John Everson – Ligeia

An einem kalifornischen Strand treibt eine Sirene ihr Unwesen. Mit betörendem Gesang lockt sie Männer an, die sie zunächst beschläft und anschließend frisst. Ihr aktuelles Opfer kommt ihr erst (zu) spät auf die Schliche … – Ein ‚erotischer‘ Horror-Roman, dessen Gruselszenen zwar routiniert aber deutlich besser als die eher komischen Sexszenen geraten sind: solide, deftige Kost mit einigen feineren Zwischentönen.

Das geschieht:

1887 kauft James Buckley, Kapitän des Alkohol-Schmuggelfrachters „Lady Luck“, eine schöne Frau, die ihm die Zeit auf See versüßen soll. Ligeia spricht wenig, was Buckley nur recht ist, sondern singt stattdessen lieber. Da der Kapitän völlig unmusikalisch ist, entgeht ihm die ganz besondere Wirkung dieser Gesänge: Ligeia ist kein Mensch, sondern eine Sirene – ein Wesen, das im Meer beheimatet ist, für die Fortpflanzung jedoch auf menschenmännliche Hilfe angewiesen ist. Den Mann schätzen die Sirenen auch jenseits des Beischlafs: Mit seinem Fleisch füllen sie ihre Mägen.

So geschieht es auch an Bord der „Lucky Lady“, deren Besatzung keineswegs immun gegen Ligeias übernatürlich schönen Lockgesang ist. Als das Schiff in einen Sturm gerät, sieht die Sirene endlich ihre Chance zu Flucht und Vergeltung: Buckley hat an Deck zu tun, doch darunter kommt Ligeia frei. Allerdings hat sie den Kapitän unterschätzt, der die Herausforderung eines Kampfes auf Leben und Tod annimmt.

Mehr als ein Jahrhundert später erwacht Ligeia zu neuem Leben. Es hat sie an die nordkalifornische Küste und dort in die Nähe der Hafenstadt Delilah verschlagen. Am Gull’s Point, einem Felsvorsprung, der weit ins Meer ragt, stellt Ligeia sogleich ihre Falle auf. Dieses Mal verfängt sich Evan darin. Der Angestellte des Hafenamtes war einst glücklich mit Sarah verheiratet. Damit ist es vorbei, seit Sohn Josh im Meer ertrank. Sarah päppelt ihren Kummer mit Alkohol, Evan versucht ihn auf langen Spaziergängen am Strand in den Griff zu bekommen.

Dort ist Ligeia auf den einsamen Wanderer aufmerksam geworden. Da sie gerade brünstig ist, beschließt sie Evan nicht zu fressen. Sie sieht in ihm den Vater ihres Kindes, ein mit sirenenhafter Unnachgiebigkeit vorgebrachter ‚Wunsch‘, dem sich Evan – von Zaubergesang und Sex betört – nicht entziehen kann, obwohl sein ins Vertrauen gezogene Kumpel Bill warnt: Am Gull’s Point sind schon viele Menschen spurlos verschwunden. So bleibt Ligeia nur ein Hindernis aus dem Weg zu räumen: Sarah. Dies ist jedoch das Ereignis, das Evan erwachen und Ligeia mit wachen Augen betrachten lässt – ein Anblick, der seine Lust nachhaltig erstickt bzw. durch Rachedurst ersetzt …

Männer auf See

Einst waren sie angeblich auf einer Insel des europäischen Mittelmeers ansässig. Außerdem sollen sie kollektiven Selbstmord begangen haben, nachdem es ihnen misslang, Odysseus durch ihren Gesang in den Tod zu locken; er hatte sich die Ohren mit Wachs verstopft und sich am Mast seines Schiffes festbinden lassen.

Autor John Everson bezieht sich zwar auf die antike Mythologie der Sirenen, die er u. a. Bill für seinen Freund Evan (und uns Leser) recherchiert, nutzt sie aber nur als Vorgabe, die er nach Belieben seiner Geschichte anpasst. Er ist damit in guter Gesellschaft, denn schon im Mittelalter wurden die Sirenen zweckentfremdet: Der katholischen Kirche galten sie als ideale Verkörperung der weiblichen Lust, die den braven Mann vom Pfad der Tugend ablenkt und ins Verderben führt.

