Lee Child – No Middle Name / Der Einzelgänger. Jack Reacher Kurzgeschichten

Jack Reacher Kurzgeschichten zwischen Spannung und Romantik

Der Erzählband „No Middle Name“ versammelt sämtliche Kurzgeschichten, die Lee Child im Laufe der Jahre über seine Hauptfigur Jack Reacher veröffentlicht hat. Als Bonus enthält der Band die neue Novelle „Too Much Time“ und Storys, die es bislang nur als E-Books gibt.

1) Second Son
2) Deep Down
3) High Heat
4) Not a Drill
5) Small Wars

Der Autor

Lee Child verdankt seine außerordentliche Karriere als Krimiautor einer eher unangenehmen Lebenssituation: 1995 wurde ihm wegen einer Umstrukturierung sein Job beim Fernsehen gekündigt. Der Produzent so beliebter Krimiserien wie „Prime Suspect“ („Heißer Verdacht“) oder „Cracker“ („Für alle Fälle Fitz“) machte aus der Not eine Tugend und versuchte sich als Schriftsteller. Was selbst wie ein Roman klingt, entspricht in diesem Fall der Wahrheit: Bereits mit seinem ersten Thriller um den Ermittler Jack Reacher landete Child einen internationaler Bestseller. Er war zugleich Auftakt der heute mehrfach preisgekrönten „Jack-Reacher“-Serie. Child, der 1954 in Coventry in England geboren wurde, ist heute in den USA und Südfrankreich zu Hause. (Amazon.de)

1) Größenwahn (Killing Floor, 1997)
2) Ausgeliefert (Die Trying, 1998)
3) Sein wahres Gesicht (Tripwire, 1999)
4) Zeit der Rache (Running Blind/The Visitor, 2000)
5) In letzter Sekunde (Echo Burning, 2001)
6) Tödliche Absicht (Without Fail, 2002)
7) Der Janusmann (Persuader, 2003)
8) Die Abschussliste (The Enemy, 2004)
9) Sniper (One Shot, 2005)
10) Way Out (The Hard Way, 2006)
11) Trouble (Bad Luck and Trouble, 2007)
12) Outlaw (Nothing to Lose, 2008)
13) Underground (Gone Tomorrow, 2009)
14) 61 Stunden (61 Hours, 2010)
15) Wespennest (Worth Dying for, 2010)
15.5. Second Son (2011)
16. The Affair (2010)
16.5. Deep Down (2012)
17. Der Anhalter (A Wanted Man, 2012)
17.5. High Heat (2013)
18. Never Go Back (2013)
18.5. Not a Drill (2014)
19. Personal (2014)
20. Make Me (2015)
21. Night School (2016)
22. Midnight Line (2017)
23. Past Tense (2018)

Die Erzählungen

1) Too Much Time (2017)

In einer namenlosen Stadt im Bundesstaat Maine trinkt Reacher gerade auf einem öffentlichen Platz einen Kaffee, als er eine merkwürdige Aktion beobachtet. Ein Junge raubt die Tasche einer jungen Frau und rennt dann, von zwei Polizisten verfolgt, auf Reacher zu, um zu entkommen. Als Reacher aufsteht und ihn anrempelt, stürzt er und wird sofort festgenommen. Die Handtasche ist drei Meter weiter geflogen, doch Reacher überlegt es sich, sie anzurühren: ein Beweisstück. Das merkwürdige: Die junge Frau ist aufgestanden und hat sich aus dem Staub gemacht, zweitens ist die Tasche offensichtlich leer. Bereitwillig erklärt sich Reacher bereit, den Landkreispolizisten eine Zeugenaussage zu unterschreiben. Dauert nur zehn Minuten, sagen sie.

Zuerst wird er von den Landkreispolizisten vernommen, dann aber übernehmen plötzlich staatliche Drogenfahnder das Verhör. Die lassen ihn festnehmen, weil sie ihn als Komplizen des Handtaschenräubers betrachten. Die Pflichtverteidigerin ist in Wahrheit eine Immobilienmaklerin und somit eine Niete. Mitten in der Nacht wird Reacher vom Landkreis- ins Bundesgefängnis verlegt.

