O. R. Melling – Im Schatten des Elfenmonds

Wanted: die Braut des Elfenkönigs

Eine große Faszination für das Elfenvolk verbindet die Amerikanerin Gwen mit ihrer irischen Cousine Findabhair seit frühester Kindheit. Lange haben sie ihre Rucksackreise in Irlands verborgene Welt, an die mystischen Orte der Feenverehrung geplant. Sie wissen nicht, dass Finvarra, der verführerische Herrscher des Elfenreichs, auf der Suche nach einer menschlichen Braut ist und die Mädchen bereits erwartet. Als Findabhair eines Nachts von ihm entführt wird, bleibt Gwen allein zurück. Entschlossen macht sie sich auf den Weg, Findabhair wiederzufinden. Ihre Suche führt sie an die entlegenste Küste Irlands, nur um vor eine schreckliche Wahl gestellt zu werden.

Die Autorin

O. R. Melling wurde in Irland geboren, wuchs aber mit ihren sieben Schwestern und zwei Brüdern in Kanada auf. Sie versteht sich auf irische Volkstänze ebenso wie auf irische und keltische Kulturgeschichte oder Philosophie. Sie reist leidenschaftlich gern durch alle Teile der Welt. Heute lebt sie wieder in ihrer Heimatstadt Bray in Irland, zusammen mit ihrer Tochter Findabhair.

The Chronicles of Faerie:

1) The Light-Bearer’s Daughter (2001)
2) Book of Dreams (2003)
3) The Hunter’s Moon (2005)
4) The Summer King (2006)

Handlung

Heute ist für die 16-jährige Findabhair (ausgesprochen „finavir“) ein besonderer Tag: Ihre Cousine Gwen ist aus Amerika gekommen. Sofort fallen sie sich um den Hals und knuddeln sich. Die beiden vereint die besondere Vorliebe für alles, was das Elfenvolk angeht – ein Glaube, der an verborgenen und entlegenen Orten Irlands immer noch lebendiger ist als anderswo. Auf diesen Spuren wollen sie wandeln, wenn sie ihre schon lange geplante Rucksackreise unternehmen.

Gwen – die Kurzform für Gwenhyfar, die walisische Form von Findabhair: beides bedeutet „weiße Frau“ – ahnt aber noch nicht, wie ernst es ihr Cousine mit der Begegnung mit den Elfen ist. Denn Fin hat kurz zuvor vom König des Feenreiches einen Besuch und ein kleines Buch mit irischen Gedichten erhalten. Sein Bann liegt auf ihr und beeinflusst ihr Unterbewusstsein.

Ihren Eltern sagen sie natürlich nur, dass sie auf eine harmlose Trekkingtour gehen. Was könnte da schon Schlimmes passieren? Doch kaum haben sie Bray verlassen und fahren nach Süden, ereignen sich seltsame Dinge. Ihr Reisebus wird von einem merkwürdig aussehenden Auto von der Fahrbahn abgedrängt und landet im Feld neben der Straße. Als es ihnen gelingt, ein Auto zum Mitfahren anzuhalten, sieht der Fahrer harmlos genug aus. Es ist ein altes Männchen mit roten Haaren und plappert die ganze Zeit. Als es sie aussteigen lässt, sind sie gar nicht dort, wohin Gwen wollte, sondern dort, wo der Elfenkönig seine Braut erwartet: in den Hügeln der alten Königsstadt Tara.

Die wagemutige Findabhair hat keinerlei Skrupel, sich in einem der überwachsenen Steinhügel zu verstecken, ein Schloss zu knacken und in den Gang, der in den Hügel führt, einzutreten. Sie bleibt auch nach Toresschluss der Anlage hier versteckt und macht es sich mit ihrem Schlafsack neben Gwen gemütlich. Gwen muss einfach mitmachen, ob sie will oder nicht. Sie denken sich Wunder was aus, was in der Nacht passieren könnte. Doch was sich dann ereignet, damit haben beide nicht gerechnet.

