Thierry Jonquet – Die Unsterblichen

Es ist schon ein recht ungewöhnlicher Thriller, den der französische Krimiautor Thierry Jonquet mit „Die Unsterblichen“ abgeliefert hat. Eine Geschichte, die einen beim Lesen des Klappentextes oder beim Blick auf die Kurzbeschreibung im Internet erst einmal die Stirn runzeln lässt. Klingt irgendwie abgedreht. Doch der Roman, der sich dahinter verbirgt, ist überraschend bodenständig.

Jonquet erzählt die Geschichte von Anabel. Anabel lebt in Paris, und seitdem ihr Freund bei einer Schießerei mit der Polizei ums Leben kam und sie selbst für ein paar Jahre ins Gefängnis wanderte, fristet sie ein recht trostloses Dasein. Da eine erneute Anstellung als Krankenschwester nach der Haftentlassung vor allem für die potenziellen Arbeitgeber nie in Frage kam, kann sie sich eigentlich glücklich schätzen, dass Brad ihr unter die Arme greift. Brad betreibt das Tattoo- und Piercingstudio „Scar Systems“ und Anabel geht ihm bei den verschiedenen „Operationen“ als Assistentin zur Hand.

In den Mittagspausen geht Anabel immer in einen nahe gelegenen Park und lernt dort Monsieur Jacob kennen. Monsieur Jacob, von Beruf Leichenbestatter, ist ein vornehmer älterer Herr, der Anabel stets respektvoll behandelt. Die beiden essen regelmäßig zusammen zu Mittag, und als Anabel Hals über Kopf bei Brad kündigt, ist Monsieur Jacob sofort zur Stelle, um ihr helfend zur Seite zu stehen. Anabel zieht zunächst einmal zu ihm und entdeckt mit Hilfe der Bibliothek in dessen Keller schon bald, dass der Tod Monsieur Jacobs große Leidenschaft ist. Anabel geht beim ihm in die Lehre und schafft es mit der Zeit, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen und den Tod ihres Freundes zu vergessen.

Doch das ist nur die eine Hälfte der Geschichte. Jonquet baut parallel dazu einen zweiten Erzählstrang auf, der sich um den Häftling Ruderi dreht, der nach vierzigjähriger Haft im Alter von 75 Jahren endlich aus dem Knast entlassen wird. Vom ersten Augenblick in Freiheit angefangen, hat Ruderi einen Beschatter, der alle seine Schritte beobachtet: den ukrainischen Auftragsmörder Oleg, der Ruderi zunächst beobachten und später umbringen soll.

Dass es zwischen Ruderi und Monsieur Jacob eine Verbindung geben muss, wird schnell klar, denn die beiden gleichen sich wie Zwillinge. Als dann Ruderi in Freiheit auf eine Art aufzuleben und aufzublühen scheint, wie es für seinen Beschatter absolut unglaublich erscheint, ist Oleg versessen darauf zu erfahren, was hinter der Geschichte steckt …

„Die Unsterblichen“ ist nicht unbedingt das, was man von einem Thriller normalerweise erwarten würde. Zwar entwickelt der Roman durchaus Spannung, lässt sich aber nicht unbedingt als genretypisch festlegen. Jonquets Geschichte geht über die typische Thrillerhandlung hinaus und spielt sich auch noch auf einer anderen Ebene ab. Da schlummern unter der Oberfläche bei genauerer Betrachtung einige gesellschaftskritische Ansätze und es gibt eine wissenschaftliche Komponente. Der Tod ist das allgegenwärtige Thema, das die Handlung beherrscht. Für alle Figuren ist der Tod der Dreh- und Angelpunkt.

Für Anabel ist das zunächst der Tod ihres Freundes, den sie selbst wie eine Amputation empfindet. Auch bei ihrer Arbeit bei „Scar Systems“ ist der Tod, wenn auch in abstrakterer Form, ein Thema. Monsieur Jacob sieht in den Brandings und Piercings, den Schmerzen, die sich die Menschen damit selbst zufügen, ein Nachahmen des Todes, eine Kostprobe dessen, was der Tod bewirkt. Mit seiner eigenen Arbeit macht Monsieur Jacob den Tod für die Menschen erträglich. Er lockert die verkrampften Gesichtszüge, die die Leichen im Todeskampf annehmen, und sorgt durch sein Können dafür, dass der letzte Anblick des Toten den Angehörigen in angenehmer Erinnerung bleibt. Auch für den Auftragskiller Oleg ist der Tod stets ein Thema, zum einen durch seine Arbeit, die er mit ungeheurer Professionalität und Präzision erledigt, und zum anderen schlummert er arglistig in ihm, um eines Tages gnadenlos zuzuschlagen, denn Oleg stammt aus der Gegend um Tschernobyl.

Das Thema Tod wird, eingebettet in die Handlung, stets aus den verschiedensten Blickwinkeln betrachtet, so dass Jonquet dem Leser durchaus interessante Perspektivenwechsel bietet und Stoff zum Nachdenken bereithält. Ein Aspekt, der die Lektüre über die Thrillerhandlung hinaus reizvoll macht, denn letztendlich gibt es einige wissenschaftliche, aber auch ethische Punkte, die im Roman auftauchen und es durchaus wert sind, dass man sich auch im Nachhinein noch etwas länger gedanklich mit ihnen befasst. „Die Unsterblichen“ entwickelt insofern ein gewisses Maß an Tiefe.

