Régine Deforges – Der schwarze Milan. Erzählungen

Geschichten von Erfahrung, Entgrenzung und Heimkehr

Diese freimütigen Erzählungen spielen auf den französischen Inseln der Antillen, in Hongkong, Griechenland, Spanien, Italien und der französischen Provinz: Unerschrocken erforscht Régine Deforges die Variationen und Vergnügungen des erotischen Abenteuers. (bearbeitete Verlagsinfo)…

Die Autorin

Régine Deforges (* 15. August 1935 in Montmorillon, Département Vienne; † 3. April 2014 in Paris) war eine feministische französische Schriftstellerin und Erotikliteratur-Verlegerin. Sie begann als Journalistin in Paris, bevor sie mit ihren Büchern „Zärtliches Tagebuch“ (rororo Nr. 4493) und „Der schwarze Milan“ (rororo Nr. 4926) als Autorin erotischer Romane Aufsehen erregte. (Wikipedia & Verlagsinfo)

Die Erzählungen

1) Made in Hong Kong

Jeanne, die Frau des Ministers, liebt das Glücksspiel. Sie liebt es so sehr, dass sie eine unheilvolle Sucht entwickelt hat, die schon ihre Familie in der Vendée ruinierte. Mittlerweile gewährt ihr der Gatte keinen Kredit mehr und das Casino hat ihr 150.000 Francs geliehen, die sie soeben bei Bakkarat verloren hat. Was jetzt? Georges, der Chef der Etage, weiß Rat. O nein, keine Naturalien, obwohl sie weiß Gott zu allem bereit wäre. Aber er will sein Geld zurück und zwar dalli. Sie soll ihm nur einen kleinen Gefallen tun und ein paar unbedeutende Dokumente nach Hongkong bringen.

Hongkong? Kein Problem, das Flugticket folgt alsbald. In der Stadt der neun Drachen wird sie am Airport abgeholt und durch den Zoll expediert, dann zu Mr. Truong gefahren, dem Empfänger der Dokumente. Der überaus beleibte Mann hat es indes überhaupt nicht eilig, Jeannes Erwartungen zu erfüllen. Zunächst zeigt er ihr seine erlesene Kunstsammlung, die vor allem aus Olisboi besteht, plastischen Darstellungen des Phallus – aus Elfenbein, Ebenholz, Jade, Gold. Der Anblick der priapischen Glieder erregt Jeanne – aber zuerst ist Shopping angesagt, und dann: Glücksspiel.

Lotus, Truongs für Jeanne abgestellte Sklavin, sorgt für das nötige Kleingeld. Unglücklicherweise verliert Jeanne auch hier wieder beim Bakkarat, bis sie blank ist. Was tun? Lotus lotst sie zu einem Flussboot, wo ein ganz anderes Spiel läuft. Jetzt, so die Sklavin, habe Jeanne die Chance, entweder viel Geld zu gewinnen oder den Herren, gegen die sie spielt, jeden beliebigen Wunsch zu erfüllen. Nach ein paar Partien des Gewinnens wird es für Jeanne ernst, als sie wieder und wieder verliert – und an Lustgenuss gewinnt…

Mein Eindruck

Jeannes Werdegang zur sexuellen Erfüllung ist erzählerisch sorgfältig eingefädelt. Die Szene in Truongs Boot des Glücksspiels ist nicht nur der Höhepunkt in Jeannes Odyssee, sondern entpuppt sich auch als Voraussetzung dafür, dass Truong die Verträge unterzeichnet. Jeanne ist also eine Art Geschenk des Casinobesitzers Georges an seinen Geschäftsfreund Truong, der stets nach erfreulichen Überraschungen Ausschau hält. Welcher Natur die sind, belegt seine Sammlung künstlicher Phalli.

Dass die Hauptakteurin in der „Transaktion“ auf dem Spielboot nicht unlädiert aus den sexuellen Begegnungen hervorgeht, verwundert nicht. Und der Leser fragt sich, warum sich eine Frau derart erniedrigen muss, bevor sie in den vollen Genuss der Lust gelangen kann. Jeanne hat in dieser Sache nur die Wahl zwischen Dienstbarkeit und schwerer körperlicher Bestrafung. Da fällt ihr die Wahl nicht schwer. Sie kann im Gegenteil von Glück sagen, wenn sie nicht wie Lotus zur Sexsklavin gemacht wird.

