Bertrand Blier – Der Dessousverkäufer – Bekenntnisse eines Mörders

Tödliche Büstenhalter

„Büstenhalter haben mich schon immer fasziniert. Besonders das Modell Gossard mit seinen aus Elastan und Lycra geformten Körbchen.“ Monsieur Treuttel ist besessen von einer ungewöhnlichen Leidenschaft. Gipfel der Schönheit ist für ihn ein kunstvoll verpackter Busen. Wenn unter seinen Augen Frauen ihren BH ablegen, hat das allerdings verhängnisvolle Folgen …(Verlagsinfo)

Der Autor

Bertrand Blier (* 14. März 1939 in Boulogne-Billancourt, Hauts-de-Seine) ist ein französischer Filmregisseur und Drehbuchautor. Er ist der Sohn des Schauspielers Bernard Blier. Zu seinen bekanntesten Filmen zählen Die Ausgebufften und Den Mörder trifft man am Buffet. Sein Film Frau zu verschenken wurde 1979 mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet.

Blier arbeitete in späteren Jahren auch als Schriftsteller. So schrieb er z. B. den erotischen Roman „Der Dessousverkäufer. Bekenntnisse eines Mörders“ (Existe en blanc, Paris 1998), der 1999 als erstes seiner Bücher auch auf Deutsch erschien. (Wikipedia) Seine Filmografie.

Handlung

Mitten zwischen Betonwohnblocks wächst ein Junge auf, der auf den trotteligen Namen Baudouin Treuttel hört, dabei ist er gar kein Belgier, auch wenn er derart belgisch redet, dass sich seine Schulkameraden ständig über ihn lustig machen. Das aufgeweckte und frühreife Bürschchen wird allseits frustriert. Sein Vater redet nicht mit ihm, sondern liest im Büro Zeitung. Er ist arbeitsloser Fabrikbesitzer und lebt angeblich von den Erträgen. Die Dame des Hauses, die Baudouin als seine Mutter kennt, schläft schon seit Jahren nicht mit seinem Vater. Cora ist schmal, eine Maus, aber elegant, denn sie spielt Chopin.

Mathilde

Verständnis findet der Junge nur beim Hausmädchen, der fetten und hässlichen Mathilde. Sie war ja auch seine Amme und zog ihn an Mutter statt auf. Schade, dass sie an seinem Geburtstag, als er sie vögelt, an einem Herzanfall stirbt. So gesehen, ist sie Baudouins erstes Opfer. Und nur eine von zahlreichen Absurditäten, mit denen die Erzählung – denn von einer geradlinigen Handlung findet sich weit und breit keine Spur – zu verblüffen vermag.

Entdeckung

Baudouin hat nach Mathildes Tod und dem Schulfrust allen Grund, den Kopf hängen zu lassen – er könnte schon ein paar Jahre weiter sein: Da heitert sich seine Miene auf, als sein Blick an der Auslage eines Dessousgeschäfts kleben bleibt. Dort zeigt sich ihm die Faszination des Verbergenden: Büstenhalter. Stützende, hebende, halb enthüllende, schmeichelnde Büstenhalter. Sofort betritt er das Geschäft, wenig später macht ihn die Inhaberin zu ihrem Liebhaber.

Verkaufe

In kurzer Zeit, mit Hilfe seiner Damenbekanntschaften – er ist nicht wählerisch – wird Baudouin Experte und Verkäufer in Sachen Dessous. „Ich präsentierte den Händlern meine Waren: Cavatine! Passacaille! Sarabande! Das Neueste vom Neuen, und natürlich auch die großen Klassiker: das Bustier da Capo, dem aktuellen Zeitgeschmack angepasst, das Miederhöschen Chaconne, das einen die Augen niederschlagen lässt, den Body Mélomane, der einem Lust macht, Arpeggio zu spielen …“

