Michael Connelly – Der Widersacher [Harry Bosch 17]

Polizist Bosch ermittelt eigentlich in einem seit über zwei Jahrzehnten ‚kalten‘ Mordfall, als ihn der mysteriöse Fenstersturz eines prominenten Politikersohns ins Zentrum eines perfide eingefädelten Komplotts treibt … – Auch in seinem 17. Fall kämpft Harry Bosch nicht nur gegen das Verbrechen, sondern auch und manchmal vor allem gegen „High Jingo“, den allgegenwärtige Polit-Intrigen-Klüngel seiner Heimatstadt Los Angeles: keine Neuerungen im Bosch-Kosmos aber wieder ein unterhaltsamer Thriller.

Das geschieht:

Eigentlich sollten die Detectives Harry Bosch und David Chu von der Einheit „Offen-Ungelöst“ des Los Angeles Police Departments einen seit mehr als zwei Jahrzehnten ungelösten Mordfall wieder aufrollen: 1989 war die Studentin Lily Price ermordet am Strand gefunden worden. Eine aktuelle Neuuntersuchung damals sichergestellter DNA ergibt einen Ermittlungstreffer. Clayton Pell war zum Zeitpunkt des Verbrechens allerdings erst acht Jahre alt. Wie kam sein Blut auf die Haut des Opfers?

Die Ermittlungen haben kaum begonnen, als Bosch und Chu auf einen aktuellen Fall angesetzt werden. George Irving, ein auf die Vermittlung hochrangiger Geschäftskontakte spezialisierter Anwalt, hat sich offenbar aus dem 10. Stock eines Hotels gestürzt. Vater Irvin Irving fordert den Einsatz von Harry Bosch. Der alte Stadtrat macht dem LAPD seit vielen Jahren das Leben möglichst schwer, weil man ihm einst das Amt des Polizeichefs verwehrt hat. Gerade mit Harry Bosch hat Irving manches Mal die Klingen gekreuzt, weshalb seine Wahl jetzt auf diesen Polizisten fiel, den der Stadtrat als unbestechlichen Mann kennt.

Bosch hasst Fälle, in die sich die Politik einmischt. Dessen ungeachtet macht er sich nicht nur unmittelbar an die Arbeit, sondern gibt auch den Fall Lily Price zum Ärger seiner Vorgesetzten keineswegs auf. Wie befürchtet steckt Bosch bald wieder mitten in einem undurchsichtigen Komplott. Der Stadtrat will etwas vor ihm verbergen, auch die Familie des Toten mauert. George Irving hat seinen Kunden anscheinend einen Rundum-Service verkauft, der über die übliche Lobbyarbeit weit hinausging. Da viele eher prominente als ehrenwerte Mitglieder des Stadtrats mit im Boot saßen, macht sich Nervosität preis. Sie manifestiert sich wiederum als Druck, dem Bosch keineswegs nachzugeben gedenkt …

Ein wahrer Ritter knickt nicht ein

Harry Bosch ist ein Junkie. Er steht nicht auf Alkohol oder gar Drogen und nicht mehr auf Zigaretten, sondern auf Adrenalin. Als wir ihn dieses Mal wiedersehen, steht er kurz davor, seine Vorgesetzte um einen Fall anzubetteln: Bosch will wieder auf die Verbrecherjagd, die er benötigt wie Atemluft. Statt die längst wohlverdiente Pension einzustreichen, hat er sich gerade wieder um eine Verlängerung der Dienstzeit beworben. Zwar gibt Bosch vor, das Geld für die Ausbildung seiner Tochter zu benötigen, doch das ist ein Vorwand, wie er sehr wohl weiß.