2 Die Besenkammer

Olga ist eine junge Lehrerin an der gleichen Schule, an der ihr Geliebter Philosophie unterrichtet. Ihm zuliebe trägt sie schwarze Strumpfhosen unter einem kurzen Rock und verzichtet auf ein Höschen. Diese Selbstentblößung erregt sie und fortan „sieht“ sie in ihren 13- bis 14-jährigen Schülern die gleiche Erregung. Auf diese Weise entgehen ihr die begehrlichen Blicke des jungen Tremollet nicht, die sie antörnen. Holt er sich etwa gerade unterm Pult einen runter? Nach der Stunde behält sie ihn im Klassenzimmer zur „Spezialbehandlung“. Sie hat nichts dagegen, wenn seine Hand unter ihrem kurzen Rock forscht und fündig wird: Sie ist nass und duftet unwiderstehlich.

Aber um einander näherzukommen, sei das Klassenzimmer denkbar ungeeignet, erklärt ihr Tremollet und führt sie quer durch das weitläufige Schulgebäude in eine Besenkammer. Angesichts der Putzgerätschaften fühlt sich Olgas Bewusstsein unvermittelt in ihre Kindheit versetzt und verwandelt sie in das angsterfüllte Mädchen, das an einem solchen Ort von den strengen Nonnen seine Prügelstrafen verabreicht bekam. Ihr junger Lover wundert sich doch sehr und versucht, sie in die Gegenwart zurückzuholen. Nachdem es ihm gelungen ist, können sie endlich zur Liebestat schreiten…

Mein Eindruck

Wie fast immer in diesen Geschichten dient der sexuelle Anreiz vor allem dazu, Erinnerungen, Ängste und Wünsche freizusetzen, die die Protagonistin zum Teil umzusetzen vermag. Daher reibt sich der Leser verwundert die Augen, wenn er (wieder mal) statt einer expliziten Sexszene eine Exkursion in die Vergangenheit der Heldin mit all ihren Ängsten vorgesetzt bekommt.

Die sehr gefühlsbeladene Rückblende in die Klosterschule der Heldin erinnerte mich an die Jugend der jungen Léone in „Zärtliches Tagebuch“ (Le cahier volé, 1978, siehe meinen Bericht), in dem die Autorin ihre eigenen Erfahrungen anno 1950/51 im Poitou verarbeitete. Sex ist seitdem stets nur Mittel zum Zweck der Selbstheilung und -verwirklichung der Heldin, nie der Zweck selbst.

3 Der schwarze Milan

Auf einer Kreuzfahrt durchs Mittelmeer lernt die junge, ledige und depressive Jenny den Amerikaner Rowlands und seine Frau Madge kennen. Die beiden nehmen sie unter ihre Fittiche, doch sie ist es leid, ständig bevormundet zu werden. Es ist ja fast so, als betrachte er sie als seine Tochter, denkt sie wütend. Kurz bevor die „Patmos“ in den Hafen von Saloniki einläuft, erblickt Jenny den Schatten eines Vogels vor der Sonne, der ihr Angst einflößt. Rowlands bezeichnet den Vogel als Schwarzen Milan, einen segelnden Raubvogel.

Später sitzt Jenny mit den Rowlands in einem Kafenion in der Altstadt und findet heraus, dass eben dieser Schwarze Milan einem Jüngling gehört, der ihn auf seiner Schulter trägt: ein Falkner. Auch ein Bärendompteur wirft ihr begehrliche Blicke zu und hofft, für die Kunststücke seines Bären ein Almosen zu erhalten. Doch Rowlands schickt ihn unwirsch weg. Aus einem unbewussten Impuls, vielleicht einer Abwehrreaktion gegen die Bevormundung durch den Amerikaner, springt Jenny auf und folgt dem Falkner in die Gassen der Altstadt. Schnell hat sie sich verirrt, sieht sich von Männern umzingelt und überwältigt. Sie verliert das Bewusstsein.

