Robert B. Parker – Einen Dollar für die Unschuld. Ein Spenser-Krimi (April Kyle 1)

Actionreich: Der Widerspenstigen Rettung

Die junge April Kyle zieht es vor, auf den Strich zu gehen, statt in die Schule. Für ihren verständnislosen Vater ist sie nur eine Hure, die er längst abgeschrieben hat. Für die Mutter ist diese Sache aber nicht so einfach. Deswegen wendet sie sich an Spenser. Der Bostoner Privatdetektiv nimmt den Auftrag an und versucht dem Mädchen zu helfen – gegen den Willen des Vaters! Spenser dringt in die Sex-Hölle der Bostoner Combat Zone ein und erlebt einige der härtesten Tage seines Lebens… (Ullstein-Verlagsinfo)

„Einen Dollar für die Unschuld“ (Ceremony) ist der Auftaktband zur April-Kyle-Trilogie. Die Fortsetzuzngen tragen die Titel „Wer zähmt April Kyle?“ und „Hundert-Dollar-Baby“.

Diese Ausgabe von 1983 enthält ein Autorenporträt von „Krimipapst“ Martin Compart.

Achtung: Die deutsche Erstausgabe weist auf dem Einband eine falsche ISBN auf!

Der Autor

Der US-Autor Robert B. Parker, geboren 1932, gehörte zu den Topverdienern im Krimigeschäft, aber auch zu den fleißigsten Autoren – er hat bis zum seinem unerwarteten Tod im Januar 2010 über 60 Romane veröffentlicht. Am bekanntesten sind neben der Spenser-Reihe wohl seine etwa acht Jesse-Stone-Krimis, denn deren Verfilmung mit Tom Selleck in der Titelrolle wird gerade vom ZDF gezeigt.

Der ehemalige Professor für Amerikanische Literatur Robert B. Parker lebte mit seiner Frau Joan in Boston, Massachusetts, und dort oder in der Nähe spielen viele seiner Krimis. „Der Amerikaner Robert B. Parker promovierte mit einer Arbeit über das Werk Dashiell Hammetts, Raymond Chandlers und Ross Macdonalds.“ (Ullstein-Info)

Jesse-Stone-Krimis:

1) Night Passage (1997)
2) Trouble in Paradise
3) Death in Paradise
4) Stone Cold (2003)
5) Stranger in Paradise
Und weitere.

Die Sunny-Randall-Reihe:

1) Shrink Rap
2) Perish Twice
3) Family Honor
Und weitere.

Die Spenser-Reihe (die mit über 50 Titeln bei weitem umfangreichste)

1) Widow’s Walk
2) Potshot
3) Hugger Mugger
Und viele weitere.

Außerdem schrieb Parker ein Sequel zu Raymond Chandlers verfilmtem Klassiker „The Big Sleep“ (mit Bogart und Bacall) und mit „Poodle Springs“ einen unvollendeten Chandler-Krimi zu Ende. „Gunman’s Rhapsody“ ist seine Nacherzählung der Schießerei am O.K. Corral mit Wyatt Earp und Doc Holliday, ein klassischer Western.

Handlung

Seine Freundin Dr. Susan Silverman, die Vertrauenslehrerin in der Bildungsorganisation von Massachusetts ist, bittet Privatdetektiv Spenser, nach der Ausreißerin April Kyle zu suchen. Allerdings ist Spenser erstaunt über die rüde Art, wie Aprils Vater, ein wohlhabender Versicherungskaufmann, seine Tochter abgeschrieben hat und sie keinesfalls zurückhaben will. Das gilt aber nicht für Mrs. Kyle, die ihre Tochter vermisst und sich um sie sorgt. Für einen symbolischen Dollar übernimmt Spenser den Auftrag, vor allem aus Trotz gegenüber dem Rabenvater.

April ist nicht die einzige Schülerin in Smithfield, die die Schule abgebrochen hat und untergetaucht ist. Auch ihre Freundin Amy Gurwitz entschied sich für diesen Weg. Doch Amy ist viel leichter zu finden: Sie wohnt zentral in Boston bei einem dicken Mann, dem das Haus gehört. Spenser wartet, bis er Amy allein sprechen kann. Die Sechzehnjährige spielt die perfekte Gastgeberin und erteilt keinerlei Auskünfte.

Gangster Business

Also bleibt Spenser nichts anderes übrig, als im Rotlichtbezirk von Boston nach April Ausschau zu halten. Er kreuzt den Weg von mehr als einem wehrhaften Zuhälter und muss sich Hawk als Schützenhilfe holen. Es stellt sich heraus, dass alle Huren und Zuhälter von Tony Marcus beherrscht werden, einem schwarzen Gangster, und dieser warnt via Hawk eindringlich davor, weiter nach der jungen Hure zu suchen. Warum? Was soll an einer x-beliebigen jungen weißen Nutte so Besonderes sein, würde der Schnüffler gerne mal wissen.

