Naomi Alderman – Die Gabe

Es sind scheinbar gewöhnliche Alltagsszenen: ein nigerianisches Mädchen am Pool. Die Tochter einer Londoner Gangsterfamilie. Eine US-amerikanische Politikerin. Doch sie alle verbindet ein Geheimnis: Von heute auf morgen haben Frauen weltweit die Gabe – sie können mit ihren Händen starke elektrische Stromstöße aussenden. Ein Ereignis, das die Machtverhältnisse und das Zusammenleben aller Menschen unaufhaltsam, unwiederbringlich und auf schmerzvolle Weise verändern wird.

(Verlagsinfo)

Vergewaltigung, Genitalverstümmelung, Bevormundung, Unterdrückung, Ideenraub, Abhängigkeit, Benachteiligung … unvorstellbar für den Einzelnen, und doch alltäglich und allgegenwärtig; man hat sich irgendwie dran gewöhnt. Dieses Buch zeigt: Nein! Es ist nicht normal! Es ist das grausame Antlitz der Menschheit – und wir sollten das nicht vergessen. Es ist ein ergreifender Roman voller Kälte und Grausamkeit, voller Hoffnung und Hoffnungslosigkeit.

Bei diesem Buch ist es nicht einfach, darüber zu reden, ohne allzu viel vorweg zu nehmen. Dabei ist es nicht die Geschichte selbst, die dabei Probleme macht. Die Aussagen entwickeln sich im Verlauf der Handlung und entstehen im Leser, ohne dass sie explizit getroffen werden, so dass man als Rezensent diese Entwicklung, wohl individuell für jeden Leser, zu beeinflussen Gefahr läuft. Aber seien Sie beruhigt, das soll Sie nicht hindern, diesen Text zu verfolgen – das Wichtigste habe ich Ihnen schon im ersten Absatz verraten. Für Sie ist es zu spät. Sie müssen dieses Buch nun lesen, wenn Sie herausfinden wollen, ob es sich wirklich so moralisch gibt, wie der Satz oben sich liest.

Naomi Alderman begeht glücklicherweise nicht diesen Fehler. Es ist ein organischer Erzählfluss; verschiedene Stränge beleuchten die unterschiedlichsten Erfahrungen des vordringlichen Aspekts der Geschichte, es verflicht sich ein komplexes Gebilde gegenseitiger Einflussnahme und Abhängigkeit, während sich das Bild ausbreitet und immer mehr an Detailreichtum und Tiefe gewinnt. Kurz gesagt: Zwischen den Buchdeckeln findet sich eine spannende Geschichte, der man, einmal begonnen, unbedingt folgen muss.

Worum geht es? Alderman beginnt mit einem Briefwechsel, den eine Naomi mit einem Neil geführt zu haben scheint. Geführt haben wird, denn aus deren Blickwinkel erzählt das Buch einen historischen Roman. Ein besonderer Kniff, erscheint im ersten Moment zwar bekannt, eröffnet der Autorin jedoch besondere Möglichkeiten. Sie verlagert die Erzählung in eine uns sehr nahe Zukunft, aus sehr weit entfernter Zukunft erzählt, so dass man über den Briefwechsel, der den eigentlichen Roman einrahmt, mit wenigen Schlaglichtern dargestellt bekommt, wohin die Geschichte führen wird.

Interessant ist das Ganze auch noch durch den Namen des vorgeblichen Autors Neil Adam Armon. Wer genau hinschaut, erkennt das Anagramm der Autorin, wodurch sie über den Briefwechsel eine Diskussion mit sich selbst führt – und sich im letzten Beitrag ironisch den Rat gibt, das Buch doch unter Pseudonym zu veröffentlichen. Überhaupt ist dieser Briefwechsel ein integraler Bestandteil des Romans, da seine Aussagekraft hierdurch nochmal verstärkt wird und Lesern wichtige Bilder der Problematik einesteils aus einem zweiten Blickwinkel präsentiert, zweitenteils ins Bewusstsein gerückt werden. So geht Alderman zum Beispiel auch auf potenzielle Kritiken an verschiedenen Szenen ein und zeigt damit ihre Durchdringung des Themas und das Bewusstsein um die Angreifbarkeit.