Sie erwacht in einer Art Zelle, die nur mit einer Pritsche und einem Eimer möbliert ist. Hier lässt sie sich von dem jungen Falkner auf jede erdenkliche Weise sexuell benutzen. Doch ihre Tage als Sexsklavin nähern sich ihrem Ende, als es dem Bärenführer gelingt, mithilfe eines Dietrichs ihre Zellentüre zu entriegeln und mit seinem Bären auf sie einzudringen. Der Falkner verhindert ihre Vergewaltigung. Da erwacht Jenny – an Deck ihres Kreuzfahrtschiffs. Alles nur geträumt?

Mein Eindruck

Dies ist nur der Versuch eines Handlungsabrisses, denn die eigentliche Geschichte findet nur in Jennys Bewusstsein statt. Die Schwierigkeit für sie selbst besteht darin, dass sie in erster Linie unbewusst handelt und nur den Impulsen folgt, die ihr Unterbewusstsein ihr schickt. Kein Wunder also, dass ein Großteil der Geschichte an der Grenze zur Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit stattfindet. Hier zeigt sich wohl die große Verehrung, die die Autorin für die Surrealisten hegte, besonders für André Breton, den sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit zitiert, beispielsweise in „Lola“. Begriffe wie „Vernunft“ und „folgerichtige Abfolge“ lösen sich im Surrealismus auf, und aus der linearen Zeitfolge wird eine anhaltende Gegenwart.

In dieser virtuellen Ewigkeit verwirklicht Jenny ihr Bedürfnis nach Entgrenzung und Lusterfüllung. Bürgerliche Moralvorstellungen haben an diesem „Ort“ keine Gültigkeit mehr, so dass für sie die sexuelle Benutzung durch den jungen Falkner keineswegs Sklaverei darstellt, sondern eine Erweiterung ihrer Erfahrungsmöglichkeiten. „Ich bin eine Schlampe“, na und?

Dieser Wunschort, den sie in ihrem Traum imaginiert, ist jedoch keineswegs konfliktfrei. Tiere dienen als Symbol für männliche Herrschaft, der sie sich zu unterwerfen hat. Der Schwarze Milan bezwingt ihr verlorenes Ich durch seinen scharfen Blick, doch der Vogel wird wiederum bezwungen durch den Bären, den der Bärenführer mitbringt, um sich sein vermeintliches Recht auf Jenny zu nehmen. Tierwesen spielen in der Phantasie der Franzosen bzw. Westeuropäer eine große symbolische Rolle. Walerian Borowczyk ließ ihn seinem Film “ La bête“ ebenfalls einen Bären auftreten, um die dominante männliche Sexualität zu verkörpern.

4 Das Vorübergehen des Wirbelsturms

Anne ist verhext worden, und sie muss wieder enthext werden. Ihr Vater Jacques de La Gilerie ist davon überzeugt, dass seine Tochter Anne, die sich sehr seltsam benimmt, von einer Gottheit, einem Loa, besessen ist. Hier auf den karibischen Antilleninseln ist der Voodooglaube weit verbreitet, und er kann ihn nicht ignorieren. Schon hat Anne, seine schöne rothaarige Tochter, einen unschuldigen Hund getötet und genüsslich ausgeweidet. Sie ist eine Bedrohung. Sie läuft derzeit einem jungen Mulatten nach, der offenbar den Tonton macoute angehört und der beteuert, dass er sie nicht liebe. „Aber ein Mann ist eben ein Mann, nicht wahr?“ Nur wenn sie Sex mit ihm gehabt hat, kehrt Anne halbwegs zu ihren üblichen Selbst zurück, aber ihre Gedanken sind woanders.

Heute hat Jacques seinen Freund Gérard Saint Martin abgeholt, um mit ihm einen bemerkenswerten Abend zu verbringen. Ihm erzählt er im Vertrauen, was er schon alles versucht habe – alles zwecklos. Nur Joséphine, seine schwarze Haushälterin, wisse Rat: Die Enthexung Annes muss während einer Voodoo-Zeremonie erfolgen, bei der sie, Joséphine, als Priesterin fungieren werde. Und wie soll das gehen, eine Enthexung, fragt Gérard mit Recht.

