Lee Child – Größenwahn (Jack Reacher 1)

Geburt eines Serienhelden: Jack Reacher räumt auf

Jack Reacher, genießt gerade die ersten sechs Monate der Freiheit nach 30 Jahren im Militär. In Margrave, Georgia, wird er von der Polizei wegen Mordes verhaftet. Er soll in einem Lagerhaus an der Autobahn einen Mann erschossen haben. Er muss seine Unschuld beweisen und herausfinden, wer der Ermordete war. Wie sich herausstellt, muss er für dieses Ziel sämtliche Verbrecher von Margrave ausschalten. Aber ein Mann wie Reacher findet selbst im Sumpf von Margrave Freunde und Helfer…

Der Autor

Lee Child verdankt seine außerordentliche Karriere als Krimiautor einer eher unangenehmen Lebenssituation: 1995 wurde ihm wegen einer Umstrukturierung sein Job beim Fernsehen gekündigt. Der Produzent so beliebter Krimiserien wie „Prime Suspect“ („Heißer Verdacht“) oder „Cracker“ („Für alle Fälle Fitz“) machte aus der Not eine Tugend und versuchte sich als Schriftsteller. Was selbst wie ein Roman klingt, entspricht in diesem Fall der Wahrheit: Bereits mit seinem ersten Thriller um den Ermittler Jack Reacher landete Child einen internationaler Bestseller. Er war zugleich Auftakt der heute mehrfach preisgekrönten „Jack-Reacher“-Serie. Child, der 1954 in Coventry in England geboren wurde, ist heute in den USA und Südfrankreich zu Hause. (Amazon.de)

1) Größenwahn (Killing Floor, 1997)
2) Ausgeliefert (Die Trying, 1998)
3) Sein wahres Gesicht (Tripwire, 1999)
4) Zeit der Rache (Running Blind/The Visitor, 2000)
5) In letzter Sekunde (Echo Burning, 2001)
6) Tödliche Absicht (Without Fail, 2002)
7) Der Janusmann (Persuader, 2003)
8) Die Abschussliste (The Enemy, 2004)
9) Sniper (One Shot, 2005)
10) Way Out (The Hard Way, 2006)
11) Trouble (Bad Luck and Trouble, 2007)
12) Outlaw (Nothing to Lose, 2008)
13) Underground (Gone Tomorrow, 2009)
14) 61 Hours (61 Hours, 2010)
15) Wespennest (Worth Dying for, 2010)
15.5. Second Son (2011)
16. The Affair (2010)
16.5. Deep Down (2012)
17. A Wanted Man (2012)
17.5. High Heat (2013)
18. Never Go Back (2013)
18.5. Not a Drill (2014)
19. Personal (2014)

Handlung

Jack Reacher sitzt gerade bei einem späten Frühstück in Eno’s Diner, als die Polizei anrückt. Erst ist die ganzen 14 Meilen von der Autobahn, wo der Bus aus Tampa, Florida, ihn absetzte, bis nach Margrave, Georgia, gelaufen. Für einen Exsoldaten ist das nichts Besonderes. Aber für die Cops macht diese Tatsache ihn umso verdächtiger, denn direkt an der Autobahn liegt das Lagerhaus, in dem letzte Nacht ein Mord geschah. Und Polizeichef Morrison ist überzeugt, dass es nur Reacher gewesen sein kann. Also landet Reacher unter schwerer Bewachung in einer Zelle der Polizeiwache.

Aber das erste Verhör verläuft ganz anders als es sich Chefinspektor Finlay vorgestellt hat. Dieser Reacher ist ein echt schräger Vogel. Er hat keinerlei Gepäck, keine Adresse außer „das Militär“, keinen Personalausweis oder Pass, nur ein wenig Bargeld. Und überhaupt ist seine Ausrede, nach Margrave gekommen zu sein, höchst fadenscheinig: „Ich suchte Blind Blake.“ Blind wer? Es handelt sich um einen Blues-Gitarristen, der vor rund sechzig Jahre hier in Margrave zu Tode kam und über dessen Tod gewisse Gerüchte kursieren.

Reacher, der selbst 20 Jahre lang als Militärpolizist diente, erweist sich als besser im Kombinieren von Details als Finlay, der 20 Jahre lang in Boston als Detective gearbeitet hat – und dann in diesem Kaff im Nirgendwo gelandet ist. Nach einigen Auseinandersetzungen kommen Reacher und Finlay endlich zur Hauptsache: Wer ist der Tote im Lagerhaus und warum soll ausgerechnet ein frisch Zugereister ihn auf dem Gewissen haben?