Dort findet er schließlich heraus, was diese ganze Aktion sollte: Ein Muskelprotz versucht ihn mit einem improvisierten Messer zu töten. In Reacher findet er seinen Meister. Dass einer der Drogenfahnder ihn dafür beauftragt hat, liegt für Reacher auf der Hand. Wenige Stunden wieder in Freiheit, kann Reacher einem der Landkreis-Cops eine Theorie vorlegen, die dieser nicht widerlegen. Schließlich tappt der korrupte Drogenfahnder in die geschickt ausgelegte Falle…

Mein Eindruck

Die Story scheint zunächst Reacher zum Opfer zu machen, weil niemand ihn sucht und er keine Familienangehörigen hat – er ist der ideale Sündenbock. Doch Reacher dreht als ehemaliger Ex-Militärcop den Spieß um und dreht dem Drogenfahnder, der ihn benutzen wollte, einen Strick aus dem schiefgegangenen Mordversuch. Der Leser braucht etwas Geduld, um all die bürokratischen Winkelzüge zu registrieren, aber dann gelangt die Story ins gewohnte Reacher-Fahrwasser.

2) Second Son (2011)

Ein Marineinfanterist ist ständig woanders. Anno 1974 muss Stan Reacher nach Okinawa und holt seine Familie nach. Der Stützpunkt ist riesig, die Amis sind unter sich, die Häuser haben keine Klimaanlage. Folglich bietet das Meer willkommene Abkühlung. Doch der Weg zum Strand wird dem 13-jährigen Jack von einem Raufbold und dessen Anhängern versperrt. Früher oder später muss Jack den stinkenden Kerl besiegen. Unterdessen denkt er darüber nach, dass er und sein zwei Jahre älterer Bruder Joe eine Schulprüfung nachholen sollen – für Joe ist das eine Beleidigung seiner geistigen Fähigkeiten, für Jack ein überwindbares Hindernis.

Die Lage wird ernst, als man Jacks Vater beschuldigt, ein ultrageheimes Codebuch verschlampt zu haben und dass Joe die Prüfungsaufgaben geklaut haben soll. Während Mutter Josephine nach Paris fliegt, um ihrem Vater in seinen letzten Stunden zur Seite zu stehen, bereinigt Jack die verschiedenen Probleme auf seine ganz eigene Weise…

Mein Eindruck

Einerseits ist dies eine typische Reacher-Story, andererseits führt sie den Leser an einen Punkt in der Weltgeschichte, wo sich das Verhältnis zwischen China und den USA, Kommunisten und Kapitalisten drastisch verändert. Wo Stan Reacher noch vor kurzem von Okinawa aus die Führung eines erobernden Stoßtrupps nach Schanghai planen sollte, ist nun Entspannung angesagt – und natürlich die Vernichtung der alten Einsatzcodes.

Davon weiß Jack zwar nichts, aber es ist für seinen praktischen Sinn, Probleme anzupacken, sowieso irrelevant. Am Schluss löst er zur Verblüffung von Familie und Offizieren drei Probleme an einem Tag. Reacher ist eben in jeder Hinsicht super.

3) High Heat (2013)

Reacher ist sechzehn und gerade in New York City eingetroffen, wo er in der West Point Militärakademie seinen Bruder Joe treffen soll. Doch der Stromausfall des 13. Juli 1977 durchkreuzt diesen Plan. Urplötzlich wird die Stadt um etwa neun Uhr abends in Finsternis getaucht, die ganze Stadt wird zur Wildnis.

Reacher hat einer freischaffenden FBI-Agentin, die vom Dienst suspendiert worden ist, aus der Patsche geholfen, als sie einen Mafiapaten mit einem Abhörgerät überführen wollte. Der durchschaut sie und haut ihr eine runter. Reacher verjagt ihn, kassiert dafür aber eine Rachedrohung. Die Agentin will nichts von ihm wissen, also pirscht er weiter. Er reißt eine Studentin auf, die sogar einen fahrbaren Untersatz hat. Zusammen entgehen sie einem Anschlag des „Son of Sam“ genannten Pärchenkillers, der derzeit sein Unwesen treibt.