Der Plan ist folgender, erklärt ihm Jacques: Der Loa, von dem Anne besessen sei, müsse in eine andere, ebenso schöne Frau gleichen Aussehens übergehen. Gérard ist verblüfft. Aber Jacques hat solche eine Frau bereits aus Paris kommen lassen, und siehe da: Sie ist genauso rothaarig, weißhäutig und aufgeweckt wie Anne an ihren besten Tagen. Eva trägt ein schwarzes Kleid, während sich Anne mit kaum etwas mehr als einem Unterrock behängt. Eva hat Anne bereits im einsetzenden Regen kennengelernt, allein im Unterrock, doch die junge Frau habe sie, Eva, in einer unbekannten Sprache beschimpft.

Es ist offenbar höchste Zeit, den Sexdämon zu überlisten. Der Wirbelsturm, dessen schwere Regenwolken wie eine Stampede über die Insel ziehen, ist die passende Kulisse für die Voodoo-Zeremonie, bei der Joséphine den Vorsitz führt. Schon bald dröhnen die Trommeln und treiben die beiden Tänzerinnen in erotische Zuckungen. Wird der Loa erscheinen?

Mein Eindruck

Diese gruselige Story könnte beinahe von Robert E. Howard stammen, der sich in seiner Erzählung „Tauben aus der Hölle“ ebenfalls stark auf die Voodoo-Religion stützte (deutsch im „Gruselkabinett“ von Titania Medien). Zahlreiche Fachausdrücke wie „Tonton Macoute“, „Loa“ oder „Zobop“ belegen das authentische Ambiente, mit dem sich die beiden Franzosen wie mit einem Alien-Planeten konfrontiert sehen. Sie sind Nachkommen der einstigen Kolonialherren, die auch Sklaven aus Afrika importierten, damit jemand ihre Zuckerrohrernte einbrachte – die einheimischen Kariben taugten dafür nicht. Doch man bekam die Sklaven nicht als Roboter, sondern als menschliche Wesen mit einer Seele und einer Kultur, und das ist nun mal die Voodoo-Religion.

Als Vermittlerin zwischen den beiden Welten tritt die einfache Haushälterin Joséphine auf, die sich als mächtige Priesterin entpuppt, wenn sie die Zeremonie, die den Loa beschwört, leitet. Dass der Loa von einer Frau zu einer anderen überwechseln kann, ist zwar pure Fantasy, aber die Erscheinung einer Frau, die besessen ist oder es zumindest glaubt, ist es nicht. Tierwesen und sog. „Wolfsfrauen“ sind mittlerweile gut dokumentiert. Auffällig ist, dass eine solche besessene Frau eine dominante sexuelle Seite ihres Wesens an den Tag legt. Von der Kirche wurden solche Frauen als „Hexen“ beschimpft und verbrannt. Jacques kann man es nicht verdenken, dass er seine Tochter nicht verbrannt, sondern lieber enthext sehen will. Der Rest folgt aus diesem Wunsch.

Diese Story könnte auch von Kleist oder E.T.A. Hoffmann stammen, spielen aber auf den französischen Antillen, also Guadeloupe oder Martinique. Diese Inseln habe ich selbst besucht und kann bezeugen, dass dort ständig, wie in der Geschichte, Rum-Punsch getrunken wird. Dieser Cocktail, auf englischen Inseln wie das in der Story erwähnte Saint Lucia auch „Planter’s Punch“ genannt, schmeckt wirklich gut.

5 Die Beerdigung des Vater Renaud

Vater Reynaud ist gestorben, und jetzt trägt ihn eine Trauerprozession zum Friedhof der südfranzösischen Gemeinde. Hinter dem Sarg herrscht die entsprechende Rangfolge: zuerst die Enkelin Martine, die aus Paris angereist ist; dahinter wischt sich der Bürgermeister den Schweiß von der Stirn. Der Schweiß kommt nicht nur von der südlichen Hitze, sondern auch vom Anblick des göttlichen Hinterns, der Martine gehört. Bevor die Dorfweiber kommen, geht ein junger Mann mit langen Haaren, aber von unbekannter Herkunft. Die Weiber fragen sich, wer das wohl sein könnte.

