Lavie Tidhar – Central Station

Die Menschheit ist ins All aufgebrochen. Der Mars wurde besiedelt, der Asteroidengürtel wird ausgebeutet, und virtuelle Spielewelten haben sich zu Paralleluniversen entwickelt. Die Menschheit ist fortschrittlicher, schillernder und kaputter denn je. In dieser Zukunft kommt Boris Chong nach langjähriger Abwesenheit vom Mars zurück auf die Erde zur Central Station – um einen seit Generationen andauernden Familienfluch abzuwenden, um einer alten Liebe wiederzubegegnen, und um vielleicht sein Schicksal zu finden.
(Verlagsinfo)

In den ersten Kapiteln entwirft Lavie Tidhar eine zukünftige Welt, die allerlei Krisen und Kriege hinter sich gebracht und den Sprung in den Weltraum geschafft hat. Der Mars, der Mond, ja sogar die sonnenfernen Monde und Asteroiden sind besiedelt. Das dient der Geschichte jedoch hauptsächlich als Hintergrund und Aufhänger für fremdartige, abstruse Entwicklungen sowohl im und am Menschen, als auch in der Form der künstlichen Intelligenz, die Tidhar hier auf eine ganz andere Stufe hebt, als man sie gemeinhin begreift.

Die künstliche Intelligenz ist auch ein Hauptthema des Buches. Tidhar beschränkt sie weder auf individuelle Figuren wie Roboter oder Implantatträger, noch lässt er den Leser greifbar erfahren, was eine solche, von ihm modern extrapolierte netzbasierte Intelligenz umtreibt. Schon seine Bezeichnung für diese Wesen, die Anderen, macht deutlich, dass sich hier etwas entwickelt hat, was für den Menschen nicht mehr nachvollziehbar ist. Und doch geht er weiter als heutige KI-Theorien und postuliert sie als Lebensform.

Aber auch die KI ist nur ein Detail des Buches. Es birst vor Bildern und Ideen, Entwicklungen, Gesellschaftsfragen – und das auf engstem Raum, umfasst der Roman doch nur gut 350 Seiten in gut lesbarer Schriftgröße. Es sind doch wieder die Menschen, die im Mittelpunkt stehen. Menschen von unterschiedlichster Gestalt und Geschichte, und je einen davon greift sich Tidhar in jedem der ersten Kapitel heraus und lässt den Leser teilhaben an den einschneidenden Erfahrungen, die diese Figuren zu dem machten, was sie im Moment der eigentlichen Romanhandlung darstellen.

So gesehen enthalten die ersten Kapitel sehr wenig eigentliche Handlung, was nicht bei jedem Leser auf Begeisterung stoßen dürfte. Viel ist hier eindrucksvolle Bildgewalt, karge Wortwahl, Erinnerungen und Gedanken der Protagonisten. Doch trotzdem bleibt eine leicht getragene Linie erhalten, eine oder mehrere Fragen, die sich aus den Erlebnissen der Figuren ergeben. Es tauchen Geschöpfe auf, die selbst für die in dieser für uns weit fremden Welt lebenden Wesen unverständlich und fremdartig erscheinen, Wesen, die sich mit dem Leben in der allumfassenden Vernetzung nicht nur arrangiert haben wie die älteren Menschen, nicht nur mit ihr aufwachsen wie die Jüngeren, sondern sie leben.

Dies ist für mich das zentrale Wesen des Romans: Die Darstellung und Auseinandersetzung mit dieser Vernetzung, auf die selbst wir in der realen Welt mit großen Schritten zusteuern. Tidhar schreibt keine Horrorszenarien mit augenöffnenden Hammerschlägen, sondern er erzählt eine ruhige, eindrucksvoll positive Geschichte, zwischen deren offensichtlichen Wohlfühlszenen sich die Botschaft verbirgt, die eine derart vernetzte Gesellschaft so verstörend macht – und in ihrer extrapolativen Retrospektion unsere derzeitige Entwicklung zum Ziel hat. Tidhar schreibt das in so kleinen, unauffälligen Sätzen dahin, aber das ist es, was mich an der Geschichte am meisten packt.

Offensichtlicher ist seine subversive Art, sich mit den Klassikern des Genres zu vermählen. Es hagelt in dem Buch nur so von kleinen Wortgebilden, Stätten und Begebenheiten, die als Reminiszenzen verstanden werden können. Frederik Pohl, William Gibson, Philip K. Dick – um nur die offensichtlichsten zu nennen. Aus einer Leseprobe der originalen Ebookausgabe des Buches geht hervor, dass viele der hier vorliegenden Kapitel eine veröffentlichte Kurzgeschichte zur Grundlage haben. Dies lässt einiges in einem anderen Licht leuchten, und so lassen sich wohl auch diese Reminiszenzen als Überbleibsel aus den zugrunde liegenden Geschichten verstehen. Schade und dem Verlag der deutschen Ausgabe vorzuhalten ist hier, dass dieser Aspekt im deutschen Produkt nicht thematisiert wird. Das vorenthält dem Leser ein nicht unwichtiges Detail zu dem Buch.

