Alexander, Lloyd – Turmfalke, Der (Westmark-Trilogie 2)

_Krieg ist wie Picknick, nur länger_

Die Westmark-Trilogie in nach den „Prydain-Chroniken“ um Taran ein weiterer interessanter Zyklus von Lloyd Alexander. Die Neuausgabe erscheint bei |Bastei Lübbe| in einer schönen Aufmachung im Taschenbuchformat. Der Schauplatz ist diesmal nicht ein Fantasy-Wales aus grauer Vorzeit, sondern eher das 17. oder 18. Jahrhundert irgendwo in Europa. „Der Turmfalke“ setzt das Geschehen aus „Der Setzerjunge“ direkt fort.

Theo reist im Auftrag der neuen Königin Augusta durch das Königreich Westmark und lernt viel Neues über das Land. Die Armen werden von den Adligen ausgebeutet. Zwei Dinge überraschen ihn: ein Pistolenschuss, der seine Brust trifft – und der Ausbruch des Krieges mit dem Nachbarkönigreich Regia.

_Der Autor_

Lloyd Alexander, geboren 1924, ist der Autor der „Chroniken von Prydain“, des Taran-Zyklus‘. Ähnlich wie bei Tolkien, der mit „The Hobbit“ (1937) zunächst eine Fantasy für Kinder schrieb, beginnt auch Alexander mit einer leichtfüßigen Kinder-Fantasy, um dann jedoch schnell auf tiefere, dunklere Themen sprechen zu kommen.

Die Westmark-Trilogie, die der |Bastei-Lübbe|-Verlag mit „Der Setzerjunge“ beginnt, ist ebenso abenteuerlich, hat aber weitaus mehr politische Untertöne: Sie spielt in einem Phantasieland, das auf dem technischen Stand des 17. bis 18. Jahrhunderts ist und über ein Feudalsystem beherrscht wird. Der erste Band wurde laut Verlag mit dem |American Book Award| ausgezeichnet.

Die Westmark-Trilogie:
1. [Der Setzerjunge 760 (09/2004)
2. Der Turmfalke (01/2005)
3. Die Bettlerkönigin (02/2005)

_Handlung_

Im Vorgängerband gelang dem Freundespaar Theo, dem Setzerjungen, und Bohnenstange, der verloren gegangenen Prinzessin Augusta, die Palastrevolution. Sie ist mittlerweile die Thronfolgerin und er der designierte Prinzgemahl. Sobald Augustas Vater, der König, gestorben ist, werden sie zusammen das Königreich Westmark regieren. Die Prinzessin gibt Theo den Auftrag, das Land erkunden, um herauszufinden, wie die Dinge dort stehen. Sie will nämlich das Land reformieren.

Nun hat sich Theo umgesehen, und sein Fazit fällt ziemlich negativ aus. Die korrupten und moralisch verkommenen Adligen nutzen ihre in Generationen erworbenen oder geraubten Privilegien dazu aus, die eh schon arme Landbevölkerung noch weiter auszubeuten. Was Theo nicht ahnt: Augusta will diese Privilegien in Rechte auf gesetzlicher Grundlage umwandeln, aber das hat Adlige wie den Baron Montmollin in das feindliche Lager getrieben.

Montmollin und der Oberbefehlshaber des Heeres haben sich mit dem Königreich Regia verbündet, um Westmark zu erobern und ihre Machtstellung dort auszubauen. Herzog Konrad von Regia ist nur zu gern dazu bereit. Sobald er Westmark in der Hand hat, wird er die Verräter aufknüpfen lassen. Schließlich kann man ihnen nicht vertrauen, oder? Der junge König von Regia, Konstantin, wird nicht nach seiner Meinung gefragt. Er findet Krieg einfach nur aufregend. Deshalb spielt er so gern mit Zinnsoldaten. Der Krieg in Westmark dürfte höchstens ein paar Wochen dauern, denken die Regianer.

Als Theo, der gerade in einem Landgasthaus in der Provinz logiert, die Nachricht erreicht, dass der König gestorben sei, bricht er sogleich auf, um seiner „Bohnenstange“ beizustehen. Im Gasthaus hat er einen der Untergrundkämpfer aus Freyborg wiedergetroffen, doch mit den Leuten des Rebellenführers Florian will Theo vorerst nichts zu tun haben. Er will mit der Prinzessin das Land auf friedlichem Wege reformieren. Doch ein unerwarteter Schuss aus der Pistole eines Schergen der Verräter setzt seinem Weg ein jähes Ende. Die Rebellen retten ihn aus der Lebensgefahr und bringen ihn in die Hügel, wo sie ihr Lager aufgeschlagen haben. Theo fragt sie, was sie hier wollen. Ihr Anführer Justin sagt, dass etwas im Busch sei.