Schon bei der Trauerrede kommt es zu unziemlichen Zwischenrufen, die nichts Gutes am Ruf des Verblichenen lassen. Und warum nennt Martine den Bürgermeister Monsieur Jean statt Monsieur Victor? Er behauptet, es müsse sich um ein Missverständnis handeln, denn er sei nie in jenen gewissen Pariser Etablissements zweifelhaften Rufs gewesen, in denen Martine offenbar arbeitet.

Wie auch immer: Alle freuen sich jetzt auf einen tüchtigen Leichenschmaus, mit einem berauschenden Schluck dunkelroten Weins und einem Menü, das aus mindestens fünf Gängen bestehen muss. Nach dieser deftigen Sause steht kaum noch jemand auf den Beinen, und mehr als ein Bursche hat seine Hände in der Bluse der Nachbarin stecken. Der Bürgermeister gerät in eine erotische Bredouille, und dieser unbekannte junge Mann macht sich sehr zur Frustration der Weiber vom Acker. „Schlappschwanz! Feigling“ rufen sie.

Er jedoch folgt Martine, die sich hier auf dem Anwesen ihres Opas bestens auskennt. Sie geleitet ihn über die Scheune auf den Dachboden und von dort durch eine Falltür wiederum in ein Versteck, das mit duftenden Wiesenblumen gefüllt ist. Hier im Dunkeln lässt es sich gut munkeln. Jetzt zeigt sich auch, dass der junge Herr gar keiner ist, sondern ein Mädchen…

Mein Eindruck

Schon viele Male haben erotische Romane das lustvolle Landleben in Frankreich hymnisch beschrieben. Aus der Perspektive der Literaturtradition ist also diese Erzählung nicht besonders innovativ. Aber sie sorgt dennoch sowohl für erotische Momente als auch für kritische Untertöne. Der Bürgermeister Victor scheint sich als Jean mehrfach in Paris verlustiert zu haben, nicht zuletzt auch in den Etablissements, in denen Martine arbeitete.

Insofern folgt er den Fußstapfen von Vater Reynaud, dessen weibliche Eroberungen nicht an einer Hand aufzuzählen sind. Außerdem scheint Reynaud eine Art verkappter Kollaborateur gewesen zu sein, der sich nach der Befreiung Frankreichs flugs in einen Widerstandskämpfer verwandelte – nur dass der Widerstand nichts von ihm wusste. Martine weiß sich durchaus an ihren männlichen Rivalen zu rächen.

6 Der Lastwagenfahrer

Paolo und Giuseppe sind zwei italienische Lastwagenfahrer, die sehr viel für die holde Weiblichkeit übrig haben. Außerhalb von Rom stehen sich die Straßenmädchen die Beine in den Bauch, aber wenn das dynamische Duo aufkreuzt, wachen sie auf und fallen über sie her. Nur ihr Zuhälter Marco vermiest ihnen die Tour, aber Paolo weiß ihn zu behandeln: Er pisst ihm auf die Designerschuhe und steckt ihn in eine Wassertonne.

An einem Truckstop haben die beiden ihre jeweiligen Dauerfreundinnen. Giuseppe herzt die dralle Bedienung Mila und Paolo deren Chefin Luciana, der die Kneipe gehört. Luciana nimmt ihren Lover gerne mit auf ihr Zimmer, das Paolo sehr bewundert: Es ist mit so viel weiblichem Geschmack eingerichtet, dass es ihn antörnt. Als ihm eine alte Ausgabe des „Playboy“ in die Hände fällt, beschließt er, so ein Modell mal zu buchen. Luciana warnt ihn vergebens.