Nach einigen Stunden, in denen sie das Chaos haben ausbrechen sehen, spüren sie die Agentin wieder auf, um ihr zu helfen. Doch Reacher warnt Chrissy vor dem Mafioso Croselli, der hier in der Gegend sein Hauptquartier hat, und sie verabschiedet sich freundschaftlich von ihm. Mit der Agentin tüftelt Reacher einen Plan aus, Croselli zu überführen, und lässt sich verdrahten. Dann bricht er in das befestigte, dunkle Haus Crosellis ein. Der Gangster hat ihn bereits erwartet…

Mein Eindruck

Die gekonnt erzählte Novelle ist völlig anders aufgebaut als „Second Son“, denn sie zieht zwei reale historische Phänomene heran: den großen New Yorker Blackout des Jahres 1977 und die Umtriebe des Serienkillers „Son of Sam“, der Reacher ziemlich akkurat als einen Exmilitär beschreibt, der in Südkorea gedient habe. Den durchgehenden roten handlungsfaden liefert die Interaktion mit der FBI-Agentin, die auf den schönen Namen „Jill Hemingway“ hört, und dem Gangster Croselli. Nach einem romantisch-erotischen Intermezzo mit der Studentin Chrissy geht es dann im Showdown actionmäßig zur Sache. Warum sich Reacher mit der Mafia anlegt? Einerseits will er der Gesetzeshüterin aus der Patsche helfen, andererseits hat er generell etwas gegen Unterdrücker und Verbrecher. Allerdings findet sie ein sehr merkwürdiges Ende.

4) Deep Down (2012)

Die US Army will 1986 ein neues Scharfschützengewehr anschaffen, die Mittel soll das Parlament bewilligen. Dazwischen wird in einem Ausschuss darüber verhandelt, ob die teure Anschaffung wirklich gerechtfertigt ist. Der Haken: Eine der vier Verbindungsoffizierinnen, die im Ausschuss sitzen, leitet geheime Informationen über das Gewehr ans Ausland weiter, im Capitol, von einem Faxgerät.

Reacher soll undercover ermitteln, welche der vier Offizierinnen die Verräterin ist. Dazu verkleidet er sich als Sergeant der Army, mit Scharfschützenkenntnissen als Qualifikation. Der Haken: Alle vier Offizierinnen sind als Karrierefrauen unverheiratet, unliiert und uninteressiert an Männerbekanntschaften. Die West-Point-Absolventinnen wollen es in Rekordzeit an die Spitze der Nahrungskette schaffen. Ein Seitensprung mit Reacher wäre da nur ein Hindernis.

Doch alle haben nicht mit Faktor X gerechnet: Kurz vorm Capitol erwischt ein eh schon verspäteter Mitarbeiter der Poststelle mit seinem Wagen Nr. 4 der Damenriege. Sie stirbt noch am Unfallort. Als die Todesnachricht das Anhörungskomitee erreicht, beobachtet Reacher die Reaktionen der verbliebenen drei Damen. Eine ist offensichtlich niedergeschmettert und verstummt. Die anderen beiden drehen voll auf. Doch nur eine von ihnen geht mit Reacher später noch in eine Bar hinterm Hauptbahnhof – und verschwindet. Statt dessen taucht ein Knochenbrecher auf, der nach Ärger aussieht…

Mein Eindruck

Reacher arbeitet mit dem militärischen Nachrichtendienst zusammen. Nun ja, er muss dort Dienst tun, wohin man ihn schickt – direkt aus Frankfurt/Main heraus. Er sagt dem MI-Führungsoffizier gleich, dass der Plan nicht funktionieren werde. Und tatsächlich: Die Anhörung ist Nebensache, aber es zeigt sich, dass eine der drei verbliebenen Grazien eine eigene Agenda hat – und ihre Familie stammt aus der Sowjetunion. Ist sie ein Maulwurf? Die Schlägerei in und vor der Bar spricht Bände.

5) Small Wars (2015)

Im Jahr 1989 wird Caroline Crawford zum Lt. Colonel befördert und kauft sich zur Belohnung einen silbernen Porsche. Die Army steckt sie in die Intelligentsia-Abteilung War Plans – und ins hinterste Georgia, nach Fort Smith. Hier soll sie offenbar unter den versammelten Spezialeinsatzkommandos ihren Mann stehen. Auf einer ihrer Ausfahrten ins Grüne, die sie mit ihrem glänzenden Sportwägelchen unternimmt, begegnet sie bereits nach sieben Tagen einem Riesen, der sie mit drei wohlgezielten Kugeln ins Jenseits befördert. Er nennt sich Reacher.