Für Reacher ist bald klar, dass an dem Mord drei Täter beteiligt waren: 1.) ein kalter, professionell arbeitender Killer, der nach verrichteter Arbeit abhaute; 2.) ein psychopathischer Mann, der dem bereits Getöteten mit Tritten und Schlägen jeden Knochen im Leib brach; und 3.) ein wesentlich sanfterer Mann, der die Leiche zudeckte. Es gibt nur einen Hinweis auf die Identität des Toten: Auf einem kleinen Zettel steht eine Handynummer und das Wort PLURIBUS. Als Reacher vorschlägt, dort doch einfach mal anzurufen, meldet sich einer der angesehensten Bürger des Städtchens.

Paul Hubble lebt den Yuppie-Traum: Arbeit in der großen Stadt als Banker, nette Familie mit Kids, wunderschönes Häuschen am Stadtrand und zwei Bentleys in der Garage, jeder mindestens 100.000 Dollar wert. Aber Hubble verhält sich seltsam, als er auf der Polizeiwache aussagen soll. Gefragt, was seine Telefonnummer im Schuh einer Leiche zu suchen hat, gesteht Hubble einfach den Mord! Reacher fragt sich, ob Hubble der dritte Mann war.

Reacher soll zusammen mit Hubble die Nacht im Knast von Warburton verbringen. Die Polizistin Roscoe hat ein Auge auf den baumlangen Reacher geworfen und gibt ihm Kaffee und Tipps. Deshalb ist Reacher vorgewarnt, als er mit seinem Begleiter spätabends eingeliefert wird. Er nimmt an, dass sie beide in den obersten Stock zu den Arrestzellen für noch nicht Verurteilte gebracht werden. Doch am nächsten Morgen stellt sich heraus, dass dies mitnichten der Fall ist. Diese Etage des Knasts ist für Lebenslängliche reserviert, für Mörder und Vergewaltiger.

Hubble, der sich mit Gefängnissen nicht gerade gut auskennt – er hat noch nie eins von innen gesehen – ahnt nicht, was auf ihn zukommt. Drei schwarze Muskelpakete entdecken die zwei Frischlinge und machen sofort klar, dass sie hier das Sagen haben. Während Hubble klein beigibt, hat Reacher einen ganz anderen Plan. Er geht zum Angriff über…

Mein Eindruck

Dies ist der Roman, der Jack Reacher auf die Landkarte des Thriller-Universums setzte und in den Bestsellerlisten etablierte. Inzwischen sind 19 Bände mit Reacher erschienen, doch es gibt nur eine Verfilmung, ausgerechnet mit dem schwarzhaarigen, kleinwüchsigen Tom Cruise. Reacher selbst ist das genau Gegenteil, wie man seinen Körperdaten entnehmen kann, die am Schluss der Originalausgabe stehen: etwa zwei Meter groß (6 ft 5 in.) und blond.

Als Ex-Militärpolizist ist Reacher eine einzigartige Kombination unter den Ermittlern. Er kennt sich bestens mit Ermittlungsmethoden aus, denn er hat schon sowohl Morde aufzuklären gehabt als auch Deserteure aufspüren müssen. Zweitens ist ihm keine Kanone zu groß, und von Roscoe (die nie einen Vornamen erhält) bekommt er eine ganz besonders große Wumme: eine israelische .44 Desert Eagle, deren Lauf allein schon über 30 Zentimeter lang ist und ungefähr eine halbe Tonne wiegt. Ein Spielzeug in Reachers Hände, wie sich später erweist.

Bald ist klar, dass Reacher hereingelegt werden soll, um ihm einen besonders üblen Mord anzuhängen. Wem kann Reacher hier vertrauen? Es sind nur drei Leute, denkt er, doch da liegt er falsch: Es sind nur zwei. Hubble verrät nur soviel, dass der Tote ebenfalls ein Ermittler war, aber einer von der Regierung. Roscoe und Finlay helfen, den Mann zu identifizieren. Als Reacher beim Leichenbeschauer das Fax aus der Hauptstadt erhält, haut es ihn erst einmal um. Es handelt sich um den einzigen Menschen auf der Welt, der ihm je etwas bedeutet hat. Nun ist der ganze Fall persönlich, sehr persönlich. Reacher setzt alles daran, die Täter zur Verantwortung zu ziehen.

Aber was wollte der Ermittler in einer auffällig sauberen Kleinstadt wie Margrave, die 14 Meilen von der nächsten Autobahn mitten im Nirgendwo liegt, fragt sich Reacher. Die Antwort, das liegt auf der Hand, kann sich nur im Lagerhaus befinden, wo der Mord geschah. Aber der Ort ist schwer bewacht, und da die Polizei mitsamt dem Bürgermeister in der Verschwörung drin hängt, muss Reacher erst die Wächter beseitigen, bevor er quasi die Burg angreifen kann.