Buchstäblich weiter verwässert wurde das Sirenen-Konzept durch jenes Seemannsgarn, nach dem die Weiten des Ozeans von Nixen oder Meerjungfrauen bewohnt waren, die oberhalb der Gürtellinie wunderschöne weibliche Formen zeigten, darunter jedoch einen Fischschwanz präsentierten. Nach Wochen und Monaten ausschließlich unter Männern auf See waren solche Projektionen verständlich. Die Ernüchterung ist groß, wenn man sich die wahren Sirenen betrachtet: Es sind entfernt mit den Elefanten verwandte, im Meer lebende Tiere, die man nicht ohne Grund auch „Seekühe“ nennt …

Frust & Lust & Untergang

Everson verlegt die von ihm geschilderte Sirenen-Attacke nicht nur an die nordamerikanische Küste sowie in die Gegenwart, er nutzt auch die Gelegenheit, den alten Sagen so etwas wie eine naturwissenschaftliche Basis zu schaffen. Dabei berücksichtigt Everson die unterschiedlichen Interpretationen, die im Laufe vieler Jahrhunderte entstanden sind. Er vereinfacht sie und führt sie zu einem modernen Modell zusammen.

Das funktioniert über drei Viertel der Handlung vortrefflich. Der Lockruf des ewig Weiblichen ist weiterhin präsent, sodass eine Sirene sich ihrer Opfer auch im 21. Jahrhundert sicher sein könnte. Ligeia ist zwar schweigsam, hört aber gut zu und ist sich durchaus bewusst, dass die griechische Antike längst vorbei ist. Sie passt sich den Zeiten (und den Begehrlichkeiten ihrer Opfer) an.

Vor allem ist die Sirene eine interessante, weil anders als der Vampir nicht bis zum Überdruss zum Einsatz gebrachte Schreckensgestalt: menschenähnlich aber unmenschlich, intelligent, quasi unsterblich und vor allem am gefährlichsten dann, wenn ihr männliches Opfer am wehrlosesten ist. Sirenen besitzen offenbar keine Kultur, ihre Existenz ist gänzlich auf die Befriedigung elementarer Triebe ausgerichtet.

Zu schön, um wahr zu sein

Ligeia trifft in Evan – seinen Nachnamen verschweigt uns der Verfasser – einen US-amerikanischen Mr. Jedermann. Dass er sich in einer emotionalen Krise befindet, registriert die Sirene, ohne mitempfinden zu können – ein verhängnisvoller Fehler, denn Ligeia muss lernen, dass nicht jeder Mann ihr dauerhaft verfällt. Evan ist ein Ehebrecher und Lügner wider Willen aber keinesfalls ohne Genuss, was sein schlechtes Gewissen und damit seine Widerstandskraft zunehmend stärkt. Die daraus resultierende Konfrontation mit Ligeia vermag Everson freilich nicht mit jener gelungenen Mischung aus Mystik und Drastik zu schildern, die ihm gelingt, solange Ligeia nur Gastspiele auf dem Festland gibt.

Das Problem ist bekannt: Übernatürliche Wesen verlieren ihre Faszination, wenn sie ins grelle Tageslicht geraten. Ligeia ist nach eigener Auskunft unsterblich und dürfte deshalb uralt sein. Daraus müsste eine gewisse Abgeklärtheit resultieren. Stattdessen benimmt sich die demaskierte Sirene wie ein – der Vergleich liegt an dieser Stelle nahe – ordinäres Fischweib. Schlimmer noch: Als Evan und Kumpel Bill sie in ihrem Versteck aufstöbern, nimmt sich Ligeia im ausbrechenden Kampfgetümmel gern die Zeit ausführlich zu erläutern, wieso es beispielsweise möglich ist, ihre Stimme unter Wasser zu vernehmen: Sirenen-Telepathie ist im Spiel.

Wie in einem schlechten B-Film schwelgt Ligeia in Drohungen und kann auch sonst den Mund einfach nicht mehr halten. Sie redet sich um Kopf & Kragen bzw. um des Lesers Achtung, weil sie außer Plattitüden nichts zu sagen hat.

Geteiltes Leid ist doppeltes Leid

Evans Geschichte wiederholt eine Tragödie, die sich schon oft abgespielt hat. Ligeia ist ein Profi und schon sehr lange auf der Jagd. Everson verdeutlicht es, indem er einen zweiten Handlungsstrang aufrollt, der in der Vergangenheit des Jahres 1887 spielt. Der Untergang der „Lucky Lady“ zeigt Ligeia als brachiale Überlebenskünstlerin, die sich weniger für erlittene Unbill rächt als die Gelegenheit nutzt, die gesamte Mannschaft eines Schiffes zu fressen.

Auf diese Weise unterstreicht Everson, wie fremd Ligeia in ihrem Handeln und Denken ist. An anderen Stellen missrät dem Autor dies leider meist, weil er mit der Logik auf Kriegsfuß steht. Der Effekt geht ihm jederzeit über die ‚Realität‘, die jedoch auch in einer Horrorgeschichte nicht beliebig mit Füßen getreten werden darf. So stellen sich Evan und Bill an einer Stelle die Frage, ob Seejungfrauen unsterblich sind. Sie kommen zu dem begründeten Schluss, dass die antiken Sirenen sich vermehrt haben und irgendwann gestorben sind; so lautet übrigens auch (s. o.) die Überlieferung. Es wäre demnach logisch, dass Ligeia tot bleibt, nachdem ihr Kapitän Buckley den Garaus gemacht hat. Doch einige Tropfen mit Seewasser verdünntes Menschenblut genügen, um die tote und zum Skelett zerfallene Ligeia wiederauferstehen zu lassen.