Was da im Busch ist, ist die regianische Invasion. Doch sie verläuft ganz anders als geplant. Denn Bohnenstange hat sich aus dem Palast geschlichen, um ihren Freund Theo zu suchen. Und als sie an der wichtigsten Brücke über den Fluss Carla angekommen ist, da sieht sie die geschlagenen Fußtruppen über die Straße und die Brücke strömen. Es sind hauptsächliche Deserteure. Aber ehrenhafte Deserteure, denn nicht sie haben ihre Offiziere verraten, sondern die Offiziere sind zum Feind übergelaufen, und bei diesem Hochverrat wollten die Soldaten nicht mitmachen.

Bohnenstange gibt sich als die neue Königin zu erkennen und übernimmt das Kommando über den führungslosen Haufen. Verfolgt von der Vorhut der Regianer, fliehen die Westmarker über die Brücke. Bohnenstange lässt die Brücke in einem tollkühnen Manöver in die Luft jagen. Der Weg nach Karlsbruch ist den Regianern nun versperrt. Schon bald müssen sie feststellen, dass sie sich zwischen zwei Fronten befinden: Bohnenstanges Truppen auf der einen Seite und die Rebellen in den Hügeln auf der anderen.

Dieser Krieg scheint kein Picknick zu werden, sondern könnte im Gegenteil ziemlich lange dauern.

_Mein Eindruck_

Nach dem eher heiter-ironischen Geplänkel im ersten Band geht es in der Fortsetzung richtig heftig zur Sache. Obwohl sich Theo und Bohnenstange einen friedlichen Wandel gewünscht hätten, so haben sich doch die politischen Kräfte in Westmark gegen sie verschworen. Es gibt Krieg, und zwar nicht den Krieg der Schlachten, in denen Armeen aufeinander eindreschen, sondern den Krieg der Partisanen, die die regianischen Invasionstruppen vom Nachschub abschneiden und sich so mit Proviant und Munition versorgen.

Doch schon bald wendet sich der Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Die Regianer besorgen sich ihren Proviant bei den Einheimischen und wer aufmuckt, wird aufgeknüpft. Das hat zur Folge, dass die Partisanen ständig neuen Zulauf bekommen, aber es reicht nicht für die offene Feldschlacht. Die Ernte fällt aus, weil keiner mehr sät und pflügt. Der Krieg wird für die Regianer immer teurer, doch es gibt lange keinen Durchbruch, denn auch die Truppen der Königin liefern keine Feldschlacht, sondern räumen eine Stadt nach der anderen. Bohnenstange sind lebende Soldaten lieber als heldenhafte, aber tote.

|Kein Taugenichts|

Theo steckt bei den Rebellen mittendrin und er steigt bis zum Truppenkommandeur auf: Er gibt sich den Decknamen „Turmfalke“, daher der Buchtitel. Theo ist, obwohl eine Vollwaise, ein aufgeweckter Bursche, der trotz seiner Jugend schon über ein ausgebildetes moralisches Gewissen verfügt. Diese Ansichten, die im 1. Band immer wieder auf die Probe gestellt wurden, hat er sich einerseits aus den gelehrten Büchern von Lehrmeister Antons Bibliothek angelesen, andererseits auch immer wieder mit seinem Lehrmeister und Mentor diskutiert.

|Absolutismus|

Dazu gehören Grundsätze, die für uns seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert selbstverständlich geworden sind. Doch zu Theos Zeiten ist das herrschende Gesellschafts- und Regierungsystem der absolutistische Feudalismus: Alles muss nach der Pfeife des Königs tanzen – oder zumindest nach der seines Premierministers. Die Königin hat leider nichts zu melden, und der Leibarzt des Königs, ein rechtschaffener Freidenker, wurde vom Hofe verbannt. Nun muss Dr. Torrens als neuer Premierminister zu seinem Bedauern die Freiheit von Presse und Buchdruckern einschränken, um die Moral im Lande aufrechtzuerhalten. Wie stets gilt auch hier: Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst.

Die Zustände in Westmark und Regia erinnern stark an die französischen Verhältnisse im 17. und 18. Jahrhundert. Natürlich versucht der Autor in seinem Jugendroman keine Gesellschaftsanalyse, geschweige die Schilderung einer Revolution. Vielmehr dürften sich die jungen amerikanischen Leser, an die sich dieses Buch zunächst richtete, an die Zeiten vor dem Unabhängigkeitskrieg erinnert fühlen, also an die Kolonien vor 1776. Die Leser dürften wie ihre Vorväter die Abschaffung des unterdrückenden Systems herbeigesehnt haben.

|Etwas Neues|

In „Der Turmfalke“ sitzen sich schließlich die siegreichen Anführer gegenüber: die Königlichen einerseits, Florian mit seinen Partisanen andererseits. Theo sitzt irgendwie zwischen den Stühlen. Sie baldowern aus, welche Staatsform Westmark künftig haben soll. Florian kassiert alte Schulden bei Theo, Bohnenstange macht wie immer unkonventionelle Vorschläge. Die Revolution findet im Sitzungssaal statt. So könnte es auch seinerzeit 1783 nach dem Sieg der amerikanischen Rebellen über die englischen Kolonialherren in Philadelphia ausgesehen haben. Man hatte sich eine Regierungsform zu geben. Und man gab sich etwas, das es seit über 2000 Jahren nicht mehr gegeben hatte: eine Demokratie.