Strafversetzt

Durch einen Tipp von einer der Prostituierten weiß Spenser, dass April strafversetzt wurde. In Providence, Rhode Island, muss sie nun die perverseren Gelüste ihrer Kunden befriedigen. Doch sie als Freier zu befreien, ist nur die halbe Arbeit. Sie entschlüpft ihm auf der Rückfahrt nach Boston mit einem simplen Trick. Es ist Spenser aber sonnenklar, wo sie wieder auftauchen wird: bei Amy Gurwitz.

Finstere Entdeckung

Tatsächlich braucht sich Spenser nur vor jenem vornehmen Haus auf die Lauer zu legen. Am Tag vor dem Erntedankfest sieht er Amy und den Dicken davonfahren – der Weg für einen entschlossenen Einbrecher ist frei. Innen sieht alles sehr proper aus, allerdings nur, bis Spenser in den dritten Stock gelangt: Dort ist ein komplettes Fotostudio eingerichtet. Massen von Pornomaterial liegen herum. Auch die Position des Hausherrn wird Spenser deutlich: Es ist Susans zweitoberster Boss. Das dürfte sie mächtig interessieren.

Die Ritter

Am nächsten Tag taucht April auf und zieht bei Amy und Mitchell Poitras ein. Spenser berät mit Susan, was sie unternehmen sollen. Sie hat inzwischen herausgefunden, was für ein schmutziges Spiel Poitras treibt und will April und Amy unbedingt herausholen. Leichter gesagt als getan. Die beiden Mädchen weigern sich, Poitras zu verlassen. Kein Wunder: Sie wollen weder nach Hause noch in den Rotlichtbezirk.

Die selbsternannten Retter müssen sich also eine gute Lösung des Problems einfallen lassen, bevor sie Poitras hochnehmen und dem Schicksal von April und Amy eine andere Richtung geben können. Aber zuvor müssen sie mit dem mächtigen Beschützer von Poitras reden…

Mein Eindruck

In der ersten Hälfte des Buches begeben sich Spenser und Hawk in eine Kampfzone: den Rotlichtbezirk von Boston. In den frühen achtziger Jahren sahen diese Sperrbezirke noch ganz anders aus als heute: grell beleuchtet, voller Schmuddelware, umstellt von Straßenprostituierten, die wiederum von knallharten Zuhältern ausgebeutet und „beschützt“ wurden.

Damit er hier überhaupt etwas erfahren kann, muss Spenser schon mal den einen oder anderen „pimp“ außer Gefecht setzen. Dabei setzt er letzten Endes sein Leben aufs Spiel, wie Hawk ihm verklickert. Und für was dies alles? Für einen lumpigen Dollar oder für ein Menschenleben? Offensichtlich ist er also ein Idealist.

Sozialkritik

Andererseits kann man sich fragen, welche Perspektiven eine Sechzehnjährige, die von ihrem Vater verstoßen wird, aber von einem anderen Kerl hofiert wird, wählen würde. Der Haken dabei: Der nette Kerl ist ein Charakterschwein, das Pornofilme dreht. Hier liegt der Hund begraben bzw. die zentrale Kritik des Autors an den Missständen in Boston: Dass ein hoher Beamter des Bildungsministeriums seine von allen Schulberatern des Landes über Problemschüler ihm zugetragenen Informationen dazu missbraucht, weiße Mädchen zu Huren zu machen (und Jungs, für die entsprechende Kundschaft). Dass er und seine Kunden bei der Ausbeutung der ungebildeten, wehrlosen Mädchen einen riesigen Reibach machen, versteht sich von selbst.

Ungewöhnliche Lösung

Doch was mit April Kyle passieren soll, sobald sie aus den Klauen ihres „netten Kerls“ befreit worden ist, ist eine schwierig zu beantwortende Frage. April will nicht zu ihren Eltern zurück – eh klar. Die Alternative dazu besteht in intensiver Beratung für Eltern und Kind – die Aussichten sind minimal, wenn man an den wütenden Vater denkt. April hat keinen Schulabschluss, und das einzige, wovon sie etwas versteht, ist das Ficken, wie sie sagt. Als sich Spenser an einen Auftrag von vor sieben Jahren erinnert („Mortal Stakes“, Spenser Nr. 3), fällt ihm auch die Frau ein, die das Problem lösen könnte: Ms Patricia Utley, die Leiterin eines Callgirlrings in New York.

