George Pelecanos – Der Totengarten

Das geschieht:

In Washington, der Hauptstadt der USA, trieb er 1985 sein Unwesen: der „Palindrom“-Mörder, der drei schwarze Teenager, deren Vornamen sich von vorn wie von hinten lesen ließen, vergewaltigte und ihnen in die Köpfe schoss. Gefasst werden konnte er nie, denn er tauchte spurlos unter; ein Fall, der Sergeant T. C. Cook, der damals mit den Ermittlungen betraut war, sehr nahe ging.

Mehr als zwei Jahrzehnte später liegt Asa Johnson mit einer Kugel im Schädel in einem Park in Washington. Ex-Cop Dan Holiday glaubt die Handschrift zu erkennen. Er tut sich mit dem längst pensionierten Cook zusammen, der dem „Palindrom“-Killer immer noch nachjagt. Dritter im Bund wird Gus Ramone, Holidays ehemaliger Partner, der im Polizeidienst geblieben und an den Ermittlungen im Mordfall Johnson beteiligt ist. Mit frischem Eifer und den Methoden des 21. Jahrhunderts beginnt das Trio aufs Neue mit der Fahndung.

Doch sind die Täter von einst und jetzt wirklich identisch? Die Leiche eines Kleinkriminellen wird entdeckt. In seinem Körper steckt eine Kugel aus derselben Waffe, die Asa Johnson den Tod brachte. Ist dieser nur ein weiteres Opfer in einem Drogenkrieg? Die Meinungen sind geteilt. Während Holiday und Cook weiter an die Wiederkehr des „Palindrom“-Mörders glauben, folgt Ramone einer anderen Spur. Die Ermittlungen zerfasern, jede Spur scheint zu einem eigenen Verbrechen zu führen …

Mehr Gesellschafts-Panorama als Krimi

George Pelecanos gehört zu den Großen der modernen Kriminalliteratur. Dieses Prädikat findet hier mit Bedacht Verwendung, denn zumindest die Kritik schätzt ihn nicht nur für die Prägnanz seines Ausdrucks, sondern auch als Dokumentaristen seiner Heimatstadt Washington, deren Geschichte/n er mit ihren politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aspekten in seine Romane einfließen lässt. Pelecanos hat quasi eine Chronik aufgezeichnet, die mehrere Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts umfasst. Diese Chronik stellt er als Geschichte ‚von unten‘ dar. Seine ‚Helden‘ sind die kleinen Leute, deren Alltag von den Historikern meist eher kursorisch erfasst wird. Dabei sehen gerade sie sich nicht nur mit dem Verbrechen, sondern auch mit den geduldeten Ungerechtigkeiten ihrer Zeiten konfrontiert.

In „Der Totengarten“ steht der auch im 21. Jahrhundert prächtig gedeihende Rassismus im Mittelpunkt. Gus Ramone ist hispanischer Herkunft, seine Ehefrau schwarz. Schon das speist eine Quelle rassistischer Niederträchtigkeiten, die natürlich auch die Kinder der Ramones einschließt. Am Beispiel des Sohnes Diego möchte Pelecanos die Misere einer Generation verdeutlichen, die von der Chancengleichheit, für die sich die USA selbst rühmen, quasi systematisch ausgeschlossen wird. Ein ganzer Handlungsstrang beschäftigt sich deshalb ausführlich mit Diegos Schwierigkeiten in einem privaten und höherwertigen aber ‚weißen‘ Schulsystem, das die ‚farbigen‘ Schüler in die öffentlichen Schulen abdrängt, die buchstäblich verrotten und finanziell so vernachlässigt werden, dass die Lehrer Bleistifte und Papier vom eigenen Gehalt anschaffen müssen. Dass dies ausgerechnet in der US-Hauptstadt Washington und damit unter den Augen des Präsidenten geschieht, verleiht dieser Tatsache eine pikante Note.

Aus Elend und Ungerechtigkeit erwachsen Benachteiligung und vor allem Verbrechen: Diese Lektion hämmert uns Pelecanos immer wieder ein. Leider übertreibt er es in seinem verständlichen Eifer. Wir haben schnell begriffen, dass Gus Ramone nicht nur Polizist ist und für seinen Job lebt, sondern auch Ehemann und Familienvater mit den entsprechenden Problemen in einer modernen aber keineswegs gerechten Welt. Man muss es uns nicht ständig unter die Nase reiben.

Der zynische Leser der Gegenwart

Der Krimi kann oder sollte die Gegenwart aufgreifen. Der Fall und die Hatz auf den Täter fordern nicht den Verzicht auf gesellschaftskritische Anmerkungen. Allerdings kommt es auf die Balance zwischen Unterhaltung und Anspruch an. Normalerweise weiß Pelecanos sie zu wahren. Dieses Mal gehen seine Sozialarbeiter-Ambitionen jedoch mit ihm durch.