|Fantasy? Welche Fantasy?|

Der Leser darf sich zu Recht fragen, warum dieser Jugendroman in einer Fantasyreihe erscheint. Bislang sind nämlich weder Zauberer noch Ritter noch irgendwelchen Wunderwesen aufgetreten – und das ändert sich auch in Band 2 nicht. Aber wenigstens gibt es einen – nicht ganz genau definierten – kulturellen und geschichtlichen Hintergrund, der wie für ein Märchen geschaffen ist. Der Schauplatz könnte irgendwo in den USA oder in Westeuropa liegen. Die Namen sind englisch, französisch, sogar deutsch und italienisch. Es ist eine Schnittmenge, die sich der Autor aus dem 18. Jahrhundert zusammengesucht hat. Der Vorteil für den jungen amerikanischen Leser: Er braucht sich nicht in der verworrenen Geschichte Europas auszukennen, um das Buch verstehen zu können, bekommt aber dennoch einen zutreffenden Eindruck davon, wie es damals zuging.

|Humor|

Da viele dieser kriegerischen Vorgänge ziemlich ernster Natur, gibt es einen auffallenden Mangel an Humor. Doch wie Shakespeare selbst in „Hamlet“ und „King Lear“ komische Elemente durch Nebenfiguren eingeführt hat, so lässt auch der Autor Lloyd Alexander bislang eher unscheinbar gewesene Figuren auftreten. Spatz und ihr Bruder Wiesel sind Wasserratten, die als Waisenkinder am Hafen aufwuchsen und nun von dem Journalisten Keller in seine Obhut genommen werden. Sie lieben ihn dafür. Sie sind unbedarft und naiv, völlig ohne Ausbildung. Deshalb bringt er ihnen Lesen und Schreiben bei.

Doch eines Tages schickt der Premierminister Dr. Torrens Keller mit einem geheimen Auftrag zum Anführer der Rebellen, Florian. Nun sind Spatz und Wiesel plötzlich allein, aber das lässt sich ja leicht wieder ändern. Sie müssen bloß herausfinden, in welchen Krieg Keller gezogen ist. (Wiesel weiß nicht mal, was ein Krieg ist. Spatz erklärt es ihm. Aha, denkt Wiesel: Krieg ist wie Picknick, nur länger.) Am besten fragen sie mal den Torwächter, welcher Krieg wohl in Frage käme. Doch der Torwächter nimmt sie auf den Arm. Wütend zieht Spatz mit ihrem Bruder allein los. Die beiden werden noch eine wichtige Rolle spielen. Schließlich kommt es nicht alle Tage vor, dass ein König von zwei kleinen Wasserratten gefangen genommen wird.

_Unterm Strich_

In den „Chroniken von Prydain“ siedelte der Autor seine humorvollen Helden-Geschichten noch im mythisch-überzeitlichen Raum an. In der Westmark-Trilogie verlegt er den Schauplatz der Story in den geschichtlichen Raum, obwohl weder Zeit noch Ort ganz genau festzumachen sind. Wozu andere Kriegsbuchautoren sechshundert oder noch mehr Seiten brauchen, das schafft Alexander mit nur 270 Seiten: eine spannende Handlung mit interessanten, sich entwickelnden Figuren zu erzählen und dabei jede Menge kluger , wenn auch bitterer Erkenntnisse über Krieg, Rebellen, Politik und Wahrheit einfließen zu lassen.

Diese Kombination hat mich überzeugt, die Westmark-Trilogie weiterzuempfehlen. Die Leser sollten mindestens 14 Jahre alt sein, denn es geht mitunter doch recht blutig zu.

|Die Übersetzung|

… ist Rainer Schumacher gut gelungen, doch der Korrektor, sofern vorhanden, hat ihm einige Streiche gespielt. Immer wieder finden sich Druckfehler. Auf Seite 47 heißt es zum Beispiel „Man spuckt ich aus“ statt „man spuckt ihn aus“. Auf Seite 124 heißt es „die Gefangen“ statt „die Gefangenen“. Auf Seite 92 findet sich eine Konstruktion, die so verdreht ist, dass ich mir nicht mal vorstellen kann, wie sie richtig lauten könnte. Aber das sind nur die offensichtlichsten Fälle. Es gibt noch eine Reihe weiterer, aber die aufgezählten sollen genügen, um klar zu machen, dass sich das Niveau der Textqualität noch steigern ließe.

|Originaltitel: The Kestrel, 1982
270 Seiten
Aus dem US-Englischen von Rainer Schumacher|