Jack Reacher muss mal wieder kurzfristig einspringen und wird zur MP nach Fort Benning versetzt. Dort erfährt er von der getöteten Offizierin Fort Smith. Er geht davon aus, dass sich die Landkreispolizei darum kümmern wird, doch da liegt er falsch: Dem Sheriff ist der Fall eine Nummer zu groß und er schaltet das Georgia Bureau of Investigations ein (GBI). Die Agenten untersuchen Leiche, Tatort und Zeugen. Ergebnis: ein Sündenbock muss her. Ein halb debiler großgewachsener Afroamerikaner mit einer Knochendeformation wird gefunden, meilenweit entfernt vom Tatort.

Doch Jack Reacher lässt sich nicht zum Narren halten. Endlich trifft die angeforderte Sgt. Frances Neagley ein, und mit ihr kommt er endlich voran. Wie sich zeigt, ist nicht bloß der unbekannte Täter ein Rätsel, sondern vor allem auch das Opfer…

Mein Eindruck

Der Titel „small wars“ weist auf die Spezialität hin, mit der sich Caroline Crawford befasst: Kriegsplanung. 1989 sieht sie bereits den Zerfall der Sowjetunion voraus und somit das Ende des Kalten, Großen Krieges. In dessen nachfolge würde, so ihre Theorie, zahlreiche kleinere Kriege, Stellvertreterkriege, entstehen. Saddam Hussein (dessen Name nicht genannt wird) würde Kuweit überfallen, und in Afghanistan, das von den Sowjet-Besatzern befreit wurde, würden die Fundamentalisten an die Macht gelangen. So geschah es dann auch.

Die Frage lautet natürlich: Darf die Welt bereits 1989 davon erfahren? Jemand im Pentagon hat diese Frage offenbar mit „Nein“ beantwortet und Caroline Crawford für immer zum Schweigen gebracht. Nächste Frage: Ist das für Jack Reacher, den Ermittler, in Ordnung oder nicht?

6) James Penney’s Secret Identity (2011)

Nach 17 Jahren als Metallarbeiter wird James Penney, ein Vietnam-Veteran, gefeuert. Vor Wut fackelt der geschiedene Hausbesitzer sein Heim ab und fährt zur nächsten Bank, bevor diese seine Schulden eintreibt alle Konten sperrt. Auch sein neuer roter Firebird ist noch nicht abbezahlt, also haut er mit dem gleich ab – Richtung Norden.

Doch sein Feuer hat das trockene Gras um sein Haus herum entzündet und ist auf drei weitere Häuser übergesprungen. Fortan wird Penney vom Sheriff von Laney County steckbrieflich gesucht. Jim Gunston, Cop der California Highway Patrol, entdeckt nachts einen roten Firebird auf dem Weg zur grenze von Nevada. Er verfolgt ihn, um ihn zu stoppen, doch der Firebird verlässt den Highway, gerät von der Straße ab – und explodiert. Der Sheriff kommt, um mit einem Rechtsmediziner die verkohlte Leiche zu bergen und zu identifizieren.

James Penney erwacht in einem billigen Motelzimmer mit einer bösen Überraschung: Sein ganzer Stolz, sein roter Firebird – weg, geklaut! Garantiert steckt der Rezeptionist dahinter, der dem Dieb einen Tipp gegeben und seinen Anteil eingesteckt hat. Also bleibt nur die Polizei. In letzter Sekunde entdeckt Penney seinen Steckbrief an der Pinnwand und kann die Wache unbehelligt verlassen. Was jetzt?

Ein Anhalter nimmt ihn nach Sacramento, der kalifornischen Hauptstadt mit, doch er meldet ihn ebenfalls den Cops, als er den Steckbrief entdeckt. Wieder entkommt Penney in letzter Sekunde, doch er ahnt, dass der Sheriff von Laney bestimmt Straßensperren hat errichten lassen. Seine Festnahme ist nur noch eine Frage von Minuten, als ein Militärpolizist anhält und ihn einlädt mitzufahren. Er habe sofort an seinem Gang und seinem Alter gesehen, dass er, Penney, ein Vietnam-Veteran sein müsse. Der Cop nennt sich Jack Reacher. Und er hat einen genialen Plan, um Penneys Leben wesentlich leichter zu gestalten – als Gefallen unter Militärkumpels…

Mein Eindruck

Zwei Drittel der Zeit fragt sich der Leser, ob dies wirklich eine Story ist, die in einen Jack-Reacher-Band gehört. Dann endlich, zwölf Minuten vor Schluss, kommt die frohe Bestätigung: Dies ist in der Tat eine astreine Reacher-Story, und eine verdammt witzige obendrein. Wieder einmal belegt sie, dass Reacher sein ganz eigenes Verständnis von Gerechtigkeit in modernen Zeit hat (siehe auch die letzte Story). Und dass er Veteranen, die schließlich bereit gewesen waren, ihr Leben für ihr Vaterland hinzugeben, grundsätzlich immer hilft – vorausgesetzt, sie haben es verdient.