Deshalb ist Bosch zunächst glücklich, denn er kann einen Mörder jagen, der dem Gesetz bisher durch die Maschen geschlüpft ist und sich womöglich triumphierend seiner unverdienten Freiheit erfreut. Dies gedenkt Bosch um jeden Preis zu ändern. Dabei geht er mit einem Elan zu Werke, der eines Kreuzritters würdig wäre. Dieser Vergleich fällt hier nicht grundlos, denn Bosch ist ein Mann mit einer Mission, der er alles unterordnet. Wer ihm dabei in die Quere kommt, wird aus dem Weg geräumt. Wie wir in „Der Widersacher“ lernen, schließt dies den eigenen Partner oder ehemalige Kameraden ein: Wer Harry Boschs hohen Ansprüchen an den Dienstethos eines Ermittlers nicht genügt, wird mit Bedauern aber ohne langes Federlesen aus seinem Berufs- und Privatleben verbannt.

Die Schuld an solchem moralischen Straucheln trägt nach Bosch in der Regel „High Jingo“: Eine Mordermittlung ist heutzutage ein Vorgang, in den jenseits von Polizei und Justiz die Politik ebenso wie die Medien involviert sind. Seit jeher ist „Recht“ nicht gleich „Gerechtigkeit“. In diesen Fall mischt sich ein prominenter Stadtrat ein, der seit Jahrzehnten an allen möglichen Strippen zieht, um seine Macht zu erhalten und zu fördern. Dieses Netzwerk dient nur bedingt der Erfüllung jener Dienste, die in den Aufgabenkatalog eines Stadtrats gehören. Irvin Irving führt seinen privaten Rachefeldzug gegen die Polizei von Los Angeles, die vor Jahren die Frechheit besaß, die Frage der Kompetenz über seinen Anspruch auf den Leiterposten zu stellen.

Beschuss hält wach

Selbst Harry Bosch, der in Sachen „High Jingo“ kein Teamspieler ist und deshalb schon oft Karrieredellen einstecken musste, reagiert verblüfft, als ausgerechnet Intimfeind Irving seine Hilfe sucht. Bosch ist misstrauisch. Außerdem teilt er nicht den Gedanken, dass ein alter Feind dir näher als ein Freund stehen kann. Aus diesem Unvermögen resultiert ein netter bzw. fieser Finaltwist, denn dieses Mal meinte Irving es ernst, während jene, die Bosch für seine Verbündeten hielt, in den Rücken fallen.

Als zuverlässiger Feind bleibt Bosch die Presse. Autor Connelly war selbst Polizeireporter und kennt die Mechanismen, mit denen Schlagzeilen und Auflagen generiert werden. Im Online-Zeitalter wächst die Gier nach möglichst schnell ins Netz gestellten Nachrichten, weshalb sich Bosch mit einem Informationsleck herumplagen muss, das die Ermittlungen empfindlich zu stören droht. Deshalb stopft er es mit Wut und Nachdruck und nimmt auch dabei keine Rücksicht auf Freunde, die ihn enttäuscht und damit seinen Job behindert haben.

Alles hängt irgendwie zusammen: Unsichtbar schaut stets die Justiz den Beamten über die Schultern. Für jedes Dienstprozedere gibt es ausführliche Vorschriften, die sich alltagsferne Bürohengste ausgedacht haben. Überforderte Beamte verstoßen unwillentlich dagegen und öffnen auf diese Weise findigen (und windigen) Anwälten Lücken, in die sie vor Gericht stoßen und ihre kriminellen Klienten freiboxen können – Vorwürfe, die aufgrund ständiger Wiederholung inzwischen etwas mechanisch wirken.

