Jinks, Catherine – Tod des Inquisitors, Der

Südfrankreich im Jahre des Herrn 1318. Sechs Jahrzehnte sind seit dem zweiten Kreuzzug gegen die Katharer oder Albigenser verstrichen. Diese Asketen-Sekte, deren Mitglieder die Bibel rigide auf eine Weise auslegten, die der offiziellen Deutung durch die katholische Kirche widersprach, wurde im Bund mit dem König von Frankreich erbarmungslos bekämpft und beinahe ausgerottet. Aber die Kirche vergisst nie jene, die es wagten, ihr die Stirn zu bieten. Das „Heilige Amt“, die Inquisition, ist stark in der Provinz Narbonne, einem Kernland der Albigenser, die hier länger als irgendwo sonst ausgehalten hatten, wo die nahen Pyrenäen Schutz und Flucht nach Spanien versprachen. Deshalb lebt die Häresie fort, heimlich zwar, doch hartnäckig.

Die kleine Stadt Lazet beherbergt in ihren Mauern die Priorei der Predigenden Brüder, eine Klostergründung des Dominikanerordens. 28 Mönche, 17 Laienbrüder und 12 Studenten leben, beten und arbeiten hier – und 178 Gefangene, verdächtig der Ketzerei, schmachten derzeit im Gefängnis des Heiligen Amtes. Der Papst – aktuell ist es Johannes XXII. – bedient sich gern der Bettelmönche als Inquisitoren; sie gelten als unbestechlich und streng in der Verfolgung der Glaubensfeinde. In Lazet ist gerade Jacques Vaquier, der oberste Inquisitor, gestorben. Sein Stellvertreter Bernard Peyre de Prouille fühlt sich der Nachfolge allein nicht gewachsen und bittet das Mutterhaus im fernen Paris, ihm einen Pater zu schicken.

Es erscheint Augustin Duese, ein fanatischer Ketzerfresser, der weder sich noch seine Mitbrüder schont, wenn es gilt, den Weisungen des Papstes Folge zu leisten. In Lazet hat sich im Laufe der Jahre ein gewisser Friede oder Waffenstillstand zwischen der Kirche, der einheimischen Bevölkerung und Roger Descalquencs, Seneschall König Philipps V. von Frankreich und Repräsentant der weltlichen Macht vor Ort, eingestellt. Duese fühlt sich nicht daran gebunden, wittert überall Ketzerei, Verderbnis und Verschwörung, ordnet Massenverhaftungen und -verhöre an, bringt die Menschen gegen sich auf, schürt geradezu vorsätzlich die Unruhe, die ihn nur noch bestätigt in seiner Mission. Doch zum Pulverfass wird die Situation erst, als Duese tatsächlich Hinweise auf heimliche Häresie, Korruption und politischen Verrat entdeckt. Schlimmer noch: Der verstorbene Inquisitor Vaquier war offensichtlich darin verwickelt. Nun gibt es für Duese kein Halten mehr: Die Inquisition kommt über Lazet!

Doch bevor sie richtig beginnen kann, werden Augustin Duese und vier Soldaten, die ihn begleiten und schützen sollten, auf einer Reise über Land überfallen, unweit des Dorfes Casseras getötet und in Stücke gehackt, die über den ganzen Landstrich verstreut werden. Die Täter verschwinden zunächst spurlos; Misstrauen und Furcht breiten sich aus. Der Schrecken eskaliert, als dem Fanatiker Duese als Inquisitor der engstirnige Pierre-Julien Fauré folgt, der überall nicht nur Ketzer, sondern Hexen und Teufel sieht und außerdem seit vielen Jahren Bernard Peyres Erzfeind ist. Gar zu gern würde Fauré ihm schaden – und die Gelegenheit ist günstig: Bernard, der zur Keuschheit verpflichtete Gottesmann, hat sich in die kluge und tapfere (und natürlich schöne) Edelfrau Johanna de Caussade verliebt, eine Beziehung, die beide in allerhöchste Lebensgefahr bringt …