Ganz nebenbei klagt der Autor eine himmelschreiende Ungerechtigkeit an: Penney wird nicht etwa wegen fehlender Fachkenntnisse gefeuert, sondern weil er sich zu oft krank gemeldet hat. Der Grund dafür war sein posttraumatisches Stresssyndrom (PTSS). Der Personalleiter ist so jung, dass er keine Ahnung hat, was Vietnam war noch was es ein PTSS sein soll. Sein Verhalten wirft ein Schlaglicht auf die Ungerechtigkeit der modernen Gesellschaft – und die findet sich sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien. Dort kümmert sich wenigstens die Stiftung von Prinz Harry um die PTSS-Veteranen, aber hierzulande gibt es meines Wissens keinen prominenten Schutzherrn.

7) Everyone Talks (2012)

Die Ich-Erzählerin ist eine Ermittlerin in einer beliebigen, ungenannten Stadt in den USA. Es ist der erste Tag ihres Dienstes und sie muss sich vor dem Kripo-Team beweisen. Ihr erster Fall: ein großer Mann mit einer Schusswunde. Alle Schusswunden müssen vom jeweiligen Krankenhaus gemeldet werden. Die Befragung dieses „Jack (kein Mittelname!) Reacher“ verläuft ungewöhnlich. Aber weil sie wie er ein Cop und dann auch noch neu im Job ist, hilft er ihr und beginnt zu erzählen, wie er zu der Schusswunde kam.

In einer Bar, die in der Nähe des Busbahnhofs lag, kam er einem Schutzgeld-Zahltag auf die Schliche. Er konnte alles vor seinen Augen ablaufen sehen: den Knochenbrecher, den Barbesitzer, dessen dicken Briefumschlag mit dem Schutzgeld, den Abgang des Abholers. Doch den ließ er nicht weit kommen, sondern prügelte aus ihm den Namen seines Auftraggebers heraus.

Unsere frischgebackene Detektivin ist auf eine Goldader gestoßen. Der Rädelsführer gibt alles zu, nur nicht, dass er diesen Riesen angeschossen habe. Was etwas seltsam ist, also geht die Detektivin im Krankenhaus nachsehen: Reacher ist weg, und die Ärztin hat ihn nie gesehen…

Mein Eindruck

Eine kurze Story von 20 Seiten, aber mit viel Charme, Spannung und einer witzigen Pointe. Die darf hier natürlich verraten werden.

8) Not a Drill (2014), sinngemäß: „Dies ist keine Übung“

Reacher reist an die kanadische Grenze und lässt sich per Anhalter in die Wälder von Maine mitnehmen. Dort wird er Zeuge, wie die Armee ein Waldstück absperrt, das seine zwei neuen Freunde gerade betreten haben. Nun sind sie auf einmal unauffindbar. Erst die Dritte im Bunde, die die zwei Wanderer an der Endstation abholen sollte und dort vergeblich auf sie gewartet hat, hilft ihm, das Rätsel zu lösen. Sie erforscht mit ihm die umliegenden Wälder unweit der kanadischen Grenze. Schon bald stoßen sie am Pfad auf ein unheilvolles Zeichen: zwei Rucksäcke, die sehr verlassen aussehen…

Mein Eindruck

General Tom O’Day ist dem Reacher-Fan bestens aus dem Band „Personal“ (dt. Titel: „Im Visier“) bekannt. In den Wäldern von Maine lässt er Menschen aus Flugzeugen abwerfen, Menschen, die in den Befragungszentren der CIA, die in Übersee betrieben werden, nicht mehr benötigt werden. Dieser überflüssige menschliche Ballast muss ja irgendwie und irgendwo „entsorgt“ werden, am besten in der Mitte von Nirgendwo.

