Ruth Rendell – Das Verderben

Rendell Wexford Verderben Cover TB 2004 kleinJunge Frauen werden entführt, ein Kind verschwindet, ein Familientyrann wird ermordet: In einer englischen Kleinstadt schürt die Angst die Aufregung zur Lynchstimmung, während die Polizei unter Zeitdruck die wirren Tatfäden zu entwirren versucht … – Der 18. Wexford-Krimi präsentiert einen Plot, der einerseits beliebig und andererseits übertrieben wirkt; besonders logisch ist das Geschehen zudem nicht, weshalb vor allem die Routine einer erfahrenen Autorin für Lektüre-Unterhaltung sorgt.

Das geschieht:

In der englischen Kleinstadt Kingsmarkham verschwindet ein junges Mädchen. Als es wieder auftaucht, weigert es sich zu sagen, was geschehen ist. Kurze Zeit darauf stößt einer zweiten Frau Ähnliches zu. Für die Polizei haben die Vorfälle nichts miteinander zu tun. Chief Inspector Wexford denkt anders. Sein Interesse ist geweckt, als er erfährt, dass er in Erfahrung bringen kann, dass die Frauen gezwungen wurden, für die Kidnapper Haushaltsarbeiten zu verrichten!

Sergeant Burden bemüht sich, den Eifer seines Chefs auf Wichtigeres zu lenken. Nach langjähriger Haft kehrt ein notorischer Pädophiler in seinen Heimatort Kingsmarkham zurück. Die wenig erbauten Nachbarn tun sich zusammen, um ihn zu vertreiben. Dabei schrecken sie vor Gewalt nicht zurück, rotten sich zusammen und belagern das Haus des Mannes. Als ein drittes Mädchen – ein zweijähriges Kind – verschwindet, eskaliert die Situation. Aus der improvisierten Bürgerwehr wird ein entfesselter Mob, der vor die Kingsmarkhamer Polizeiwache zieht und buchstäblich den Kopf des vermeintlichen Täters fordert. Offener Aufruhr bricht aus, bei dem ein Polizist zu Tode kommt.

Das verschwundene Kind wird unversehrt aufgefunden. Wexford und Burden kommen dabei einer Familientragödie auf die Spur: Die eigene Mutter hat ihr Kind weggegeben, um es vor dem gewalttätigen Vater zu schützen, der seine Frau demütigt und schlägt und die ganze Familie durch stetigen Terror in Angst und Schrecken versetzt. Da niemand wagt, sich gegen den Ehemann und Vater zu stellen, bleibt die Polizei machtlos. Wexford lässt die Familie aus der Ferne beobachten, denn bald mehren sich die Anzeichen dafür, dass Frau und Kinder stärker denn je zu leiden haben.

Dann wird der brutale Tyrann erstochen. Alles deutet auf die gepeinigte Ehefrau als Täterin hin; auch die minderjährigen Söhne sind verdächtig. Die Polizei findet allerdings heraus, dass der Ermordete viele Feinde in Kingmarkham hatte – und nicht alle können ein Alibi vorweisen …

Der Reiz des Bekannten

Zu ihrem 70. Geburtstag bescherte die kurz zuvor mit einem „Grand Masters Award“, dem „Oscar“ der Krimi-Schriftsteller, ausgezeichnete sowie in den Adelsstand erhobene Ruth Rendell ihren treuen und zahlreichen Lesern einen neuen Fall für Chief Inspector Reginald Wexford und Sergeant Michael Burden – den 18. bereits! Sie sorgte dabei für jene wohlige Geborgenheit, die der Leser klassischer englischer Kriminalromane ungeachtet einer mordreichen Handlung sucht – ein Widerspruch, der wohl nur in diesem Umfeld harmonisch aufgeht.

Die Geschichte spielt also erneut in Kingsmarkham, jener kleinen (und fiktiven) Stadt in England, in der die Polizisten Wexford und Burden, ihre Kolleginnen und Kollegen, ihre Familien und Freunde seit 1964 mit den unterschiedlichsten Verbrechen konfrontiert werden. Der Leser kennt und schätzt sie und hat ihr mit erfundenen Fakten reich unterfüttertes Leben über Jahrzehnte verfolgt. Auch das macht – neben einer meist ausgetüftelten Krimi-Handlung – den Reiz der Wexford-Reihe aus.

Dabei hat die Verfasserin ihre Mixtur über die Jahre unauffällig aber gründlich verfeinert. Besonders auffällig ist die Entwicklung der Hauptfigur. Der Wexford der frühen Romane war ein dicker, lauter, poltriger Geselle hart am Rande der Karikatur, der an den Komiker W. C. Fields erinnerte. Als Rendell ihre Fähigkeiten als Schriftstellerin ausbaute, änderte sie dies. Wexford wurde reifer, und von Roman zu Roman gewann er an Profil.

Hinter ohnehin flüchtig getünchten Kulissen

Auch die Geschichten wurden komplexer. Vom beschaulichen Provinz-Städtchen, in dem höchstens einmal ein böser Neffe den reichen Erbonkel um die Ecke bringt, entwickelte sich Kingsmarkham zu einer modernen Kleinstadt, in der auch die Verbrecher inzwischen auf dem neuesten Stand sind.