Gossard G7

Erst später begegnet ihm der kriminelle Inbegriff des Büstenhalters: der Gossard G7. „Im Übrigen sind die Mädchen, die einen Gossard kaufen, alle ziemlich geil und lieben die Gefahr. Besonders diejenigen mit dem Modell G7. Transparenter geht’s nicht mehr. Er ist unter dem Pulli unsichtbar, gibt einem das Gefühl, nackt zu sein, zieht man aber den Pulli aus, so entblößt man das Höchstmaß an Schamlosigkeit; ein Büstenhalter, wie für den Polizeibericht gemacht.“

Zwang

Kein Wunder, dass er solche Frauen umbringt. Es ist wie ein Zwang. Immer müssen sie im letzten Schritt den BH ausziehen – ein verhängnisvoller Fehler bei einem Mann, für den Schönheit im Anblick eines perfekt verhüllten Busens kulminiert. Sie müssen mit ihrem Leben für ihre Frechheit zahlen.

Gericht

Schließlich wird er doch noch erwischt und verknackt. Das Buch besteht in der Hauptsache aus den Zeugenberichten des Angeklagten und seines Vaters vor Gericht. Beide bestreiten zur Hälfte die meisten Einlassungen. Aber auch der weibliche Judas der Polizei, Sandrine, eine Gelegenheitsdiebin und -nutte, weiß einiges über Baudouin, ihr Opfer, zu berichten. Etwa von einem „Unbekannten von undefinierbarer Eleganz“, der unverkennbar die Züge eines Mephisto trägt. Ist unser Held also ein verführter Faust? Und somit quasi unschuldig? Jedenfalls nicht schuldiger als der Gerichtspräsident …

Umkehrung

Nur so viel ist sicher: Es hagelt Überraschungen. Natürlich war Baudouins Mutter nicht seine Mutter – das war Mathilde. Und die „Mutter“ (Cora) war auch keine Frau, sondern ein Kerl. Und dass Porträtgemälde lebendige, gut verkäufliche Inhalte haben und dass zum Schluss der Romancier, der dieses Buch verbrochen hat, umgebracht wird, verwundert auch nicht mehr.

Mein Eindruck

Dies ist kein Buch, das man sich im Freibad zwischen zwei Hechtsprüngen reinziehen kann. In der ersten Hälfte ist es noch relativ durchschaubar: Als der Angeklagte vor Gericht steht, hebt er zu einer wortgewaltigen Rede an und schildert eine Welt, in der sich die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Phantasie zunehmend auflösen. Baudouin berichtet selbst mit zynischem Humor von der Herausbildung seiner kriminellen Obsession. Das ist spannend und amüsant.

Doch die zweite Hälfte, die sich auf die Geschichte des Umfelds des Jungen konzentriert, zerfasert, wirkt dekonstruiert. Im Vordergrund stehen die Eskapaden des naiven, pathetisch-romantischen Vaters, dann wieder Sandrine, dann das absurde Gericht, dann nur noch verstreute Notizen – ein Fade-out. Zum Glück gibt der Erzähler keine seiner Figuren der absoluten Lächerlichkeit preis, sondern weckt Sympathie und Interesse – so fällt das Weiterlesen nicht schwer. Und auf der nächste Seite wartet stets eine weitere provokante Überraschung.

Mit seinem rabenschwarzen Humor und der Lust an der Provokation steht Bliers Roman im Genre der erotischen Literatur (bislang) ziemlich allein da. Natürlich versuchten schon viele AutorInnen, Erotik zur Brechstange der Moral zu machen und die Zensoren mit freizügigen Schilderungen zu provozieren.

Doch Blier geht noch viel weiter. Nicht nur die Zensoren selbst sind korrupt. Auch die Erotik selbst endet hier meist tödlich, und wenn es mal eine seltene, romantische Beziehung gibt, so hat sie garantiert mit Geld zu tun, jener omnipotenten Währung, mit der selbst der romantischste Schein herstellbar ist. Blier konfrontiert uns mit der Frage, wo eigentlich Normalität endet und Perversion beginnt.

Der Autor vergibt: (3.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Michael Matzer (c) 2018ff

Taschenbuch: 268 Seiten
Originaltitel: Existe en blanc, 1998
Aus dem Französischen übertragen von Marianne Schönbach
ISBN-13: 978-3499227363

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