlung in Vergangenheit und Gegenwart entspricht die Musik. Im Hintergrund der Ermittlung Erlendurs erklingt eigentlich nur Konservenmusik, z. B. aus dem Radio oder aus einer Musikbox. Das ist keine Hintergrundmusik im eigentlichen Sinne, sondern nur Teil der Geräuschkulisse, wie sie in jedem Fernsehkrimi zu hören ist.

Das Klappern der Tastatur der Schreibmaschine (er hat keinen PC), auf welcher der alte Thomas tippt, bildet eine Zäsur und die Brücke in die Vergangenheit. Die Szenen in Leipzig sind mit richtig schöner Hintergrundmusik unterlegt: Hier spielt sich das menschliche Drama ab, zumal eine Romanze. Piano, Violine, Flöte, Cello und Oboe bzw. Klarinette sind die vorherrschenden Instrumente, die eine bittersüße Stimmung schaffen, die immer wieder heraufbeschworen wird. Das fand ich sehr gelungen.

Natürlich gibt es auch hier wieder Hintergrundgeräusche, so fährt beispielsweise eine Straßenbahn vorbei. Am Schluss kreischen die Möwen über dem Kleifarvatn wie eh und je, als Erlendur die Hydrologin wiedersieht, die den Toten am Anfang gemeldet hat – der Kreis schließt sich. Bevor die Absage beginnt, erklingt wieder das traurige Piano.

Die Sprecher

Die Sprecher haben die Aufgabe, sowohl Realismus zu vermitteln als auch Emotionalität, um glaubwürdig zu wirken. Zum Realismus gehört, dass der Mitarbeiter der russischen Botschaft einen russischen und der Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft einen amerikanischen Akzent aufweist, der Stasimann verrät einen sächsischen Akzent.

Zur Emotionalität gehört, dass Thomas, die Hauptfigur des zweiten Handlungsstrangs, zunehmend Gefühle zeigt, wenn es um Ilona geht, und aufgeregter wird, je mehr er einsehen muss, dass er sie nicht nur verloren hat, sondern er und sie von denen verraten wurden, die er bisher für seine Freunde gehalten hat. Seine Verzweiflung schlägt in Wut und umgekehrt um, was dann schließlich 1961 in einer Kurzschlusshandlung gipfelt.

Es lohnt sich bestimmt, dieses Hörspiel, das auf nur 54 Minuten eingedampft wurde und somit alles sehr verdichtet darstellt, mehrmals zu hören. Man wird feststellen, dass es nichts von seiner Wirkung verliert, sondern immer weitere Fassetten an Bedeutung preisgibt.

Unterm Strich

Dass Island ein Brennpunkt des Kalten Krieges war, hätte ich nicht erwartet, obwohl es doch die Logik nahelegt: Hier ein Luftwaffenstützpunkt der Amis, dort, nur wenige Kilometer entfernt, die Russen in Murmansk in der Arktis. Es war eine Atmosphäre der gegenseitigen Bespitzelung und des Misstrauens. Dies ist die negative Seite des Sozialismus, den die Isländer kennenlernten.

Dabei gab es offenbar 1953 allen Anlass, den Sozialismus von seiner positiven Seite kennenzulernen: offene Universitäten, preisgünstige Agrarmaschinen, Knowhow-Transfer. Diese Seite wollte Thomas, die Hauptfigur des zweiten Erzählstrangs, kennenlernen und nutzen. Doch der Traum wurde zum Albtraum, der nie zu enden schien. Dann aber bekam er Hinweise auf DDR-Spione auf Island – eine neue Chance, mit den alten Geschichten reinen Tisch zu machen.

Hier findet die Handlung zu einem abschließenden Finale voller Spannung und unerwarteter Enthüllungen. Kommissar Sveinsson wird quasi zum Nachlassverwalter dieses Dramas, das aus dem Kalten Krieg erwuchs und etliche Opfer forderte. Der Traum vom sozialistischen Weltbruderstaat wurde zum Albtraum, und zwar nicht unter Feinden, sondern unter sozialistischen „Brüdern“. Die sowjetischen Invasionen in den sozialistischen Satellitenstaaten DDR (1953), Ungarn (1956) und Tschechoslowakei (1968) werden ausdrücklich in diesem Zusammenhang erwähnt. Dass sich die Amis in Island keinen Deut besser verhielten, ist die Aussage von Indriðasons Thriller „Gletschergrab“.

Das Hörspiel

… verdichtet die doppelte Handlung, die in Vergangenheit und Gegenwart spielt, auf angemessene, aber möglicherweise auch verwirrende Weise. Daher ist es nicht nur angemessen, sondern auch notwendig, das Stück mehrmals anzuhören. Über die Musik, die Geräusche und vor allem die Sprecher kann ich mich nicht beklagen. Beeindruckt hat mich vor allem die Figur des Ich-Erzählers Thomas.

Das Hörspiel kann als Einstieg in die ausführlichere Lesung dienen, doch ich würde sogar noch eher dazu raten, gleich das Buch zu lesen, das schließlich sämtliche Informationen enthält, die der Autor hineingepackt hat, die er für notwendig erachtete, um die Figuren und ihr Handeln zu verstehen. Wer aber mit der Form des Hörspiels als dramatischer Darstellung vertraut ist, dürfte mit der nun vorliegenden Hörspielfassung wenig Schwierigkeiten haben. Dass ich sie dennoch hatte, ist ein Kritikpunkt. Ein weiterer ist der unverhältnismäßig hohe Preis von knapp 15 Euro.

54 Minuten auf 1 CD
Originaltitel: Kleifarvatn, 2004
Aus dem Isländischen übersetzt von Coletta Bürling
ISBN-13: 9783785733998

http://www.luebbe.de/luebbe-audio

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