„Der Inquisitor“/“Der Tod des Inquisitors“ (Taschenbuchtitel), ein Roman über das europäische Mittelalter, wurde verfasst von einer Autorin, die zumindest geografisch der Narbonne nicht ferner stehen könnte: Catherine Jinks wurde 1963 in Brisbane in der australischen Provinz Queensland geboren. Es wird noch exotischer: Ihre Jugendjahre verbrachte sie auf der Insel Neu-Guinea (deren Ostteil übrigens bis 1918 deutsche Kolonie war), bevor sie aufs Festland zurückkehrte, um an der Universität von Sydney Mittelalterliche Geschichte zu studieren. In dieser Stadt blieb sie und lebt hier mit ihrer Familie. Als Schriftstellerin wurde Jinks durch ihre Kinderbücher bekannt (und zweimal mit dem „Children’s Book Council Award“ ausgezeichnet), bevor sie sich 1996 mit „An Evening with the Messiah“ (dt. „Der Notar“) auch dem „erwachsenen“ Roman widmete.

Ob es wohl die Entfernung ist, die dem „Inquisitor“ eine erfreuliche Ausnahmestellung auf dem strapazierten Forum des Historien-Thrillers verschafft? Dieses Genre bietet nicht nur denen, die sich von Berufs wegen mit dem Mittelalter beschäftigen, immer wieder gute Gründe zu Zorn und Ärger. „Das Mittelalter“ scheint nach Ansicht gar zu vieler Schreiberlinge („Schriftsteller“ sollte als Berufsbezeichnung eigentlich gesetzlichem Schutz unterliegen!) ein Spielfeld zu sein, auf dem wie in der Science-Fiction oder im Horror grundsätzlich jeder Zug gestattet ist, da zwischen dem 11. Jahrhundert auf der Erde, dem 11. Jahrtausend irgendwo im Weltall oder dem 11. Kreis der Hölle nur marginale Unterschiede gemacht werden. Das Mittelalter verkommt zur exotischen Kulisse, in der sich Uralt-Allerweltskrimis abspielen, die zu allem Überfluss kräftig mit Seifenoper-Elementen versetzt werden. Selbst gut recherchierende Autoren repetieren oft seelenlos angelesenes Wissen, während ihnen ein echtes Verständnis des Mittelalters abgeht bzw. Normen und Geisteshaltungen der Gegenwart in die Vergangenheit projiziert werden.

So entsteht nur ein Disneyland-Mittelalter: Alles sieht halbwegs echt aus und ist doch nur Tand und Trug, wie St. Penetrantius, der Schutzheilige aller mönchischen Amateurdetektive vom Schlage eines Bruder Cadfael, wohl sagen würde. Auch Catherine Jinks hätte leicht in diese Falle tappen können. Sie lässt ihre Geschichte ausgerechnet im Umfeld der katholischen Inquisition spielen. Auf dieser Institution lastet eine Jahrhunderte dicke Schicht aus Legende, Missverständnis und wohlig übler Nachrede. Dumme, bornierte, fanatische, geile Pfaffen martern unschuldige, kluge, fortschrittlich denkende Frauen, Andersgläubige oder (mit weitem Abstand folgend) sogar männliche Gutmenschen: So könnte ein typischer Historien-Krimi um die Inquisition aussehen. Den Rest erledigt dann zuverlässig die politisch korrekte Empörung des klug gewordenen Lesers der Gegenwart über die gar schreckliche Vergangenheit.

Mit solchen billigen Tricks arbeitet Jinks nicht. Sie versteht es, das „Heilige Amt“ und jene, die ihm dienen, harmonisch in das historisierende Umfeld zu integrieren. Zwar übertreibe ich es jetzt, doch im zeitgenössischen Bewusstsein dürfte die Inquisition etwa dieselbe Präsenz wie heutzutage das Finanzamt besessen haben: unsichtbar über den Menschen schwebend und ihr Recht fordernd, aber doch nur selten auf sie herabstürzend, um einen Unglücklichen aus ihrer Mitte zu reißen. Das mittelalterliche Europa wurde keineswegs auf Jahrhunderte nachts von den Feuern der Inquisition erleuchtet, Ketzer und Hexen nicht wie Kaminholz verheizt. Unbestritten sind allzu viele scheußliche Verbrechen und Massenmorde im angeblichen Namen Gottes, aber objektiv fanden sie zeitlich und örtlich begrenzt statt.