Eine Lanze für die Gerechtigkeit

Am unteren Ende der Gesellschaftsskala macht sich das Recht rar. Während Bosch einen Mord von 1989 untersucht, gerät er in Kontakt mit der tristen Welt bestrafter und aus dem Gefängnis entlassener Sexualstraftäter. Als Polizist trachtete Bosch bisher ausschließlich danach, solche Zeitgenossen zu fassen, damit sie hoffentlich für immer weggeschlossen werden konnten. Über die Umstände, die einen Pädophilen quasi produzieren können, hat er sich keine Gedanken gemacht. Stellvertretend für den Leser wird Harry Bosch vom Verfasser einem entsprechenden Erkenntnisweg unterworfen, wobei Connelly die Problematik dieses Prozesses keineswegs ausklammert: Diese Opfer sind Täter geworden. Sie verdienen gleichermaßen Strafe wie Hilfe und Misstrauen wie Mitleid. Anders ausgedrückt: Bosch wie Connelly können oder wollen keine Entscheidung treffen.

Bosch will es zumindest versuchen, denn ausgerechnet die schöne Dr. Stone, in die er sich verliebt hat, überrascht ihn mit der Info, dass ihr eigener Sohn als Vergewaltiger im Gefängnis sitzt. Daraufhin macht Bosch die Schotten so abrupt dicht, dass sich die arme Frau mächtig anstrengen muss, um seine Gunst zurückzugewinnen.

Hoffentlich verscherzt es sich Maddy nicht mit dem strengen Vater! Einer der weniger guten Einfälle Connellys war das Erscheinen dieser Bosch lange unterschlagenen Tochter. Als er merkt, dass Maddy mit einer Karriere als Cop liebäugelt, prüft Bosch streng nach, wie wichtig es ihr damit ist. Da das Ergebnis positiv ausfällt, ernennt Bosch Maddy kurzerhand zu seinem Knappen: Aus ihr will er nicht nur eine gute Polizistin, sondern eine Kriegerin für die Gerechtigkeit formen!

Keine Serie kann ihr Niveau stets oder gar immer halten. „Der Widersacher“ ist bereits Band 17 der Harry-Bosch-Serie. Connelly gibt sich Mühe, aber er findet deutlich schwerer Neuland für seinen darüber hinaus limitierten Cop. Auch in Zukunft darf bzw. muss der Leser mit Bewährtem rechnen: Alte und neue Gegner im „High-Jingo“-Sektor formieren sich bereits im Epilog. Glücklicherweise beherrscht Connelly darüber hinaus die (Handwerks-) Kunst des „Police Procedural“. Die Ermittlung als mühsame aber spannende Aufklärung eines Verbrechens verliert auch in der x-ten Wiederholung ihre Faszination nicht – und auf diesem Level darf Harry Bosch ruhig noch eine Weile im Dienst bleiben!

Autor

Michael Connelly wurde 1956 in Philadelphia geboren. Den Büchern von Raymond Chandler verdankte der Journalismus-Student der University of Florida den Entschluss, sich selbst als Schriftsteller zu versuchen. Zunächst arbeitete Connelly nach seinem Abschluss 1980 für diverse Zeitungen in Florida. Er profilierte sich als Polizeireporter. Seine Arbeit gefiel und fiel auf. Nach einigen Jahren heuerte die „Los Angeles Times“, eine der größten Blätter des Landes, Connelly an.

Nach drei Jahren in Los Angeles verfasste Connelly „The Black Echo“ (dt. „Schwarzes Echo“), den ersten Harry-Bosch-Roman, der teilweise auf Fakten beruht. Der Neuling gewann den „Edgar Award“ der „Mystery Writers of America“ und hatte es geschafft.

Michael Connelly arbeitet auch für das Fernsehen, hier u. a. als Mitschöpfer, Drehbuchautor und Berater der kurzlebigen Cybercrime-Serie „Level 9“ (2000). Mit seiner Familie lebt der Schriftsteller in Florida. Über das Connellyversum informiert stets aktuell diese Website.

Taschenbuch: 456 Seiten
Originaltitel: The Drop (New York : Little, Brown and Company 2011)
Übersetzung: Sepp Leeb
www.droemer-knaur.de

eBook: 509 KB
ISBN-13: 978-3-426-42053-9
www.droemer-knaur.de

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