Ein dunkler Reiter naht um Mitternacht und verlangt, dass sie beide mit ihm kommen. Kein Zweifel: dieser königliche Reitersmann ist Finvarra, der Herr der Elfen himself. Doch während Findabhair aus naheliegenden Gründen nicht zögert, auf sein Pferd zu steigen, weigert sich Gwen und bleibt allein zurück. Was ihr am Morgen wie ein Traum vorkommt, bestätigt sich im Licht des Tages: Ihre Cousine ist spurlos verschwunden.

Gwen kommt sich in diesem seltsamen, grünen und außerordentlich keltischen Land zunächst verloren vor, doch die Menschen stellen sich auch als viel hilfsbereiter als in ihrer Heimat heraus. Und mit Hilfe etlicher Hinweise gelingt es Gwen, Findabhair und Finvarra auf den Fersen zu bleiben. Doch der König der Elfen ist ein Trickser und stellt ihr Fallen. Prompt tappt Gwen in jede einzelne davon. Doch schließlich braucht auch der König selbst einmal Hilfe, dann schlägt Gwens große Stunde …

Mein Eindruck

Ich habe ja schon viele mehr oder weniger romantische Fantasyromane um die Feen von Irland gelesen. Dort nennt man sie das Kleine Volk, sogar das Gute Volk, aber sie treiben auch ihren Schabernack mit jenen, die ihnen nicht wohlgesonnen sind und/oder nicht an sie glauben – wovon es leider immer mehr gibt. Denn schließlich hat sich Irland, wie die Autorin sehr wohl weiß und auch sagt, zu einem modernen Staat innerhalb der Europäischen Union entwickelt.

Aber es gibt noch das alte Irland, wenn auch nur am äußersten westlichen Rand der Insel. Immerhin besinnen sich immer mehr Iren, besonders die Frauen, seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts auf ihre gälisch-keltischen Wurzeln. Der Name des Dichters William Butler Yeats fällt mehrere Male im Buch. So begann der Siegeszug der irischen Folk Music in aller Welt und eine Renaissance der irischen Literatur. Schon gleich die erste Szene des Buches beginnt mit einem Buch und einem Gedicht, und das ist sicher kein Zufall.

Die Autorin verrät ein umfangreiches und tiefreichendes Wissen um die irische Kulturgeschichte. Doch ebenso verfügt sie auch über große erzählerische Gaben. Ihr gelingt es, die zwei Hauptfiguren Gwen und Findabhair plastisch zu zeichnen, so dass uns wir immer wieder an diesen beiden Figuren orientieren können. Aber es gibt auch wichtige Figuren am Hofe des Elfenkönigs, die wiederkehren: Finvarra selbst und Gwens wichtigster Helfer Midir. Sie spielen an den verschiedenen Stationen, an denen Gwen auf ihrer Suche nach Findabhair die Elfen trifft, eine wichtige Rolle.

Natürlich hat man sich die Begegnungen mit Elfen nicht im hellen Licht des Tages vorzustellen. Schon Finvarras Besuch fand in tiefster Nacht statt. Doch bereits im Zwielicht der Abenddämmerung zeigen sich Gwen Anzeichen der Anwesenheit von Elfen. Während die meisten mit durchsichtigen Flügeln daherkommen, so gilt dies nicht für den König: Er ist eine Majestät, und selbst dann als solche erkennbar, wenn er mal als Teufelsgeiger im Pub auftritt. Dass er unsterblich ist, unterscheidet ihn ganz erheblich von den menschlichen Eintagsfliegen.

Gwens Weg durch den Westen Irlands ist eine Reise in die Vergangenheit, und schließlich gelangt sie auf die Insel Inch, wo es sogar noch einen inoffiziellen Inselkönig gibt, der bei den Elfen Respekt genießt. Die Tante dieses Inselkönigs ist sogar eine Elfenheilerin. Sofort denkt Gwen: Ach herrje, ich bin bei einer Hexe gelandet. Gerade, was mir noch gefehlt hat. Was sie so ironisch meint, ist jedoch die reine Wahrheit, denn mit Gwens Gesundheit steht es nicht zum Besten: Ein Elfenpfeil hat sie vergiftet und sie droht, in die Zwielichtwelt zu verschwinden.