Nathalie ist das gebuchte Playboy-Fotomodell, doch Paolos Blumenstrauß ist ebenso fehl am Platz wie sein feines Outfit, als sie ihn auf ihr Hotelzimmer im „Hilton“ lotst. Hier ist alles derart schnieke, dass ihm sein bester Freund den Dienst versagt. Er kriegt ihn eben nur in seinem eigenen Ambiente hoch. Doch Nathalie ziert sich nicht, sondern will es dem Kunden recht machen. Sie zieht ein Kleid mit Knöpfen an und setzt sich in seinen Truck. Hier kommt Paolo endlich auf seine Kosten. Danach nimmt er sie mit auf eine kurze Reise.

In Lucianas Trucker-Kneipe wird sie willkommen geheißen, denn was nützt schon Eifersucht unter Freunden? Und als sich Paolo mit seiner treuen Luciana verdrückt, bietet sie sich allen selbst an…

Mein Eindruck

Die Geschichte liest sich wie von alleine, denn sie besteht, wie ein Drehbuch, fast nur aus Dialog. Die Szenen sind bildhaft, amüsant und voller Lebensfreude. Die drei Teile lesen sich wie ein dialektischer Dreisatz: These, Antithese (im Hilton) und Synthese. Am Schluss muss eine Erkenntnis stehen, und das ist auch der Fall. Bei Paolo fällt der Groschen: Er hat sich rettungslos in Luciana verliebt. Denn sie verkörpert realen, lebendigen Sex, während Nathalie, das Fotomodell aus dem „Playboy“, zunächst nur gekünstelte Schein-Erotik anzubieten hat. Kein Wunder also fiel die Reaktion seines „besten Freundes“ etwas enttäuscht aus.

7 Kapitel für Kapitel

Francesca leidet unter einer Schreibblockade, und sie ist mit ihrem Buch schon 15 Tage im Rückstand. Ein Stelldichein mit dem Gigolo Léonard hilft ihrer Muse auch nicht auf die Sprünge, und sie muss den anrufenden Lektor abwimmeln. Der kündigt trotzdem einen Verlagsboten an, um das angeblich schon geschriebene abzuholen.

Gehetzt begibt sich Franca aus ihrem Haus in der Gegend der Porte Maillot, nimmt das Auto – und sieht sich unvermittelt von einem helmtragenden Motorradfahrer verfolgt. Als sie in einen Stau gerät, wagt es der Kerl, an ihre Türklinke zu greifen. Das treibt sie vollends in die Panik. Flugs düst sie zum nächsten Kaufhaus, um in der Menge der Käufer zu verschwinden. Doch diese Kleideretage ist wie ein Spiegelkabinett und bevor sie es sich versieht, ist sie in der Männertoilette gelandet.

Endlich sicher? Denkste! Die runden Buchstaben der Toilettensprüche entpuppen sich als Gucklöcher. Sie fühlt sich plötzlich von allen Seiten beobachtet. Jemand befiehlt ihr stillzuhalten, damit er ihren Hintern bewundern kann. Erst als sie sich umdreht und er ihren fehlenden Schlüpfer – und Penis – bemerkt, fängt er an zu fluchen. Aber nun, nach Ladenschluss, weist er sie auf ein anderes Problem hin: Gleich kommt der große Afrikaner, um die Toiletten zu kontrollieren. Franca macht sich ganz klein und entgeht der Entdeckung. Doch das ist längst nicht das letzte der Abenteuer, das ihrer Muse neues Futter gibt. Und der Verfolger auf dem Motorrad? Na, das ist der Verlagsbote, der ihr erstes Kapitel haben will…

Mein Eindruck

Es geht doch nichts über eine gute Inspirationsquelle. Franca und ihre Begleiter wechseln ständig das Geschlecht, und sie wird von den Putzfrauen sogar für eine der ihren gehalten. Wo gehört sie wirklich hin, fragt sie sich gehetzt. Es ist bemerkenswert, wie leicht eine allein lebende, kinderlose Frau aus dem Häuschen geraten kann. Sie verliert die Orientierung, muss immer fragen, was zu tun ist, verwechselt Leute (und verwirrt den Leser) und gibt am Schluss natürlich der ganzen (männlichen) Welt die Schuld. Diese Story ist so turbulent, dass der Leser genau aufpassen muss, denn die Szenenwechsel erfolgen übergangslos.