Ganz im Sinn einer globalisierten (aber noch nicht vom Internet geprägten) Gegenwart gönnt Rendell den armen Bürgern gar keine Ruhepausen mehr. Militante Umweltschützer marschieren ein, eine Bürgerwehr formiert sich und belagert die Polizeiwache. Wexford und seine Leute handeln oft weniger als Polizisten, sondern wirken eher wie eine UNO-Einsatztruppe, die froh sein muss, den allerorts aufflackernden Unruhen Herr zu werden.

Wobei sich die Frage stellt, ob Rendell es mit der Aktualität nicht übertreibt. Schon „Wer Zwietracht sät“, das 17. Wexford-Abenteuer, enttäuschte aufgrund einer nicht immer schlüssig entwickelten Handlung. Mit „Das Verderben“ zeigt sich die Autorin in besserer Form. Erneut fehlt allerdings ein klar strukturierter Plot. Der wird zugunsten einer Reihe mehr oder weniger miteinander verknüpften Episoden aufgegeben.

Neue, nicht mehr einfache Zeiten

Das mag den Puristen stören – von der Kritik wurde „Das Verderben“ mehrheitlich eher schlecht aufgenommen -, spiegelt aber den Polizeialltag wahrscheinlich treffend wider. Erfreulich ist es, dass sich Rendell wieder auf ihre Stärken besinnt. Sie blickt in die Abgründe des oft nur nach außen achtbaren bürgerlichen Mittelstandes, widmet sich dieses Mal aber auch der wirtschaftlich und sozial ausgegrenzten Unterschicht in den ‚Slums‘ von Kingsmarkham, wo Arbeits- und Perspektivenlosigkeit für eine explosive Stimmung sorgen, die sich leicht in offener Gewalt entladen kann.

Trotz der eher ernsten Themen liest sich „Das Verderben“ erstaunlich locker. Angenehm macht sich bemerkbar, dass Rendell zu dem trockenen, ‚britischen‘ Humor zurückgefunden hat, der gerade im letzten Wexford-Roman ein wenig zu kurz gekommen war. Dennoch hat Rendell bessere Krimis als diesen geschrieben.

Nachträglich ist jede/r schlauer. Außerdem hilft die traurige Erkenntnis, dass die nach „Das Verderben“ noch folgenden sechs Wexford-Romane an Qualität noch stärker zu wünschen übrig ließen. Rendell war ein Profi. Bis an ihr Lebensende schrieb und veröffentlichte sie regelmäßig. Den Zenit ihrer Schaffenskraft hatte sie da endgültig überschritten. Dem Erfolg ihrer Werke tat dies aufgrund eines zu Recht erworbenen Rufes als Meisterin des Krimi-Fachs keinen Abbruch. Deshalb saßen die Leser (unfreiwillig) in der ersten Reihe, als die Konsequenzen unübersehbar wurden.

„Das Verderben“ im Fernsehen

Zwischen 1987 und 2000 zeigte der englische Bezahl-Fernsehsender ITV 84 Episoden der Serie „Ruth Rendell Mysteries“ (dt. „Inspektor Wexford ermittelt“). In 55 dieser Folgen spielte George Baker (1931-2011) Wexford, Christopher Ravenscroft seinen geplagten Kollegen und Freund Mike Burden. „Das Verderben“ wurde im Oktober 2000 die letzte Episode der letzten Staffel.

Autorin

Ruth Rendell wurde am 17. Februar 1930 in South Woodford/London geboren. Sie arbeitete zunächst als Journalistin, bevor sie sich als Schriftstellerei selbstständig machte. Als „Ruth Rendell“ schrieb sie fünf Jahrzehnte ihre bei Kritik und Publikum ungemein beliebten Inspektor-Wexford-Romane. Unter dem Pseudonym „Barbara Vine“ verfasste Rendell serienungebundene Bücher, die abseits des klassischen Krimis eher psychologisch die menschlichen Abgründe ausloteten.

Rendell schrieb mehr als sechzig Romane sowie unzählige Kurzgeschichten. Ihr erstaunliches Arbeitstempo ging mit einer bemerkenswerten Niveaustabilität einher. Nicht nur Verlage und Medien feierten sie deshalb als „Königin der Kriminalliteratur“. Auch ihre Kolleginnen und Kollegen zollten ihr Anerkennung: Allein drei Mal wurde Rendell mit dem Edgar Allan Poe Award ausgezeichnet. Königin Elizabeth II., die auch einen guten Krimi schätzt, hat sie in den Adelsstand erhoben. Ruth Rendell – Lady Rendell of Babergh – lebte und arbeitete in London. Dort ist sie am 2. Mai 2015 im Alter von 85 Jahren an den Folgen eines im Januar erlittenen Schlaganfalls gestorben.

Taschenbuch: 480 Seiten
Originaltitel: Harm Done (London : Hutchinson 1999)
Übersetzung: Cornelia C. Walter
http://www.randomhouse.de/goldmann

eBook: 880 KB
ISBN-13: 978-3-641-15143-0
http://www.randomhouse.de/blanvalet

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