Das dürfte so manchen Fantasyleser an einen gewissen Helden bei Tolkien erinnern. Frodo macht sich ebenfalls auf die Suche und gerät immer tiefer in die Vergangenheit. Beim Kampf an der Wetterspitze verletzt ihn ein vergifteter Dolch der Ringgeister, und nun droht er selbst ein Ringgeist zu werden. Nur eine besonders begabte Heilerin kann sein menschliches Leben retten, und diese Heilerin ist Arwen Abendstern. Auch Gwen hat Glück und wird vor so vor einem unerwünschten Schicksal bewahrt.

Sie hat also immer noch eine Chance, Findabhair, die Braut des Elfenkönigs, zurückzubekommen. Aber will ihre Cousine überhaupt zurück zu den Menschen? Sie hat sich in Finvarra verliebt und teilt dessen Schicksal und Leben. Doch wie sich herausstellt, hat dieses Schicksal einen Haken: Sie soll geopfert werden. Die Elfen haben nämlich einen uralten Pakt mit einem Untier einzuhalten, dem Dunklen Jäger. Dessen Schatten versucht sogar, sich Gwen zu schnappen. Wie kann man dem Schatten des Jägers ein Opfer vorenthalten, das ihm laut Pakt zusteht? Gwen steht vor einer schweren Wahl, denn sie will weder sich opfern noch zulassen, dass Findabhair sich opfert. Da hat die Elfenheilerin eine Idee …

Die Übersetzung, die Anhänge

Anne Brauner ist die bewährte Übersetzerin der bisherigen sechs „Spiderwick“-Bücher. Auch diesmal macht sich ihre Routine und ausgezeichnete Beherrschung des Englischen positiv bemerkbar. Und was noch mehr ist: Sie kennt den deutschen Jugendjargon und scheut sich nicht, ihn auch einzusetzen. Deshalb erscheinen die beiden Mädchen Gwen und Findabhair nicht als Halbelfen, sondern also menschliche Mädchen der Gegenwart, die durchaus ihre Kultur und Vorbilder („Aragorn for President!“) kennen.

Glossar

Allerdings hat dieser Roman die unverkennbare Eigenart, den deutschsprachigen Leser durch zahlreiche Orts- und Personennamen in irischer Sprache, also Irisch-Gälisch, herauszufordern. Das bedeutete, dass ich vielfach die Aussprachehilfe und das Glossar des Buches in Anspruch nehmen musste. Zum Glück hatte ich bereits durch C. J. Cherryhs zwei Traumstein-Romane (gesammelt als „The Dreaming Tree“) und durch Ian McDonalds tollen Fantasyroman „King of Morning, Queen of Day“ eine entsprechende Vorbildung und besuchte sogar mal einen Gälisch-Kurs an der Uni Stuttgart.

Jeder Eintrag in diesem Glossar ist zunächst mit einer deutschen Aussprachehilfe versehen. Diese darf man allerdings nicht ganz wörtlich nehmen. Wenn es also heißt, „Slainte“ (= Prost!) werde „slorn-tsche“ ausgesprochen, so bedeutet dies, dass die Aussprache [slåntsch(e)] der Wirklichkeit wesentlich näher kommt. Ich habe das Wort selbst bei Iren gehört. Und wenn die Rede von einem ö ist, so ist damit in Wahrheit eher ein offenes (e) gemeint, wie man es am Ende von „hunger“ hört.

Nach der Aussprachehilfe kommt die wörtliche bzw. sinngemäße Übersetzung des Begriffs. Häufig steht eine Erläuterung dabei, die von der Autorin stammt, zum Beispiel jene, dass geplant wird, durch das genannte [Tara,]http://de.wikipedia.org/wiki/Tara__%28Ort%29 die alte Königsstadt, eine Autobahn zu bauen! Sie gibt eine entsprechende Website an, wo man sich dagegen engagieren kann.