Eine Zeitreise zurück ins Südfrankreich des 13. Jahrhunderts wünscht sich wohl allerdings kein denkender Mensch mit historischen Grundkenntnissen. Hier wurde über viele Jahre tatsächlich kein Pardon gegeben. Doch selbst hier ist 1318 wieder Ruhe eingekehrt. Die Inquisition gehört zum Alltag, Verhaftungen und Hinrichtungen kommen vor, aber das ist halt das Risiko der Ketzerei, die von der Mehrheit der Bevölkerung ohnehin nicht toleriert wird – und werden schließlich nicht Verrat, Mord und hundert andere Verbrechen von der weltlichen Gerichtsbarkeit mit Folter und Tod geahndet? Die Inquisitoren selbst sind keine Bestien in Menschengestalt, sondern fromme und hart arbeitende Männer (so fremd uns dies heute auch erscheinen mag). Bernard Peyre, unser Ich-Erzähler, ist sogar ein sehr sympathischer Zeitgenosse, freundlich, humorvoll, ein wenig schwach im Fleische – und doch ein sehr erfolgreicher Inquisitor, obwohl er brennende Scheiterhaufen nur schwer erträgt. Diesen Widerspruch löst Jinks nicht auf; sie überlässt es den Lesern, sich mit ihm auseinander zu setzen. Dabei fährt man am besten, wenn man akzeptiert, dass es ihn im Mittelalter so nicht gab.

Die differenzierte Figurenzeichnung hält Jinks bemerkenswert gut durch. Nicht einmal der düstere Augustin Duese oder sein unfähiger Nachfolger geraten ihr zur bloßen Karikatur, und ihre Frauengestalten stellt sie nie als präfeministische und lächerlich anachronistische Streiterinnen bloß, die anders als die Mönche, Ritter oder Patres (= die dummen Männer) nur Güte, Vernunft und menschliche Überlegenheit verstrahlen. Stattdessen findet Jinks die Nischen der nun einmal männlich bestimmten Gesellschaft des Mittelalters und platziert Frauen dort, wo sie sich nachweislich tatsächlich selbstständig entfalten konnten. Weil dies so stimmig ins Gesamtbild passt, merkt auch der historische Laie, dass ihm (oder ihr) hier nicht die nächste Schüssel des geschmacksneutralen Bruder-Katzenfell-Quarks vorgesetzt wird. Da kann er sich auch damit abfinden, dass die Auflösung des Krimiplots wie so häufig nicht halten kann, was zuvor versprochen wurde. Immerhin gibt’s nur ein gedämpftes Happy-End, was angesichts der in ihrer Vielfalt etwas konstruiert wirkenden Verwicklungen nur logisch scheint.

Bleibt noch die sorgfältige Übersetzung zu loben, die Catherine Jinks nie im Stich lässt. Sie hat sich überaus große Mühe gegeben, ihre Figuren nicht nur in eine mittelalterliche Welt zu versetzen, sondern bemüht sich, sie auch mittelalterlich denken und sprechen zu lassen. Da Bernard Peyre ein gelehrter Kleriker ist, führt dies zu einer Flut von Zitaten und Exkursen aus mehr oder weniger frommen Werken der Kirchengeschichte und bildhaft-biblischen Vergleichen. So etwas liest sich natürlich nicht so glatt herunter wie der aktuelle Ich-habe-nur-einen-Wortschatz-von-100-Wörtern-und-bin-stolz-darauf-Grisham-Reißer, besitzt aber seine ganz eigene Logik und seinen eigenen Reiz, der sich während der Lektüre rasch mitteilt. Dazu kommt ein fast unmerklicher, weil knochentrockener Humor, der gleichzeitig deutlich macht, dass auch die angeblich so vernagelten Menschen des Mittelalters sich der Widersprüche ihrer Zeit durchaus bewusst waren oder längst nicht in furchtsamer Ergebenheit vor der Obrigkeit ihr freudloses Dasein fristeten.