Bruno Preisendörfer – Die Vergeltung

Der Volksmund ist sich sicher: „Gut Ding will Weile haben.“ Die Sache mit der Weile trifft auch auf Michael Keller zu, einen der Protagonisten von „Die Vergeltung“, aber ob das, worauf er wartet, gut ist, liegt wohl im Auge des Betrachters.

Die Geschichte beginnt damit, dass Michael Keller am Frankfurter Hauptbahnhof in ein Taxi steigt und eine Fahrt zur Düsseldorfer Messe verlangt. Das ist nicht gerade eine kurze Strecke, aber Sebastian Neubert, der Taxifahrer, ist froh über das Geld. Er ahnt nicht, was unter dem Jackett seines Fahrgastes verborgen ist und was in dessen Kopf vorgeht. Denn die beiden kennen sich, Sebastian ahnt nur nichts davon. Vor neunzehn Jahren wurde Michaels Freundin Vanessa umgebracht, als sie einen Einbrecher in ihrer Wohnung überraschte. Dieser Einbrecher war Sebastian Neubert, der ursprünglich zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war, wegen guter Führung aber vorzeitig entlassen wurde und nun versucht, sich eine bürgerliche Existenz aufzubauen. Er hat geheiratet, zwei Stiefkinder, liest gerne. Nichts erinnert mehr an den kriminellen Sechundzwanzigjährigen, bei dessen Anblick im Gerichtssaal sich Michael geschworen hat, eines Tages Vergeltung für den Mord an seiner Frau zu üben.

Nach dem Prozess bricht Michael alle Kontakte zu seinem früheren Leben ab und zieht sich zurück. Er informiert sich immer wieder darüber, was mit Sebastian Neubert passiert, und nachdem er ihn eine Weile nach seiner Entlassung beobachtet hat, beschließt er: Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen. Auf der Fahrt nach Düsseldorf soll es passieren, an einer Raststätte. Er wird den Mörder seiner Frau umbringen und sich danach der Polizei stellen. Doch er verpasst den richtigen Augenblick an der Raststätte, seine sorgfältige Planung gerät durcheinander. Stattdessen passiert etwas, das er selbst nicht für möglich gehalten hat: Er entwickelt Sympathien für Sebastian Neubert …

Bruno Preisendörfers Roman „Die Vergeltung“ ist ein kleines, in sich abgeschlossenes Werk. Die Anzahl der Schauplätze ist begrenzt, der Großteil der Handlung findet zwischen Sebastian und Michael statt. Das Buch dreht sich um diese beiden Männer, die durch ein Ereignis in der Vergangenheit verbunden sind, das ihrer beider Leben verändert hat. Dementsprechend steht weniger die Action im Vordergrund als die Reflexion über Vergangenes. Gerade in den ersten Kapiteln beschäftigen sich beide Männer damit, was seit dem Tod von Vanessa passiert ist. Dabei geht es weniger um eine chronologische Darstellung der Dinge als um die Hervorhebung bestimmter, wichtiger Punkte, die in die Gegenwart nachwirken. Michael Keller erzählt, wie der Wunsch nach Vergeltung dazu geführt hat, dass er keine menschlichen Beziehungen mehr eingeht, während Sebastian Neubert nach seiner Entlassung genau dies getan hat. Die Hochzeit mit der Wirtin Waltraud bedeutet für ihn Sicherheit, während er ein gewisses Verantwortungsgefühl für seinen pubertierenden Stiefsohn Florian entwickelt. Er möchte ihn vor einer kriminellen Karriere bewahren, was ihn immer wieder vor unschöne Erinnerungen stellt.

Man sieht: Die Charaktere als tragende Elemente des Romans sind dementsprechend ausgearbeitet. Obwohl sie aus der dritten Perspektive erzählen, erlauben sie dem Leser direkten Zutritt zu ihrem Inneren. Sie legen ihre Gedanken offen und halten nichts zurück. Sie erzählen subjektiv, doch Preisendörfer lässt dem Leser genug Raum für eigene Interpretationen. Die sind auch nötig, denn die Charaktere sind nicht moralisch einwandfrei. Beide haben Schuld auf sich geladen, und der Leser kommt oft an den Punkt, an dem er sich fragen muss, ob sein Urteil über die jeweilige Person nicht etwas voreilig war.

Die Handlung an und für sich besteht zum Großteil aus den Gedanken der Protagonisten. Da diese sich wiederum oft Erinnerungen widmen, verkommt „Die Vergeltung“ aber nicht zu einem einzigen verkappten Tagebuch, sondern wird zu einem angenehm zu lesenden, ja sogar spannenden Buch. Preisendörfer spielt mit dem Leser. Immer wieder legt er Köder aus, die eine spannende Wendung in der Geschichte versprechen, und immer wieder zieht er dem Leser den Köder vor der Nase weg. Der Autor sorgt für Überraschungen, schlägt immer wieder inhaltliche Haken und baut dadurch eine sehr feine, unterschwellig immer vorhandene Spannung auf. Dadurch und durch die großartige erzählerische Leistung entwickelt sich das eigentlich stille Buch zu einer nervenaufreibenden, mitreißenden Angelegenheit.

Überhaupt: die erzählerische Leistung. Genau wie der Rest des Buches kommt sie auf leisen Sohlen daher. Preisendörfer schreibt nicht sonderlich aufregend, sondern nüchtern und klar, ohne emotionalen Trubel. Er analysiert, er schafft eine unglaublich intime Atmosphäre, er schafft es, die beiden Hauptpersonen auch erzählerisch voneinander abzugrenzen. Während Michael Kellers Sicht vom Gedanken der Rache getrieben zu sein scheint, wirkt Sebastian Neubert sehr unsicher, wie einer, der sich erst wieder in der realen Welt zurechtfinden muss.

In der Summe ist „Die Vergeltung“ ein kleines, feines Buch mit Kammerspielcharakter. Wenige Personen, wenige Schauplätze, ein zentraler Punkt in der Geschichte: der Mord an Vanessa. Um dieses Ereignis drehen sich die Leben und Gedanken der beiden hervorragend ausgearbeiteten Charaktere. Und obwohl das Buchgeschehen in einem eng abgesteckten Rahmen stattfindet, entwickelt es doch ein sehr starkes Eigenleben und mitreißende Spannung. „Die Vergeltung“ poltert nicht mit viel Action und einer unglaublich originellen Geschichte in den Raum, sondern mit einer brillanten Ausarbeitung und einer Dynamik, die sich direkt aus der Handlung entwickelt und den Leser so schnell nicht mehr loslässt.

Gebunden: 240 Seiten
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