Im Anschluss an dieses Lexikon und Wörterbuch erläutert die Autorin in einem weiteren Anhang, was es mit der irischen Sprache (Irisch-Gälisch im Unterschied zu Schottisch-Gälisch) auf sich hat und wie es um die Zukunft dieser verschwindenden Sprache bestellt ist. Sie drückt sich optimistisch aus, doch es lässt sich nicht übersehen, dass Gälisch in wenigen Generationen ausgestorben sein könnte.

Danggö!

Den Schluss bildet wie üblich eine Danksagung der Autorin an all ihre Helfer. Dass sich darunter auch ihre Tochter Findabhair, die Namensgeberin der Heldin, befindet, versteht sich ja wohl von selbst. Besonderes Augenmerk sollte auf den Keltisch-Liebhaber Charles de Lint, einen kanadischen Fantasyautor („Yarrow“, „Into the Green“), und auf Michael Scott („Der Alchemyst“) gerichtet werden, die beide langjährige Erfahrung mit keltischen Stoffen vorweisen können.

Unterm Strich

Für sechzehnjährige Mädchen mit einem Faible für Aragorn und Elben dürfte dies als die ideale Lektüre erscheinen. Doch der Fall liegt etwas anders als „Der Herr der Ringe“. Diese Elfen leben in der Neuzeit, in der Gegenwart Irlands, und erheben auf neuzeitliche Mädchen wie Gwen ihre eigenen Ansprüche. Für jede Magie, die sie wirken, ist ein Preis zu bezahlen. Und jedes der Spiele, die der Elfenkönig spielt, ist voller Hintergedanken.

Hier geht es nicht so geradlinig zu wie bei Tolkien, sondern man muss ein wenig um die Ecke denken. Das lernt Gwen aber mit Hilfe ihrer einheimischen Freunde sehr schnell. Allerdings ist ihr Weg recht lang, so dass ich mich im Mittelteil manchmal fragte, wie lange ihre Suche noch gehen soll.

Der Höhepunkt des Romans ist sowohl heldenhaft als auch tragisch. Es lohnt sich wirklich, so lange durchzuhalten, denn es handelt sich um die letzten 30 Seiten. Aber die Abenteuer Gwens und Findabhairs gehen gut aus, wenn auch anders als gedacht. Es dürften keine traurigen Mienen zurückbleiben. Die Anhänge helfen der intelligenten Leserin, mit den vielen gälischen Namen und Begriffen zurechtzukommen.

Alles in allem ist der Roman von Melling kein New-Wave-Kitsch, der auf Ausbeutung von Medienklischees beruht, sondern der ernsthafte und ernstzunehmende Versuch, die Welt der Elfen den neuzeitlichen Mädchen näherzubringen. Ebenso wie die Heldin lernt auch die Leserin ständig dazu, insbesondere wenn es um die Bedeutung von Freundschaft, Liebe, Unsterblichkeit und Tod geht. Die in der alten Tradition verwurzelten Iren haben dazu eine andere und offenbar gesündere Einstellung als die moderne Generation. Und wenn man einmal gelesen hat, was alles zu einem zünftigen irischen Totenschmaus gehört, möchte man am liebsten gleich hinfahren und teilnehmen.

So ganz nebenbei nimmt uns das Buch auf eine Tour quer durch den alten Westen Irlands. Wer an Dolmen denkt, jene mit Felsplatten errichteten Felsgräber, der denkt auch an den Burren, eine karge Karstlandschaft zwischen Galway und Donegal (hoffentlich werde ich jetzt nicht gesteinigt). Ich besitze ein sehr schönes Fotobuch von einer Mary Robinson („Beautiful Ireland“), in der diese westlichen, sehr urwüchsigen und unberührten Landschaften fantastisch abgelichtet sind, und darunter natürlich auch der Burren mit seinen Dolmen.

Originaltitel: The Hunter’s Moon, 2005
Aus dem Englischen von Anne Brauner
300 Seiten
Empfohlen ab 12 Jahren
ISBN-13: ‎ 978-3570304457

https://www.penguinrandomhouse.de/Kinder-und-Jugendbuchverlage-cbj-&-cbt/aid77972.rhd

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