Die April-Kyle-Trilogie

Dies ist der erste Spenser-Roman, den Parker über April Kyle schrieb. Es folgten noch „Taming a Sea-Horse“ und „Hundred-Dollar Baby“, in dem April jenes traurige Ende nimmt, das Susan Silverman ihr vorhergesagt hat. Spenser behandelt April stets mit Respekt für ihre Wünsche, lässt ihr stets die Wahlfreiheit hinsichtlich ihrer eigenen Zukunft. Das findet keineswegs die Zustimmung Susan Silvermans, die lieber auf die Hilfen setzen würden, die sie selbst vertritt: also Schulberatung, Vertrauenslehrer usw. Zur Not sogar Waisenhaus und dergleichen.

Dass Spenser die minderjährige April weiterhin eine Prostituierte sein lässt, ist eine ziemlich ungewöhnliche Lösung. Sie steht im Widerspruch zum Fürsorgeanspruch des Staates und zum Vertrauen, das Durchschnittsbürger in die Organe ihres Gemeinwesens setzen. All diesen Instanzen erteilt Spenser praktisch eine Absage.

Lady Susan

Eine herausragende Szene ist der fulminante Auftritt von Susan Silverman in ihrer Eigenschaft als Schülerberaterin, als Tutorin. Wie eine Löwin, die sich um ihre ungebärdigen Jungen kümmert, tritt sie mit Spenser dem wütenden Poitras gegenüber und fordert die Herausgabe von April Kyle. Nun hat sie Spenser praktisch den Fall aus der Hand genommen. Dummerweise erteilen ihr April und Amy eine Absage.

Invasion

Und so bleibt es einem entschlossenen Trio aus Spenser, Hawk und Susan überlassen, eine kleine Invasion auf das Poitras-Haus anzuführen, kurz bevor die Bullen von der Sitte eintreffen. Im actionreichen und turbulenten Höhepunkt des Romans, der ohne einen einzigen Absatz erzählt wird, müssen sich die drei ihrer Haut erwehren. Denn aufgebrachte Orgienteilnehmer sind, selbst wenn sie besoffen und bekifft sind, im Kampf von Mann gegen Mann ein ernstzunehmender Gegner…

Unterm Strich

Im ersten Band der April-Kyle-Trilogie muss Spenser mit großer Mühe erst die ausgerissene Sechzehnjährige in der Kampfzone des Rotlichtbezirks finden. Er stößt in ein Wespennest und riskiert sein Leben, denn zwei mächtige Männer – ein Gangster und ein hoher Beamter – haben ein einträgliches Geschäft damit aufgezogen, ahnungslose Schülerinnen erst anzulocken und dann auf dem Strich auszubeuten. Die Rettung Aprils gelingt – um einen Preis. Doch Amy Gurwitz will unbedingt bei ihrem Ausbeuter bleiben.

Lady Susan

Wie so oft verurteilt der Autor nicht, schon gar nicht mit irgend jemandes moralischen Maßstäben. Neben dieser Haltung gefiel mir auch das starke Auftreten von Susan Silverman, die eine bestimmte Szene völlig dominiert. Von Spenser erfahren wir auch, welche eminente Bedeutung diese Frau für ihn und sein Leben hat: Er könnte diesen Job nicht ohne sie machen. Dennoch ist sie keine heilige Madonna, sondern trägt das „Lächeln eines gefallenen Engels“. Und sie kann sehr witzig sein.

Die zweite Ebene

Durch viele kleine Details verrät der Autor, welches hohe intellektuelle Niveau sich hinter seiner flott erzählten Story verbirgt. Da lesen wir Zitate von Bischof George Berkeley über die Natur der Wahrnehmung, eine witzige Anspielung auf Henry David Thoreau, den amerikanischen Philosophen der Selbständigkeit und Freiheit („Walden„), sowie von Shakespeares berühmtem Sonett Nr. 73 („Where late the sweet birds sang“).

Zwei edle Ritter

Diese angedeuteten Untertöne weisen dem literarisch gebildeten Leser den Weg zu einer resonanten zweiten Ebene des Romans: Indem der edle Ritter Spenser seiner Herzens-Dame Susan verspricht, ihre Bitte zu erfüllen, geht er eine heilige Ehrenpflicht ein. Sie kann nur eingelöst werden, wenn er den Gegenstand ihres Interesses vollständig aus jeglicher Gefahr und Not rettet – auch mit unorthodoxen Methoden.

Obwohl dies recht hochgestochen klingt, kann der Krimifan mit jeder Menge harter Action seitens der beiden „Ritter“ Spenser und Hawk retten. Denn Hawk ist nur die dunkle andere Seite von Spensers Charakter – und doch eine völlig eigenständige Figur, die ich in keinem Spenser-Krimi missen möchte, sorgt sie doch für Witz, Ironie und den Zugang zur Welt der Schwarzen und des Verbrechens, zu der Spenser nicht ohne weiteres Zugang hat.

Taschenbuch: 142 Seiten
O-Titel: Ceremony, 1982;
Aus dem Englischen übertragen von Ute Tanner.
ISBN-13: 9783548102085
https://www.ullstein.de


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