Klingt das zynisch? Das moralische Empfinden der Leserschaft hat sich generell fraglos verändert. Der durch und durch ‚böse‘ oder wenigstens psychisch aus dem Gleichgewicht geratene Charakter ist interessanter geworden als der redliche, sich abrackernde und nach den Regeln spielende Gutmensch. Anders ausgedrückt: Der unsympathische Dan Holiday fasziniert, während Gus Ramone langweilt.

Pelecanos macht es uns zu einfach, so zu empfinden. Über weite Buchstrecken lässt er Holidays und Ramones Erlebnisse parallel ablaufen, wobei er immer wieder zwischen den beiden ‚springt‘. Erneut spielt er mit gezinkten Karten, denn sein Ziel ist eindeutig, Holiday im Vergleich mit dem redlichen Polizisten, Ehrenmann und Familienmenschen Ramone als Verlierer dastehen zu lassen. Aufdringlich intensiv bedauert Holiday das Ende seiner Laufbahn als Ordnungshüter; er trinkt, ist promiskuitiv und vor allem unglücklich.

War da nicht noch ein Mehrfachmord?

Mancher Leser dieser Zeilen könnte zu dem Schluss kommen, der Rezensent habe das Pferd von hinter aufgezäumt, widmet er sich doch erst jetzt der entscheidenden Frage, wie denn „Der Totengarten“ als Krimi zu beurteilen ist. Doch in der Tat gerät die Suche nach dem „Palindrom“-Mörder dem Verfasser zeitweise allzu weit aus dem Blickfeld. Das ist doppelt schade, denn als Krimi weist „Der Totengarten“ die typischen Pelecanos-Qualitäten auf. Seine Schilderungen des Polizei-Alltags lassen sich – sobald er Ramones Familienangelegenheiten ruhen lässt – problemlos mit denen Joseph Wambaughs vergleichen, der als Prinzipal in Sachen Cop-Kolorit gilt.

Der „Palindrom“-Mörder-Plot wird zudem energisch gegen den Strich gebürstet. Am Ende steht nicht die dramatische Entlarvung des Täters. Pelecanos lässt den Fall förmlich zerfallen, um auf diese Weise noch letzte Sicherheiten zu zerstören: Die kriminalistische Realität ist kein Krimi, sondern ein komplexes System einander überlappender Wahrheiten. In diesem Punkt ist „Der Totengarten“ einfach genial: Pelecanos hätte auf dieser Schiene fahren und das Predigen lassen sollen.

Autor

George Peter Pelecanos, als Sohn griechischer Einwanderer 1957 und echtes Kind der Arbeiterklasse geboren und aufgewachsen, kennt die Stadt Washington und ihre Geschichte; die hellen wie die dunklen Seiten. Bis zu seinem 32. Lebensjahr verdiente Pelecanos sein Geld als Bauarbeiter, Barmann, Schuhverkäufer und in anderen Jobs, konnte aber nebenbei studieren.

1989 schrieb er einen Roman, der zum ersten Teil einer Trilogie um den Privatdetektiv Nick Stefanos wurde. „A Firing Offense“ war gleichzeitig der Auftakt zu Pelecanos‘ ehrgeizigem Projekt, die Geschichte Washingtons im 20. Jahrhundert romanhaft zu beschreiben. Diese sieben Bücher sind zumindest locker miteinander verwoben, und gemeinsam bilden sie so etwas wie ein Sittenbild der Stadt und ihrer Bewohner. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach der Bedeutung von Herkunft und Freundschaft bzw. Solidarität. Wie weit kann oder muss sie gehen? Darf sie die Grenze zwischen Gut und Böse ignorieren? Für Pelecanos ist die Entscheidung klar, aber er verschleiert nie, dass der ‚richtige‘ Weg dem, der ihn geht, erst recht ins Verderben führen kann.

2001 begann Pelecanos mit einer neuen Reihe um den (schwarzen) Privatdetektiv Derek Strange und seinen Partner Terry Quinn. Sie spielt im Washington der Gegenwart und wirft kritische Blicke auf den Drogenkrieg im Schatten des Weißen Hauses. Außerdem beschäftigt sich der Verfasser gewohnt intensiv mit dem weiter aktuellen Problem der Rassendiskriminierung. Hier gehen ihm, der sonst mit einer klaren Prosa und mitreißenden Plots glänzt, indes manchmal die Pferde durch – Pelecanos hebt den Zeigefinger statt zu erzählen, eine Untugend, die auch in einer weiteren, 2011 um den Militär-Veteranen und jetzigen Ermittler Spero Lucas begonnenen Serie durchschlägt.

Hierzulande bleibt Pelecanos ein Geheimtipp. Das verdank‘ er in erster Linie einer unglücklichen, von mehreren Verlagswechseln geprägte Veröffentlichungsgeschichte.

Taschenbuch: 457 Seiten
Originaltitel: The Night Gardener (New York : Little, Brown and Company 2006)
Übersetzung: Anja Schünemann
http://www.rowohlt.de

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