Auf einen solchen entsorgten Kadaver stoßen Reachers Freunde. Weil eine der beiden eine kanadische Menschenrechtsaktivistin ist, weiß sie auch recht genau, wo sie suchen muss. An dieser Stelle macht sie Handy-Fotos und lädt sie auch gleich ins Internet hoch. Reacher macht sich hingegen keine Illusionen: Diese Menschenabwürfe sollen die Aktivisten, die sich darüber empören, nur von den richtig großen Sauereien ablenken, die die geheimen Dienste der US-amerikanischen Regierung täglich begehen.

9) Maybe They Have a Tradition (2016)

Von einer holländischen Stewardess bekommt Reacher ein Flugticket von New York nach Amsterdam geschenkt. Aber der Flieger muss wegen eines Schneesturms in Stanstead nördlich von London notlanden. Die Stewardess hat andere Aufgaben, deshalb will Reacher weiter nach Cambridge, wo es einige US-Stützpunkte gibt, von denen aus er zurückfliegen könnte.

Der Schnee macht ihm einen Strich durch die Rechnung, und er steigt mitten in der Pampa aus, als der Schnee das Taxi zur Umkehr zwingt. Lichter leuchten einladend aus einem Herrenhaus. Was er vorfindet, ist eine von den Dienstboten im Stich gelassene, alte Hausherrin, ein alter Hausherr und eine Stieftochter, die in den Wehen liegt. Diese behauptet, ein Diamant sei gestohlen worden. Kaum hat sich Reacher vorgestellt und einen Plan entworfen, entdeckt er im Schnee an der Begrenzungsmauer des Anwesens zwei halb erfrorene Gestalten: eine betagte Ärztin und einen Polizisten…

Mein Eindruck

Eine Weihnachtsgeschichte muss eine Geburt in der Geschichte aufweisen, und eine Reacher-Story ein Verbrechen. Beides kommt auf befriedigende Weise zusammen, doch für die Familie im Herrenhaus geht der Fall anders aus als erwartet…

10) Guy Walks into a Bar (2011)

Reacher sucht in New York City einen Musikschuppen und stößt in der Bleecker Street auf angenehme Klänge, die ihn ins Innere des Klubs locken. Sofort faszinieren ihn die Gäste, die er von seinem Beobachtungsposten charakterisieren und in eine Theorie einsortiert. Eine junge russische Prinzessin, d.h. Oligarchentochter, sitzt allein an einem Tisch, und himmelt den jungen Gitarristen an.

Der junge Weiße will so gar nicht zur den alten schwarzen Herrschaften passen, die den Rest der Band ausmachen. Außerdem sind da noch zwei Halbstarke in Lederjacken, die etwas vorhaben. Reacher tippt auf eine Entführung, um einen Streit zwischen Oligarchen zu Ende zu bringen. Doch seine Tattheorie weist einen schweren Fehler auf: Das auserkorene Entführungsopfer ist nicht die Prinzessin, sondern der Prinz…

Mein Eindruck

Der Titel deutet den Beginn eines Witzes an, doch wie so häufig, überrascht der Fort- und Ausgang der Story den Leser. Nicht gerade eine Weihnachtsgeschichte, aber mal wieder eine New-York-Story, und wieder eine, die an der Bleecker Street in Manhattan beginnt.

11) No Room at the Motel (2014)

Wieder mal in der Mitten von Nirgendwo, USA, gestrandet, nimmt sich Reacher ein Zimmer in einem Motel. Es ist Heiligabend und er rechnet damit, dass sich wegen des aufkommenden Schneesturms viele Reisende von der nahen Autobahn hier im Motel in Sicherheit bringen wollen. Er kalkuliert richtig. Zwei Stunden später, als er vom Abendessen zurückkehrt, sind alle Zimmer belegt. Nur eine hochschwangere Frau und ihr Gatte stehen vorm Empfang und fragen sich, was werden soll. Reacher „tauscht“ mit ihnen das Zimmer gegen eine Nacht in ihrem Auto. Die Frau nimmt dankbar an, zusammen gehen sie ins Zimmer. Doch Reacher denkt gar nicht daran, sich in einem Auto den Tod zu holen…

Mein Eindruck

Eine weitere Weihnachtsgeschichte, doch diesmal ohne Gewalt, und von daher ziemlich langweilig. Wer an Bethlehem denkt, liegt genau richtig.

