McGregor, Elizabeth – Eiskind, Das

Das Schicksal eines an einer Knochenmarkskrankheit leidenden Kindes ist auf vielschichtige Weise mit dem Schicksal der verhängnisvollen Expedition John Franklins verknüpft, der 1845 bis 1848 die Nordwestpassage durch die Arktis suchte. Ein spannender und sehr bewegender Roman, der Geschichtsdoku und Schicksalsdrama kombiniert.

_Die Autorin_

Elizabeth McGregor wurde in Warwickshire, Südwestengland, geboren und lebt heute mit ihrer Tochter in Dorchester. Für „Das Eiskind“ recherchierte sie u. a. am „Scott Polar Research Institute“ in Cambridge. Für ihre Kurzgeschichten und ihre psychologischen Krimis wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

_Handlung_

Der Roman besteht aus drei Erzählsträngen. In der Gegenwart stehen eine junge Journalistin, ein Archäologe und eine Eisbärin im Vordergrund. Dazwischengeschaltet sind längere Rückblenden auf die Jahre 1845 bis 1848, auf die verhängnisvolle Expedition John Franklins, die die Nordwestpassage erschließen sollte und im Eis spurlos verschwand.

Doch zunächst zur Gegenwart. Die englische Journalistin Jo Harper, 27 Jahre jung, hätte es beinahe abgelehnt, eine Reportage über einen der berühmtesten Archäologen, den Briten Douglas Marshall, zu schreiben. Er hat sich gerade in Grönland das Bein gebrochen. Auf einem Kriegsschiff, das ihn zurückbringt, begegnen sich Jo und Doug zum ersten Mal. Ihre Reportage macht ihn noch bekannter.

Er arbeitet seit Jahren an einem Forschungsprojekt über die legendäre Franklin-Expedition. In der Zeit seiner Genesung lernen sie sich näher kennen. Er steht kurz vor der Scheidung von seiner Frau Alicia, von der er schon fünf Jahre getrennt lebt. Nicht alles steht zum Besten in der Familie Marshall. Auch sein Sohn John, der sich ebenfalls für die Franklin-Expedition interessiert, lehnt Doug ab – er will ihn nämlich übertrumpfen und so dafür bestrafen, dass er ihn als Kind ständig vernächlässigte.

Als Jo von Doug ein Kind erwartet, wollen die beiden heiraten, doch bei dem Versuch, sich am Hochzeitstag auf Jos Bitte hin mit John zu versöhnen, geraten die beiden Männer auf die eisglatte Straße, auf der ein junger Autofahrer nicht mehr rechtzeitig bremsen kann.

John überlebt, doch sein Vater nicht. Jos Kind Sam wächst als Halbwaise auf. Er ist ihr Trost in ihrem Unglück, bis sich herausstellt, dass Sam unheilbar krank ist (es gab schon früh im Buch Verweise auf Leukämie). Und dass sein Halbbruder John seine einzige Rettung sein könnte.

Doch John weilt im ewigen Eis: auf den Spuren der Franklin-Expedition, denn er will um jeden Preis die ehrgeizige Mission seines Vaters erfüllen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, bei dem nicht nur Sam, sondern auch John sein Leben verlieren könnte …

Kurze Einschübe erzählen vom Leben einer bemerkenswerten Eisbärin, die von den Fotografen und Biologin schlicht „Die Schwimmerin“ genannt wird: Sie schwimmt eben gut. Aber nicht blindlings kreuz und quer durch die Arktis. Sie folgt den Spuren der Franklin-Expedition.

Und so wird die Bärin zum Bindeglied zu der dritten Erzählebene: die Schilderung des verhängnisvollen Verlaufs jener zunächst stolzen viktorianischen Expedition, die die Nordwestpassage nach Indien finden sollte, mit zwei modernen dampfgetriebenen Schiffen und 129 Männern an Bord. Wir verfolgen die Fahrt ins Ungewisse mit den Augen des jungen Matrosen Augustus Peterman und Käptn Croziers von der „Terror“.

Doch als sich im ersten Winter zu spät herausstellt, dass die Dosennahrung verdorben ist und die Männer sowohl an Tuberkulose wie auch an Bleivergiftung sterben, kommt noch eine schwere Fehlentscheidung John Franklins hinzu: Er steuert seine zwei Schiffe „Terror“ (= Schrecken) und „Erebus“ (= Dunkelheit) mitten ins dickste Packeis. Die zweite Überwinterung im ewigen Eis fordert schwere Opfer.

Nachdem Franklin an Bleivergiftung und Botulismus gestorben ist, machen sich die Überlebenden unter Käptn Crozier auf in Richtung Süden, um zu den Forts der Hudson Bay Company zu gelangen. Es wird ein Todesmarsch, von dem keiner mehr zurückkehrt.

_Mein Eindruck_

In diesem vielschichtigen Roman kombiniert die Autorin auf gewagte Weise gut recherchierte Geschichtsdokumentation mit tränenschwangerer Seifenoper. In der Ausführung dieser heftigen Mischung schrammt sie ganz knapp am Schiffbruch vorbei (ein recht passendes Bild, wie mir scheint). Ob man das menschliche Drama um Jo Harper akzeptiert und nacherlebt, hängt ganz davon ab, ob der Leser oder die Leserin selbst schon Kinder hat oder nicht.

|Ein Geflecht von Parallelen|

Es geht um nichts Geringeres, als zu zeigen, wozu Menschen – und Eisbären – in ihrem Kampf ums Überleben imstande und bereit sind. Alle Figuren sind in diesem thematischen Bezugsrahmen durch ein dichtes Geflecht von Parallelen, Querverweisen und symbolischen Analogien miteinander verbunden.

