William Nicholson – Der Windsänger

Dieses Buch ist das erste von William Nicholson, doch kennt ihn vermutlich jeder… zumindest jeder Kinogänger. Nein? Nun: „Nell“? „Shadowland“? „Gladiator“? Zu diesen Filmen hat der Engländer die Drehbücher (mit-)geschrieben; ein Profi im Mediengeschäft also. Und man merkt auch seiner ersten Buchveröffentlichung an, dass er’s kann: diesem exzellent geschriebenen Fantasy-Roman „für Kinder“, den auch Erwachsene verschlingen werden. Ich habe knapp fünf Stunden gebraucht, um das Buch zu lesen, und fand hinterher nur schade, dass es schon zu Ende war.

Die Handlung beginnt rasant: In der Stadt Aramanth werden stets und ständig Prüfungen durchgeführt. Wenn die Kinder zwei Jahre alt sind, fällt die Prüfungskommission, so etwas wie die Machtelite der Stadt, über sie her, testet ihre Sauberkeit, ob sie sprechen, zählen, Gedichtchen aufsagen können … und von da an geht es so weiter. In der Schule werden die Kinder laufend nach Punktesystem ein- und umgestuft, die Familienväter müssen jedes Jahr eine Große Prüfung ablegen, und alle Ergebnisse fließen in die Familiennote ein, die entscheidet, wie der soziale Status der Familie sein wird: grauer Bezirk oder kastanienbrauner, orangefarbener, scharlachroter oder gar weißer? Angeblich geschieht das alles im Namen Creoths VI., des Kaisers, den aber noch niemand gesehen hat; in Wahrheit regiert der Oberste Rat, der von den Prüfern beherrscht wird und aus der Monarchie eine unnette kleine Diktatur gemacht hat – angeblich aber eine mit voller Chancengleichheit …

Eines Tages muss auch die kleine Pinpin Hath zu ihrer ersten Prüfung antreten, wobei sie – unterstützt von ihrer Familie – total versagt. Hanno Hath, Ira Hath und Pinpins Geschwister, die Zwillinge Kestrel und Bowman, lieben die Kleine und auch sich untereinander so sehr, wie sie die Prüfungen hassen; was wunder, dass Kestrel in der Schule offen rebelliert? Ihr Ausbruch führt zu fiesen Reaktionen ihres gemeinen Lehrers, woraufhin sie wegläuft, den Turm des Windsängers in der Arena der Stadt erklettert und von dort rebellische Sprüche und Schimpfwörter durch den Schalltrichter des seltsamen Gebildes ruft, das in grauer Vorzeit von geheimnisvollen Fremden errichtet wurde. Eigentlich soll der Windsänger singen, doch als vor Jahrhunderten die Saren-Armee des bösen Gottes Morah die Stadt zu vernichten drohte, konnte Kaiser Creoth I. sie nur retten, indem er die „Stimme“ des Sängers auslieferte, ein s-förmiges Gebilde aus Silber. Seitdem schweigt der Apparat – und seitdem, so munkelt man, begann die Entwicklung zu einem stabilen, blühenden, reichen und unfreien Aramanth. Aber als Kestrel vor den Konstablern der Prüfer flieht, trifft sie einen Mann, der ihr einen unerwarteten Auftrag gibt …

Mehr verrate ich nicht! Wir sind auf Seite 83, und die restlichen drei Viertel des Textes werden uns noch genug verwundern, verwöhnen, mitfiebern lassen … Nicholson schreibt farbig und flüssig, in einer Qualität, die manchem „ernsthaften Fantasy-Buch für Erwachsene“ gut täte. Seine Einfälle stehen in bester Swiftscher Tradition, oft durchzieht leiser, unterkühlter Humor den Text, und seine jugendlichen Helden rückt er dem Leser sehr nahe, er vermag ihr Innenleben gut darzustellen, ohne allzu sehr zu psychologisieren. Die didaktische Botschaft des Buches stört überhaupt nicht, sondern trägt; der Leser weiß schnell, was der Autor will, und lässt sich natürlich darauf ein, kommt das Böse doch nicht nur als Morah und Saren-Armee daher, sondern auch und vor allem als etwas, das jeder kennt und hasst: als eine Reihe von sinnlosen Prüfungen und willkürlichen Einschränkungen. Die Kapitel, in denen der Alltag in Aramanth und die Figur des Obersten Prüfers Maslo Inch geschildert werden, gehören zu den leidenschaftlichsten des Buches. Die zweisträngige Handlung pendelt denn auch zwischen den Erlebnissen der Zwillinge und denen ihrer Familie hin und her, und mitunter fragt man sich, wer das schlimmere Los gezogen hat.

Wir haben es hier also mit einem vorzüglichen, spannenden Buch zu tun, bestens geeignet, an Fantasy heranzuführen oder den Appetit danach zu verstärken. Oft fühlte ich mich an Michael Ende erinnert, vom Ton, von der Buntheit der Einfälle, auch von der Intensität des Anliegens. Nach dem Aussprechen einer Empfehlung bleibt mir nur noch, mich bei meiner jüngsten Schwägerin zu bedanken, die meinem Sohn „Der Windsänger“ zum Geburtstag geschenkt hat. Ohne sie wäre mir wohl ein hervorragendes Buch entgangen.

Taschenbuch: 336 Seiten
www.dtv.de

Peter Schünemann
Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins buchrezicenter.de veröffentlicht