Der historische Roman selbst erzählt die Geschichte einer Veränderung. Sie ist so grundlegend, dass ihr am Ende nichts anderes übrig bleibt, als auf einen Weltuntergang zu zu steuern. Doch beginnt sie mit dem vorsichtigen Entdecken einer neuen Kraft, dem spielerischen Versuchen, den ersten ernsthaften Einsätzen. Es beginnt mit den Geschlechterrollen und den furchtbaren Einzelschicksalen, aus denen die ersten Reaktionen erwachsen. Es zeigt die positiven Seiten dieser neuen Kraft, die nur den Frauen gegeben ist und sie dem Druck der männlichen Gewalt entgegenstellt. Es löst zwiespältige Gefühle beim Leser aus, doch das Entsetzen ist ein wichtiges Stilmittel des Romans. Durch die Erweckung einer Kraft beginnt Alderman nun, die Verhältnisse umzukehren.

Der Umschwung geschieht etwa in der Mitte des Buches. Oberflächlich zeigt Alderman, was Macht mit einem Menschen macht, und dass dann das Geschlecht keine Rolle spielt. Ein wiederkehrender Kommentar ist, Dinge würden getan, weil man es kann. Dies ist die oberflächliche Seite, die Grausamkeit und Entsetzen erzeugende, die einen oberflächlichen Leser auch zu beruhigen vermag, indem sie auszusagen scheint: Frauen sind auch nicht besser. Doch man fühlt die tiefere Ebene. Oben im ersten Absatz habe ich sie schon genannt. Dieses Umkehren der Verhältnisse erlaubt es Alderman, alle Grausamkeit der Zwischenmenschlichkeit darzustellen, ohne dass man sich moralisiert fühlt. Es ist ja offensichtlich Fiktion, brutal, erschreckend – aber nicht real. Sie zeigt die Dinge, wie sie sein könnten – und dadurch zeigt sie vor allem eins: Diese Dinge passieren auch heute, jetzt, jeden Tag, überall auf der Welt. Wir wissen das. Wir haben uns nur daran gewöhnt. Die Umkehr der Verhältnisse erzeugt einen größeren Schrecken, als es die Realität inzwischen vermag.

Das macht dieses Buch wichtig. Zu einem der Bücher des Jahres. Betont werden muss aber, dass Alderman unabhängig von dieser Wichtigkeit eine spannende, wechselhafte und lebendige Geschichte erzählt. Man erlebt die Veränderung aus Sicht unterschiedlichster Figuren. Religion, Wissensdurst, Machthunger, Ausbruch, Generation Me, Liebe. Und darüber die Hoffnung, etwas Besseres zu schaffen – der Leser hat dann anhand der abschließenden Briefzitate zu entscheiden, ob diese Hoffnung berechtigt war. Und da tut sich ein weiterer Aspekt dieses Stilmittels auf: Alderman spielt hier mit der Erfahrung des Lesers, indem sie mit wenigen Schlagworten den weiteren Verlauf ihrer Geschichte extrapoliert.

Insgesamt ist dieses Buch eines der besten, die ich je gelesen habe. Keinesfalls eskapistisch, immer nah an der Realität und dem Menschen. Erschreckend, grausam. Und trotzdem großartige Unterhaltung. Es gibt mit Sicherheit Bücher, die ich lieber lese. Neil und Naomi diskutieren auch darüber, als hätten sie es gewusst. Wer will sich schon in seiner Freizeit mit den Missständen der Welt auseinandersetzen? Ein besonderes Stilmittel sorgt hier dafür, dass dies funktioniert.

Manche Leser schreiben, sie mögen dieses Buch, die Charaktere, den Zynismus, und dass es den Leser, egal welchen Geschlechts, bereichern würde. Einer schrieb sogar von verliebt-sein in diese Umsetzung Aldermans dieses Themas. Das hat mich schockiert. Ich mag dieses Buch nicht, ich finde es abstoßend und beängstigend; augenöffnend – ja, aber bereichernd? Bereichert es mich in der Erkenntnis um die Gewalt unter Menschen? Es ist ein Meisterwerk, ein wichtiges und sehr gelungenes Buch; ich bin froh, es gelesen zu haben und empfehle es unbedingt. Doch erzählt es keine positive Geschichte, noch erzählt es eskapistische Schreckensunterhaltung. Es zu mögen, klingt unangemessen. Genauso abwegig sind die üblichen dem Marketing geschuldeten Vergleiche, die verschiedene Quellen nicht lassen können und die so auch hier den Weg auf die Produktseite des Verlags sowie auf den Buchrücken gefunden haben.

Broschiert, 480 Seiten
Deutsche Erstausgabe
Heyne Verlag 2/2018
Originaltitel: The Power
Deutsch von Sabine Thiele
ISBN: 9783453319110

Das Buch beim Verlag

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