Ein grauenhafter Mord, das Verschwinden Hubbles, die Entführung von Roscoe und Mrs. Hubble sind nicht gerade hilfreich, um Reacher die Arbeit zu erleichtern. Immer wieder vertraut er den falschen Leuten, zieht falsche Schlüsse und muss sozusagen auf die harte Tour herausfinden, was in Margrave eigentlich vor sich geht. Zwei alte schwarze Barbiere sind ihm dabei eine erstaunlich große Hilfe. Mit ihrer Hilfe findet er sogar die Wahrheit über den Tod von Blind Blake heraus – eine besonders anrührende Szene.

Der Showdown im Lagerhaus ist so explosiv, packend, actionreich und dramatisch, wie man es sich als Thrillerfreund nur wünschen kann. Eins ist klar: Nach diesem Buch ist man nach Jack Reachers Abenteuern süchtig.

Unterm Strich

Ein Jack Reacher Thriller ist stets eine ungewöhnliche Lektüre. Reacher zieht immer andere Schlüsse als erwartet, ermittelt völlig anders als zivile Cops und vollstreckt Gerechtigkeit immer von eigener Hand. Klar, dass er danach immer danach strebt, möglichst schnell unterzutauchen. Diese Selbstjustiz ist nicht meine Sache und dürfte vielen europäischen Lesern nicht schmecken. Aber sie hat Reacher eine riesige Fangemeinde eingebracht, besonders in den USA, wo ja Waffenbesitz und bewaffnete Selbstverteidigung von der Verfassung verbriefte Rechte sind. Wenigstens vollstreckt Reacher seine Gerechtigkeit erst, als die ganze Sache ihn ganz persönlich angeht.

Frauen & Gerechtigkeit

Aber diese Stärke finden offenbar Reachers Frauen besonders attraktiv. Roscoe, die nie einen Vornamen erhält, ist so eine. Sie macht ihre Sympathie schon beim Abnehmen der Fingerabdrücke des Fremden sichtbar. Es entwickelt sich eine heiße Liebesaffäre mit Reacher, die in einer Nacht den beiden das Leben rettet. Dass sie am Ende ganz unterschiedliche Lebensziele haben, die ein weiteres Zusammengehen verhindert, dürfte nicht verwundern. Reacher ist nun mal ein Wanderer, ähnlich wie Clint Eastwoods „Pale Rider“, ein Außenseiter, der seine eigene Art von Gerechtigkeit vollstreckt. Er ist ein Odysseus, doch Roscoe ist keine Nausikaa.

Die Wahrheit

Um welches Verbrechen es sich in Margrave handelt, das die gesamte Stadt involviert, darf hier nicht verraten werden. Aber es hat Dimensionen angenommen, die die Finanzwirtschaft der Vereinigten Staaten bedrohen – ziemlich erstaunlich für ein kleines Städtchen. Den Action-Showdown fand ich extrem spannend und zufriedenstellend, aber so richtig im Gedächtnis geblieben ist mir eher die anrührende Szene, als eine neunzigjährige Frau, die früher mal in Margrave Klubs sang, Reacher die Wahrheit über den Tod des (fiktiven) Blues-Gitarristen Blind Blake offenbart. Der Mittäter läuft bis heute frei herum und beherrscht die Stadt. Ein Grund mehr, diesem ganzen Spuk ein Ende zu bereiten.

Kritik

Ganz nebenbei enthält der Thriller auch eine ätzende Kritik an den Besitzverhältnissen in den USA. Hier die vielen Armen, über die ein zwielichtiger Segen der Wohltätigkeit niedergeht, dort die wenigen Besitzenden, die schalten und walten können, wie es ihnen beliebt. Sie haben FBI-Beamte in der Hand, Politiker und wahrscheinlich auch Regierungsbeamte. Recht und Gesetz sind besonders und gerade in den USA eine Frage des Geldes. Das macht bereits Reachers Zeitungslektüre auf den ersten Seiten klar: Die Küstenwache ist zu teuer und soll ihre Kontrollfahrten gegen Kokain- und Menschenschmuggler einstellen, sagt der Präsident. Dass auf jeden so gesparten Dollar zehn Dollar Aufwand für die Strafverfolgung zu zahlen sind, erfahren wir nur von Reacher.

Ich habe den Roman in wenigen Tagen verschlungen. Ich bin sicher, man kann die gut 500 Seiten auch in nur einem Tag schaffen. Und danach ist man süchtig nach Reacher.

Taschenbuch: 480 Seiten
Info: Killing Floor, 1997
Übersetzung: Marie Rahn
ISBN-13: 978-3453879577

www.heyne.de

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