Vielleicht liegt es an diesen immer wieder auftauchenden Denkanstößen, dass die Thrillerhandlung hier und da etwas ins Hintertreffen gerät, vielleicht hängt es auch mit den Figuren zusammen, auf die wir im weiteren Verlauf noch einen Blick werfen werden, aber dass der Roman, so wie man es von einem Thriller erwarten würde, durchgängig Spannung auf hohem Niveau bereithält, kann man leider nicht uneingeschränkt behaupten. Man verfolgt die Handlung eher mit Neugierde und Faszination, als dass man wirklich gefesselt wäre.

Was am Ende vor allem in Erinnerung bleibt, sind einige markante Augenblicke, die Jonquet besonders gut beschreibt, aber zur eigentlichen Thrillerhandlung gehören sie nicht unbedingt: Da wäre die „Party“, in deren Verlauf Brad und Anabel vor einem (völlig entkleideten) Publikum ein Branding machen, dann wäre da noch Monsieur Jacobs Monolog, den er Anabel nach einem Besuch der „Körperwelten“-Ausstellung hält, und die Geschichte, die von Olegs Jugendzeit berichtet – von Tschernobyl und den Tagen danach.

Die Figuren wirken größtenteils etwas blass, auch wenn Jonquet sich viel Zeit nimmt, sie dem Leser vorzustellen und ihre Persönlichkeit näher zu beleuchten. Über Monsieur Jacob und Ruderi schweigt er sich ohnehin aus. Man erfährt nicht viel über sie und dem Leser wird sehr schnell klar, dass beide irgendein Geheimnis hüten. Auch Anabel erfährt kaum etwas über Monsieur Jacob, und dass sie sich immer damit zufrieden gibt, dass er ihr kaum etwas über sich verrät, über sie aber fast alles weiß, finde ich etwas unvorstellbar. Natürlich haben die beiden einen besonderen Draht zueinander, aber es gibt an der Person des Monsieur Jacob so einige Punkte, die auch für Anabel unklar bleiben, von denen man aber denkt, dass zumindest sie darauf eine Antwort erwarten müsste, wenn sie schon zu ihm zieht, von ihm lernt und auf diese Weise ihr Leben mit ihm teilt. Ihre Zurückhaltung ist etwas schwer nachvollziehbar.

Fast alle Figuren wirken ein wenig entrückt und distanziert von der Welt. Mag man das bei Monsieur Jacob und Ruderi noch verstehen, weil sie nun einmal etwas geheimnisvoll sind, so hat mich diese kühle Distanziertheit gerade mit Blick auf Anabel etwas irritiert. Sie wächst einem nicht wirklich ans Herz und bleibt uns irgendwie verschlossen. Am begreiflichsten wird dem Leser interessanterweise noch die Figur des Auftragskillers Oleg, was wiederum etwas irritiert. Mit Oleg kann man schon aufgrund seiner Geschichte und seiner Tschernobyl-Erlebnisse mitfühlen, man erkennt seine Motivation und für mich entwickelte er sich im Laufe des Romans zu der Figur, für die man seltsamerweise die meisten Sympathien entwickeln kann, auch wenn er der eiskalte Profikiller ist. Anabel und die übrigen Figuren bleiben uns auch zum Ende hin noch etwas fremd.

Was die Auflösung der ganzen Geschichte angeht, so war ich wenig überrascht. Anhand von Klappentext und deutschsprachigem Buchtitel (warum man nicht den lateinischen Originaltitel übernommen hat, ist mir schleierhaft) kann man sich schon zusammenreimen, in welche Richtung die Geschichte zielt. Auch die Auflösung kommt insofern wenig überraschend. Jonquet streut viele Hinweise aus und stellt im Gegenzug eigentlich keine großartigen Fallen, so dass man schon fast intuitiv die Auflösung erahnen kann. Wenn es dann so weit ist und Jonquet am Ende die Wahrheit entblättert, bleibt das etwas unbefriedigend, vor allem, weil die alles entscheidende Frage nach dem Warum leider unbeantwortet bleibt.

Sprachlich weiß Jonquet auf jeden Fall zu überzeugen. Er formuliert sehr direkt, ohne zu beschönigen, und schafft es damit auch in kleinsten Andeutungen und Beschreibungen einen Hauch von Kritik mitschwingen zu lassen. Seine Geschichte versteht er an den passenden Stellen durch Perspektivenwechsel interessant zu machen. Er lässt an den richtigen Stellen den einen Erzählfaden fallen, um zum anderen zu wechseln und im passenden Augenblick wieder zurückzukehren. Der erzählerische Ablauf wirkt in sich absolut stimmig, seine Schreibweise klar und präzise. Sprachlich versteht er sein Handwerk also ausgesprochen gut und man kann nachvollziehen, dass er zu den erfolgreichsten Krimiautoren Frankreichs zählt.

Am Ende bleibt die Erinnerung an einen Roman, der sehr eigenwillig ist. Ein Thriller, der nicht unbedingt einer ist. Eine Geschichte, in welcher der Tod das allgegenwärtige, beherrschende Thema ist, auf das man durch die unterschiedlichen Figuren immer wieder einen anderen Blickwinkel erhält. Ein Roman, der auf sprachlicher Ebene absolut überzeugend ist, dessen Auflösung aber auch etwas schnell zu durchschauen ist und dessen Figuren einem nicht unbedingt sehr nahe gehen. Aber dennoch ein Buch, das man mit stetig steigender Neugier verfolgt und das interessante Einblicke und Gedanken liefert.

Gebundene Ausgabe: 384 Seiten
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