12) The Picture of the Lonely Diner (2015)

Reacher steigt in Manhattan an der 23. Straße aus der U-Bahn und findet den Ausgang abgesperrt: polizeiliches Absperrband verbietet den Zugang. Alle anderen Zu- und Ausgänge sind ebenfalls abgesperrt. Er wagt sich vorsichtig nach draußen. Statt blutigem Chaos findet er gähnende Leere und bedrohliche Stille vor. Ist er im falschen Film? Diese Stelle vor dem Flatiron Building sollte bersten vor Leben.

Als er eine Frau vor dem unverkennbaren Flatiron Building entdeckt, geht er auf sie zu. Sie identifiziert sich als FBI-Agentin und verlangt seine Identität. Kein Problem. Er beruft sich auf die Verfassung. Und was macht er hier bei einem FBI-Einsatz? Er will sich nur ansehen, wo Edward Hoppers berühmtes Gemälde „Nighthawks“ entstand, nämlich genau hier. Und sie? Sie will einen Verräter entlarven. Reacher beschließt, ihren Plan abzuändern und mischt sich ein…

Mein Eindruck

Neben dem etwas surrealen Kunstbezug auf Hopper liefert diese kurze Story einen versteckten Hinweis auf den russischen Einfluss auf die US-amerikanische Politik, und das bereits ein Jahr, bevor Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde. Der Kommentar der FBI-Agentin: „Wir rutschen nicht zurück in die 1980er Jahre [als Reagan regierte], sondern in die 1930er Jahre [als Stalin an die Macht kam und mit ihm der Geheimdienstchef Berija].“ Das ist schon ein ziemlich bissiger Kommentar. Er wird ergänzt durch die letzten Sätze, die den angebliche Verräter von sich gibt. Er will sich nicht von Reacher „retten“ lassen, denn seine Lage sei aussichtlos. Es gehe nicht darum, ihn zu überführen, sondern darum, ihn „zufällig“ zu liquidieren. Wie einst bei Berija.

Unterm Strich

Ich habe den Erzählband in nur wenigen Tagen gelesen. Die ersten zwei Drittel sind mit spannenden Novellen gefüllt, deren innere Spannung sich mit gewohnter Konsequenz aufbaut und die stets in einem gewohnt gewalttätigen oder witzigen Finale endet. Das restliche Drittel ist mit Kurzgeschichten gefüllt, die zweimal an die Weihnachtsgeschichte angelehnt sind und einmal an einen Witz erinnern. „Not a Drill“ wurde übrigens schon einmal als Bonus in dem Roman „Personal“ („Im Visier“) veröffentlicht, ist aber dennoch erstklassiger Reacher.

Der Band eignet sich nicht nur für eingefleischte Reacher-Fans, für die der Held eh nichts falsch machen kann. Sie lernen etliche Episoden aus seiner Lebensgeschichte kennen, besonders aus seinen jungen Jahren („Second Son“). Die Leser, die Reacher noch kennenlernen wollen, weil sie von den Tom-Cruise-Verfilmungen auf den Geschmack gebracht wurden, lernen einen Ex-Militär-Cop kennen, der ein echter Freund der Frauen (seine Mutter war Französin!) und ein gewiefter Feind der Bösen ist.

Aber er gerät immer wieder in unentschiedene Situationen, in denen seine Entscheidung den Ausschlag gibt. So etwa mitten in New York City, das wie eine No-Go-Area abgesperrt worden ist – ein angeblicher Verräter sitzt mittendrin. Dann wieder muss er entscheiden, ob er einem ungerecht behandelter Militärveteranen helfen will, seinen Häschern zu entkommen, oder nicht. Seine schwierigste Entscheidung, so würde man erwarten, ist die, seinen eigenen Bruder Joe als Mörder zu enthüllen oder nicht.

Wie gesagt, bleibt es fast durchweg spannend und interessant. Auch wenn es mal, wie in „James Penney“, nicht so aussieht, als würde Reacher überhaupt noch auftauchen. Nur die Weihnachtsgeschichten fallen inhaltlich dagegen ab, aber sie zielen ja auch auf eine ganz andere Zielgruppe als Leser im Militär. Wenn in einer Geschichte schwangere Frauen auftauchen, ist dies ein deutliches Signal an den (männlichen) Leser, dass es hier um etwas anderes geht als um eine Kneipenschlägerei…

Taschenbuch: 447 Seiten plus Leseprobe aus „The Midnight Line“,
Originaltitel: No Middle Name
ISBN-13: 9780857503947

www.penguin.co.uk

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