Der Roman besteht also zur Hälfte aus Kapiteln, die einen Protagonisten und mit ihm Aspekte der Welt vorstellen, Details erleuchten und Figuren Positionieren. Zur Hälfte. Bis hierher fällt es schwer, die eigentliche Richtung des Ganzen zu erkennen und zu verfolgen, doch lässt man sich auf die bildgewaltige Schlaglichtstilistik ein, kristallisiert sich ein zusammenhängendes Etwas heraus, dem die Erzählung auf den Grund zu gehen versucht.

Setting des Ganzen ist die Central Station, der Weltraumbahnhof, in Tel Aviv gelegen und ein monströses Bauwerk, dass seinen Schatten über die Stadt wirft. Diese Station erhält beinahe so etwas wie ein Eigenleben, doch sind es vor allem die Figuren in den erdgebundenen alten Vierteln, die dem Buch sein Leben einhauchen. Die Figuren, bis ins siebte Kapitel hinein illustriert, könnten unterschiedlicher gar nicht sein:

Da ist Mama Jones, eine verwurzelte Frau mittleren Alters, die eine kleine Gaststätte zwischen der Robotkirche und einem Gemüseladen betreibt. Und Boris, ein Arzt, seiner Familie ins fernere Sonnensystem entflohen, jetzt auf ihren Ruf zurück gekehrt, um seinem Vater zu helfen. Kranki und Ismail, die Kinder, die zwischen der Virtualität der Netzwerke und dem realen Leben hin und her flackern. Ein Robotnik, ausrangiertes Modell vergangener Kriege, auf der Suche nach Ersatzteilen und einer Zukunft. Isobel, eine junge Frau und erfolgreiche Gamerin, jetzt Geliebte des Robotniks. Der Robotpriester Bruder Flick, dessen zweite Aufgabe neben dem Seelenheil die Beschneidung der geborenen Jungen ist. Carmel von den Asteroiden, ihrer Familie entflohen und mit einem Virus infiziert, das aus ihr eine Strigoi, einen Datenvampir macht. Ewig hungrig und doch voll Angst vor den Anderen, die eigentlich eine Grenze für ihre Art um die Erde gezogen haben.

Und im achten Kapitel, der Hälfte des Buches, taucht Achimwene, der Buchhändler auf. Er wird als Krüppel gesehen und sieht sich manchmal auch selbst so, denn ihm fehlt der implantierte Netzknoten, der alle anderen Wesen des Sonnensystems verbindet. Und so sieht er sich selbst:

Er war immer eine Schicht von den Menschen entfernt, unfähig, auf eine wahrhaft bedeutsame Weise mit ihnen zu kommunizieren. Sein Bewusstsein war abgeschottet.
(S. 290/291)

Dieser Krüppel, der die eigentliche Identifikationsfigur des Lesers ist, denn durch ihn erleben wir die Welt so, wie sie sich im Realen darstellt. Und durch ihn sehen wir die verstörende Wirkung der allgegenwärtigen Vernetzung. Vielleicht auch ein Aspekt, der Teile der Leserschaft heute, in Zeiten der sozialen Netzwerke, ungnädig stimmt, da er ihnen einen unterschwelligen Spiegel vorhalten mag.

Mit Achimwene beginnt die Handlung, Fahrt aufzunehmen. Aus den Straßen und Gassen zu Füßen der Central Station führt der Weg über vernetzende Ereignisse hinein in die Station, die nicht nur Zentrum und Wahrzeichen der Stadt, sondern auch Verbindung zu den Menschen überall im System, auf den Exodus-Schiffen und in der Virtualität ist. Hier verknotet sich die Aufmerksamkeit des Netzwerks, und hier erfüllt sich einer der Fäden, der die unauffälligen Fragen durch das Buch zieht.

Zum Ende hin enden manche Fäden leider etwas abrupt, was jedoch zum knappen Stil insgesamt passt. Man kann dieses Buch nicht als einfachen Roman sehen. Ich empfinde ihn eher als Kurzgeschichte: Wirft den Leser in ihr Universum, lässt ihn staunen ob der Vielfalt der Eindrücke, fokussiert gewisse Aspekte zu einem Zusammenhang, endet offen mit den Möglichkeiten, die dem Leser gegeben sind. Ich verstehe es nicht vollends. In mancherlei Bezug entstehen gewisse Gefühle und Vermutungen, andere widerum verschwinden schon während der Lektüre oder lassen einen ratlos zurück.

Sprachlich, stilistisch und von der Ideenpracht her, aber auch durch die subtile Botschaft, ist dieses Buch der gerechtfertigte Gewinner des John W. Campbell Memorial Award – jedoch nicht, wie die Titelei suggeriert, des World Fantasy Award. Letzteren erhielt Lavie Tidhar für seinen Roman »Osama«.

Ich glaube, insgesamt hat mir das Buch sehr gefallen.

Taschenbuch, 352 Seiten
Deutsche Erstausgabe
Heyne 1/2018
ISBN: 978-3-453-31881-6
Aus dem Englischen von Friedrich Mader
Originaltitel:
Central Station
Das Buch beim Verlag
Über den Autor

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