Für ähnliches Stirnrunzeln sorgt Ligeias erstaunliche Fähigkeit, Evan unter Wasser atmen zu lassen. Sie muss ihn nicht einmal berühren oder wach sein, damit dieser Trick gelingt. Dies ist erforderlich, damit Everson Evan durch Ligeias Unterschlupf schleichen und deren Leichen im Keller finden kann, auf dass ihm buchstäblich die Augen übergehen.

Emotionale Dauer-Ebbe

„Ligeia“ ist in erster Linie die Geschichte von Evan. Ihm und seinen Gefühlen widmet Everson ihre gesamte Aufmerksamkeit. Der zwischen Trauer um sein Kind und Liebesgier zerrissene Evan ist die einzige Figur, die glaubhaft wirkt. Bereits Sarah bleibt eine Randfigur. Sie ahnt bis zuletzt nichts von Ligeias Existenz. Selbst ohne Sirenengesang kann der Leser verstehen, wieso Evan ihr untreu wird: Sie ist blass und langweilig.

Absolut unnötiger Vierter in dieser Runde ist Kumpel Bill, den Everson in eine Parodie auf den „besten Freund“ verwandelt, der vor allem in schlechten „Buddy“-Thrillern sein Unwesen treibt. Bill besitzt keine Persönlichkeit und trägt nichts zur Handlung bei, das Evan nicht selbst leisten könnte. Er wälzt Bücher über Sirenen, aus denen er ausführlich zitiert und besitzt – wie praktisch – nicht nur eine, sondern zwei Taucherausrüstungen. In den Finalkampf mit Ligeia geht Evan nicht allein, sondern in Bills Begleitung, was das Spannungspotenzial dieser Begegnung deutlich drückt.

Überhaupt geht das große Finale eher schief. Seit Jahrhunderten hat Ligeia ganz andere Gegner niedergezwungen. Nun besiegt sie ausgerechnet das wasserscheue Weichei Evan. So wie ihn Everson charakterisiert, will dies einfach nicht glaubhaft wirken. Everson macht es noch schlimmer, indem er einen tragisch gemeinten aber faktisch aus dem Hut gezogenen Epilog anschließt.

Denn Ligeia darf nicht wirklich sterben. Ihr geistiger Vater hat offenbar noch viel mit ihr vor. Den Abschluss dieses Buches bildet die Kurzgeschichte „Ligeias Rache“. Sie ist weder spannend noch bietet sie Überraschendes: Ligeia frisst – schon wieder – ein Schiff leer. Bleibt zu hoffen, dass weitere Sirenen-Auftritte sich nicht in einer Folge wechselweiser Sex- und Metzel-Szenen erschöpfen! Everson kann schreiben und gruselig sein. Er müsste noch einen längeren und vor allem bis ins Ziel reichenden Atem entwickeln.

Autor

John Everson wurde am 14. März 1966 in Tinley Park, einer Kleinstadt im US-Staat Illinois, geboren. Er studierte Journalismus an der University of Illinois und arbeitete nach seinem Abschluss 1988 zwei Jahre für die Zeitung „The Star Newspapers“ in Chicago Heights, wo er eine Popmusik-Kolumne schrieb. Auch nachdem er die Zeitung verlassen hatte und zum Unterhaltungsmagazin „Illinois Entertainer“ gewechselt war, setzte er diese bis 2008 fort.

In den frühen 1990er Jahren begann Everson Horror- und Fantasy-Storys zu schreiben. Eine erste Sammlung erschien 2000, vier Jahre später folgte der Roman „Covenant“, der 2005 mit einem „Bram Stoker Award“ für den besten Debüt-Roman des Jahres ausgezeichnet wurde. Seitdem hat Everson u. a. eine Fortsetzung („Sacrifice“) sowie weitere Romane und zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht.

Mit seiner Familie lebt John Everson in Naperville, Illinois. Seit 2006 ist er nicht nur Schriftsteller, sondern auch Verleger. Sein Verlag „Dark Arts Books“ veröffentlicht Horror-Anthologien.

Mehr über John Everson auf seiner Website.

Taschenbuch: 409 Seiten
Originaltitel: Siren (New York : Dorchester Publishing Co. 2010)
Übersetzung: Alexander Amberg
Cover: Danielle Tunstall
www.festa-verlag.de

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