Jo Harper kämpft um ihren kleinen Sohn Sam, der an aplastischer Anämie, einer Knochenmarkskrankheit, leidet. Zehntausende Menschen teilen sein Schicksal, und die Autorin hat zwei entsprechende Familien besucht und mit ihnen gesprochen. Wie verträglich transplantiertes Knochenmark ist, hängt davon, wie eng verwandt die DNS von Spender und Empfänger ist. Sams idealer Spender ist John Marshall, der ist auf eine Selbstmordmission in die Arktis aufgebrochen. Die Erzählung schildert detailliert, kenntnisreich und sehr anrührend, wie Jos Kampf in der Realität aussieht und was John dazu getrieben hat, in die „weiße Wüste“ zu ziehen.

Jo findet ihre Entsprechung in der Eisbärin. Die Schwimmerin zieht zwei Junge auf und verteidigt sie gegen hungrige Männchen und zudringliche Menschen mit ihrem Leben. Ihr Lebens-Lauf führt sie direkt mit John Marshall zusammen, wobei er fast unter ihrer Attacke stirbt.

Der Überlebenskampf und Lebens-Lauf der Bärin findet seine Entsprechung in der unglücklichen Expedition John Franklins und dem anschließenden Todesmarsch der Überlebenden. Dabei ähnelt die geistig-moralische Haltung von Männern wie Peterman und Crozier, die gegen innere Krankheiten ebenso ankämpfen wie äußere Gefahren (Kälte, Eis, Wind), der Haltung Jo Harpers: Es ist unter anderem auch der Kampf gegen die Versuchung, einfach aufzugeben.

Das Einzige, was die Menschen von diesem Schritt abhält, ist der winzige Funke Hoffnung, der „letzte Strohhalm“, dass es noch Rettung geben könnte. Für Jo besteht dieser Strohhalm darin, den verschwundenen John Marshall zu finden, für die Männer der „Terror“ darin, überhaupt Menschen zu finden. Sie finden durchaus zweimal „Esquimaux“, doch beim ersten Mal vertreibt ein Gewehrschuss die Inuit, und beim zweiten Mal verschreckt der Anblick der unter Skorbut leidenden Überlebenden die zur Hilfe bereiten Eingeborenen.

|Anteilnahme oder lieber doch nicht?|

In dieser ungewönlichen Kombination aus Geschichtsdoku und Schicksalsdrama hat mir als Nicht-Elter eindeutig die fiktionale Dokumentation weitaus besser gefallen. Denn angesichts der herzzerreißenden Szenen, die in Sams Krankenzimmer etc. stattfinden, kann man sich nicht auf einen Beobachterposten zurückziehen. Entweder nimmt man an diesem Schicksalsdrama voll teil – und das können Eltern wohl nachvollziehen – oder man zieht sich voll Unbehagen davon zurück. Das ist natürlich leichter gesagt als getan.

In jedem Fall aber will man gegen Schluss wissen, wie die Geschichte ausgeht, und hier macht die Erzählerin ihre Sache einigermaßen gut. Lediglich das Hinundherspringen zwischen allen drei Handlungsebenen könnte etwas nerven.

|Die Karte|

Im Buch eine Landkarte abgedruckt: Sie zeigt das polare Gebiet, in dem die Franklin-Expedition strandete und wo auch fast John Marshall gestorben wäre. Der dokumentierte Weg ist ebenso eingezeichnet wie auch der von der Autorin vermutete und fiktional untermauerte Weg.

Leider weist die Karte weder einen Maßstab noch ein Längenmaß auf, noch ist eine Himmelsrichtung eingezeichnet. Wir müssen einfach mal annehmen, dass „oben“ Norden ist. Welche Ausmaße die Landmassen und Strecken haben, kann man hingegen nur aus dem Text ableiten. Eine recht amateurhafte Arbeit, diese Karte.

_Unterm Strich_

Es ist nicht einfach, einem Buch, das in der Rezeption in so hohem Maße auf die individuelle Lesererfahrung angewiesen ist, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wer für Schicksalsdramen à la „Das Lazaruskind“ oder „Lorenzos Öl“ etwas übrig hat, wird von den entsprechenden Szenen, die zuhauf vorkommen, zu Recht bewegt sein.

Wer sich lieber an historisch verbürgte Tatsachen hält, die von der Autorin fiktional weiterentwickelt wurden, der wird in der Geschichtsdoku über die Franklin-Expedition größere Befriedigung seiner Leserneugier finden. Als Bindeglied hat die Autorin einen Schuss Mystik, man könnte auch sagen: Metaphysik, eingefügt.

|Zum Titel|

Es gibt eine ganze Reihe von „Eiskindern“ in diesem Buch. Da wäre natürlich einmal Sam, der Sohn eines Grönlandforschers. Und da wäre sein Halbbruder John, der im Eis fast umkommt, als er die Mission seines Vaters zu erfüllen sucht. Und da ist Gus Peterman, der junge Matrose von der „Terror“, der – vermutlich – im Eis umkam (Peterman ist eine erfundene Gestalt). Und da gibt es die Jungen der Eisbärin. Allesamt machen sie die Bedeutung dieser polaren Region für den Rest der Welt deutlich.

Zum Abschluss des Buches kann man sich zwecks Entspannung eine deutsche New-Wave-Platte gönnen: „Ich möchte ein Eisbär sein … am kalten Polar …“

|Originaltitel: The Ice Child, 2001
Aus dem Englischen übersetzt von Gloria Ernst|