Die Übersetzung

Ich bin an einigen Stellen nicht mit dem Stil der Übersetzung einverstanden.

S. 15: Jeanne wird ein „Spieltrieb“ angedichtet. Aber den haben auch Kinder. Jeannes Laster ist Spielsucht.

S. 18: „Viele Männer musterten ganz offensichtlich die Reize der jungen Frau.“ Das ist „offensichtlich“ nichts Besonderes. Nein, um etwas Besonderes daraus zu machen, müssten sie sie „unverhohlen“ mustern.

S. 72: „…am Totendenkmal vor“. Alle Grabsteine auf einem Friedhof sind Totendenkmäler. Es muss also ein besonderes gemeint sein, und das ist wahrscheinlich das Denkmal für die Gefallenen des Ersten und zweiten Weltkriegs. So etwa nennt man bei uns das Kriegerdenkmal.

S. 101: „In abgetragenen Jeans und spitzenbesetzten Tennisschuhen überquerte der Junge…“: Ich habe noch nie Tennisschuhe mit Spitze als Besatz gesehen – die Spitze wäre ja im Handumdrehen wieder abgewetzt. Ich bin also entweder ein Fashion-Ignoramus oder die Übersetzerin meint etwas völlig anderes.

Unterm Strich

Ob diese „Contes pervers“ (O-Titel) heutzutage, nach 40 Jahren, noch als „pervers“ gelten können, sei mal dahingestellt. Seinerzeit war sie wohl noch dazu angetan, mit ihre wagemutigen, tabubrechenden Heldinnen gewisse Moralapostel auf die Barrikaden zu treiben. Eine Frau (Jenny) erträumt sich ihre sexuelle Versklavung, eine andere (Jeanne) entgeht ihr nur um Haaresbreite, die dritte (Olga) erinnert sich in einer erotischen Situation an die Unterdrückung durch die Nonnen, die sie einst erzogen. Die Inbesitznahme einer Frau findet bei der karibischen Anne ihr Maximum: ein Sexdämon hat sie in ihren Klauen. Davon ist zumindest ihr Vater überzeugt.

Martine hat sich (nicht nur von ihrer ländlichen Herkunft) befreit und ist jetzt eine lesbische Sexarbeiterin in Paris, so wie ihre italienischen Kolleginnen in Rom. Francesca arbeitet sehr indirekt im Sexgeschäft: Als Autorin erotischer Geschichten – quasi als Alter Ego der Autorin Deforges – muss sie sich ständig neue schlüpfrige Szenen ausdenken, was früher oder später in Stress ausarten kann.

Indirekt mahnt die Autorin Deforges Francesca, den Kontakt mit dem echten leben nicht zu verlieren, denn das bietet immer die besten und tiefsten Sexerlebnisse. Sie will damit sagen: Der größte Teil des Lebens ist vor der Öffentlichkeit verborgen, weil es um Geschlechtszugehörigkeit, Geschlechtlichkeit und um zahlreiche Konflikte und Missverständnisse in diesem Minenfeld geht. Doch solche Missverständnisse sind für den Leser nicht nur amüsant und unterhaltsam, sondern auch erhellend: Wie sieht’s denn im eigenen Liebesleben aus, soll er /sie sich wohl fragen. Es könnte womöglich ebenfalls etwas Inspiration und Auffrischung gebrauchen.

Hinsichtlich ihrer Verständlichkeit bieten Storys wie „Der Lastwagenfahrer“ überhaupt keine Probleme, wohingegen eine Story wie die Titelgeschichte den Leser an seine kognitiven Grenzen führt, weil hier der Surrealismus waltet. Ich fand beide Pole von großem Reiz, und die Geschichten, die dazwischen liegen, ebenfalls interessant und anregend.

Taschenbuch: 119 Seiten
Originaltitel: Contes pervers, 1980;
Aus dem Französischen von Brigitte Schenker.
ISBN-13: 978-3499149269

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