Manchette, Jean-Patrick – Volles Leichenhaus

Der Name Jean-Patrick Manchette (1942 – 1995) ist eng mit der Erneuerung des französischen Krimis verknüpft. Er gilt als Begründer des Neo-Polar, der französischen Antwort auf amerikanische hard-boiled Krimis. Seine Krimis zeichnen sich durch knappen Schreibstil, Sozialkritik und bitterbösen Humor aus. Er hat aber nicht bloß die amerikanischen Tradition von Raymond Chandler oder Dashiell Hammett auf französischen Boden gepflanzt, sondern diesen lakonischen Schreibstil in die Post-68er-Ära übertragen. Seine Romane sind von seiner Verachtung gegen die Bourgeoisie durchzogen, deren moralischen Abgründe er bloßlegt. Dieses Thema verbindet ihn mit Chabrol, der auch Manchettes Roman „Nada“ verfilmte.

Manchette schrieb zehn Krimis, davon einige mit dem erfolglosesten Privatdetektiv aller Zeiten: Eugène Tarpon. Ferner arbeitete er noch als Drehbuchautor, denn neben der Literatur waren das Kino und der Jazz große Leidenschaften von Jean-Patrick Manchette. Und diese Leidenschaften passen wunderbar zusammen: Sein Schreibstil ist schnell und actionreich und bietet sich als Filmvorlage an. Und über allem schwebt ein leichter Hauch von Miles Davis.

Jean-Patrick Manchette starb im Alter von nur 52 Jahren in Paris. Die Romane wurden und werden vom |DistelLiteraturVerlag| (|DLV|) neu übersetzt und veröffentlicht, ältere Veröffentlichungen erschienen bei |Lübbe| und |Ullstein|.

Helden in der Tradition Chandlers und Hammetts sind Männer, die einen „Sinn für Charakter und Ehre“ haben, „nicht wissen, was (ihre) Aufgabe ist“, „einsam“ sind und deren „Stolz darin liegt, daß man (sie) wie einen stolzen Mann behandelt, oder es tut einem verdammt leid, daß man ihm überhaupt über den Weg gelaufen ist“. Sie sprechen, wie „Männer ihres Alters reden, das heißt mit rauhem Witz, mit einem lebhaften Sinn für das Groteske, mit Abscheu für Heuchelei und mit Verachtung für Kleinlichkeit.“ Sie erscheinen „in ihrer geschäftlichen Erfolgslosigkeit fast wie sozial Deklassierte“. Ihre Einmischung oder Beteiligung beginnt eher zufällig, sie werden hineingezogen und sind aktiv am Geschehen beteiligt, ohne eine Reflektion des Falles. Auf ihrer Suche nach der verborgenen Wahrheit begegnen sie der Gewalt, und Gewalt durchdringt den gesamten Alltag, in dem die Handlung angesiedelt ist (Zitate aus Chandlers Essay „The Simple Art of Murder“).

Manchettes Held Eugène Tarpon wird mit dieser Charakterisierung gut getroffen: Er ist ein ehemaliger Gendarm, d.h. er war Teil einer Ordnungsmacht, die „in Mannschaftsbussen ohne Toiletten kaserniert“ wurden und „hin und wieder Arbeiterdemonstrationen auseinandertrieben“. Während eines solchen Einsatzes tötete Tarpon einen Menschen und quittierte den Dienst. Er wird Privatdetektiv („Im wirklichen Leben beschäftigt sich ein Privatdetektiv mit Scheidungen, Geschäftsüberwachungen, und, wenn er besser dasteht als ich, mit Wirtschaftsspionage. Nicht mit Gewaltverbrechen, … denn dann muß man die Polizei rufen … „) und hält sich mit kleinen Aufträgen mehr schlecht als recht über Wasser. Man merkt ihm noch die Gewohnheiten eines kasernierten Gendarmen an, denn er spült sein Geschirr gleich nach der Benutzung oder baut sein Schlafsofa nach dem Aufstehen ordentlich zusammen. Er ist erfolglos, hat so wenig zu tun, dass sogar sein Papierkorb leer bleibt, während sich sein Kopf mit einem Nebel düsterer Melancholie füllt. Doch anstatt sich aus dem Fenster zu stürzen, tut er etwas viel Schlimmeres: Er ruft seine Mutter an und erklärt ihr, er wolle zu ihr in die Provinz zurückkehren, will wieder heim zu Muttern. Kann man tiefer fallen? Wenig später steht ein Mädchen vor seiner Tür und bittet um seine Hilfe, weil ihre Freundin ermordet wurde. Tarpon lehnt genervt ab und stolpert dennoch in eine unübersichtliche Geschichte hinein, bei der er wenig gewinnen kann – außer der Entdeckung eigener verschütteter Gefühle.

Seine Motivation ist unklar, sein Einmischen könnte er selbst nicht begründen, und trotzdem ist er mit einem Male mitten in einem Fall. Er stolpert von Situation zu Situation, mehr ein Getriebener als einer, der die Geschichten aktiv antreibt. Er muss Prügel einstecken und kann sich selten dafür revanchieren. Er ist zynisch und ohne Illusionen, aber eine begonnene Aufgabe wird trotz aller Gegenreaktion und Gewalt zu Ende gebracht. Manchette knüpft, wie eingangs ausgeführt, an die Tradition von Raymond Chandler und Dashiell Hammett an und findet eine moderne, auf Europa zugeschnittene Form des amerikanischen „hard-boiled“ Krimis, nämlich die starke Verankerung in der Geschichte sowie im sozialen und politischen Alltag Frankreichs. „Volles Leichenhaus“ deutet diese politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen an: Besatzungszeit, die Nazis, die Kollaborateure und die alten Kameraden sowie die Unterdrückung und Ausbeutung der sozial Schwachen („…Ich jagte bedauernswerte idiotische Penner, um zu verhindern, daß sie Besitzende … um ihren Besitz brachten; …während Drogenhändler in der Nationalversammlung und sonstwo saßen …). Die Integration der Kritik an gesellschaftlichen Missständen in einen Kriminalfall ist nicht neu. Aber bei Ross Thomas, um einen dieser Autoren zu nennen, spielen die Protagonisten am Ende das schmutzige Spiel mit! Die zunächst nur am Rande blitzlichtartig erleuchteten politischen und historischen Themen bilden zum Ende den gesellschaftspolitischen Kosmos, den Tarpon, erheblich Federn lassend, in diesem Roman durchstreift und durch den er traurige Berühmtheit erlangt.

Manchette erzählt seine Geschichte sehr filmisch, mit knappen Beschreibungen, knappen Dialogen und einem trockenen Wortwitz. Die erste Szene mit dem „Heuler“ gehört wohl zum Absurdesten, was jemals in einem Krimi zu lesen war, und die dilettantische Entführung Tarpons mit zum Komischsten. Manchettes Stil ist lakonisch, trocken und trotzdem packend. „Volles Leichenhaus“ wird in einem Sog erzählt, der den Leser mitreißt und ihn nicht ruhen lässt, bis die 200 Seiten verschlungen sind. Eugène Tarpon macht süchtig … nach mehr Geschichten um Eugène Tarpon.

_Claus Kerkhoff_ © 2000
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de veröffentlicht.|