Robert M. Talmar – Der vergessene Turm (Gilwenzeit 1)

Gilwenzeit:

Band 1: „Der vergessene Turm“
Band 2: „Der verlorene Brief“

Finn Fokklin steht vor einem Paar Stiefel, die er als zu groß für sich empfindet: sein Vater hat die familieneigene Tintnerei zu einem Unternehmen mit geradezu legendärem Ruf aufgebaut und ist der festen Überzeugung, dass er all das einmal seinem Sohn hinterlassen wird. Finn bringt es nicht übers Herz, seinem Vater zu gestehen, dass es ihm vor dieser Aussicht regelrecht graust.

Doch dann muß Finn eine Wagenladung Waren an den alten Banavred Borker ausliefern, und das wird sein Leben von Grund auf verändern. Allerdings nicht unbedingt so, wie er sich das gewünscht hätte …

Finn ist ein netter Junge. Er ist mutig, vernünftig, intelligent, geistesgegenwärtig und hat das Herz auf dem rechten Fleck. Mädchen gegenüber ist er eher schüchtern, wenn es aber wichtig ist, ist er durchaus in der Lage, seine Sicht der Dinge deutlich auf den Punkt zu bringen.

Sein Freund Mellow ist fröhlicher und selbstbewußter als der bescheidene, etwas ernste Finn, steht ihm aber in Punkto Mut und Intelligenz in nichts nach. Außerdem ist er ein absoluter Optimist, der selbst in der brenzligsten Situation nicht den Kopf verliert und für alle Möglichkeiten, selbst die absonderlichsten, stets offen ist.

Circendil, der Mönch aus dem Tiefland, wirkt dagegen fast ein wenig blass. Zwar scheint er ein recht anständiger Kerl zu sein, ob zum Beispiel sein Widerwillen gegen das Töten durch die Regel seines Ordens motiviert oder ein persönlicher Charakterzug von ihm ist, wird jedoch nicht so ganz klar. Auch sonst zeigen sich Charaktereigenschaften eher rudimentär, in gelegentlichen Anflügen von Humor und einer gewissen Zielstrebigkeit.

Lukather, der Bösewicht, ist bisher lediglich ein Name beziehungsweise eine Figur aus einer Legende, aufgetaucht sind nur ein paar Handlanger, die jeglicher Persönlichkeit entbehren.

Was vor allem bei den weniger stark ausgearbeiteten Figuren Circendils und des Antagonisten wesentlich mehr ins Auge fällt als ihre Persönlichkeit, sind die Parallelen zu Tolkien, sie drängen sich geradezu auf. Lukather ist nahezu austauschbar mit Sauron, Circendil könnte, wenn er denn etwas mehr eigenes Profil besäße, genauso gut Aragorn heißen. Selbst bei Finn, Mellow und dessen Brüdern finden sich diese Ähnlichkeiten, Finn klingt des Öfteren wie Sam Gamdschie, – „wenn ihr wisst, was ich meine“ – und für Mellows Brüder könnten Merry und Pippin Pate gestanden haben, wenn nicht als Figuren, dann zumindest in ihrer Funktion innerhalb der Geschichte.

Und dabei bleibt es nicht. Die Fußtruppen von Lukathers Handlangern werden zwar als Gidrogs bezeichnet, ihrem Aussehen nach könnten sie aber mit Leichtigkeit Verwandte der Orks sein. Obwohl die Karte zeigt, dass die Örtlichkeiten sich von Mittelerde deutlich unterscheiden, fühlt man sich doch schon nach wenigen Absätzen, als wäre man im Auenland! „Mechellinde“ klingt fast genauso wie „Michelbinge“. Selbst die beschauliche Stimmung ist die gleiche.

Auch der Kern der Geschichte klingt unendlich vertraut: Der Bösewicht hat den Dwargen – wie einst Sauron den Elben – das Geheimnis der Herstellung eines mächtigen Gegenstandes gestohlen, mehrere davon hergestellt und sie dann seinen Verbündeten zur Benutzung gegeben, womit er sie gleichzeitig für alle Ewigkeit versklavt hat. Dass die Artefakte in diesem Fall keine Ringe sind, sondern eher den Palantíri ähneln, und dass des Dwargen Art zu sprechen eher wie die Baumbarts denn die eines Zwerges klingt, das fällt da kaum noch ins Gewicht. Das geht so weit, dass selbst die Unterschiede zwischen beiden Geschichten lediglich betonen, wie sehr sie sich ähneln.

Dabei lässt sich der Entstehungsgeschichte des Romans, die der Autor auf seiner Homepage nachgezeichnet hat, unzweifelhaft entnehmen, dass die Ursprünge seiner Ideen durchaus nicht bei Tolkien liegen, auch wenn der erste Absatz der Danksagung diesen Gedanken aufkommen lassen könnte. Tatsächlich sind sowohl der Weltentwurf einschließlich Örtlichkeit, Historie, Sprachen, Rassen und Kulturen als auch die Handlung auf seinem eigenen Mist gewachsen, wobei er die akribische Ausarbeitung derselben wiederum mit Tolkien gemeinsam hat. Dem zolle ich durchaus eine Menge Respekt, trotzdem frage ich mich, wie es zu dieser großen Anzahl augenfälliger Ähnlichkeiten kommen konnte. Irgendwo im Unterbewusstsein muss bei aller Eigenarbeit doch irgendwie ein wenig Tolkien’scher Einfluss am Werke gewesen sein.

Die Geschichte als solche ist dabei spannend aufgebaut und erzählt. Zwar bin ich der Meinung, dass etwas so Spektakuläres und Ungewöhnliches wie ein Luftkampf und der Absturz einer brennenden Windbarke irgendjemandem hätten auffallen müssen, abgesehen davon bin ich aber über keine logischen Brüche gestolpert. Die Entwicklung des Geschehens wie auch die Reaktion der so lange vom Rest der Welt abgeschiedenen Vahits darauf sind glaubhaft geraten. Auch sprachlich fand ich die Geschichte gelungen, Stimmungen, ob beschaulich oder bedrohlich, werden eindringlich vermittelt, ohne das Erzähltempo auszubremsen. Nur eine Stelle gab es, an der ich dann doch das Gefühl hatte, dass der Autor gerade etwas abschweift.

Unterm Strich bleibt zu sagen, dass ich das Buch gar nicht schlecht gefunden hätte, hätten sich nicht immer Bilder von Hobbits, Orks und Mittelerde in den Vordergrund gedrängt. Tatsächlich dauerte es eine ganze Weile, bis ich überhaupt in der Lage war, dem Text, den ich gerade las, ein eigenes Gesicht zu geben. Manches wie zum Beispiel der vergessene Turm und auch die alten Steinbrücken waren da hilfreich, trotzdem sorgte jede unwillkürliche Assoziation dafür, dass ich ungewollt das Universum wechselte und mich erst wieder neu besinnen musste, dass ich gerade nicht in Mittelerde unterwegs war.

Mein Eindruck war deshalb trotz aller Stärken der Geschichte ein recht durchwachsener, und ich war mir beim Zuklappen des Buches zunächst nicht sicher, ob ich die Fortsetzung lesen wollte. Nach dem Besuch der Homepage habe ich beschlossen, dem zweiten Teil eine Chance zu geben. Vielleicht gelingt es der Geschichte ja, sich von all den vielen Parallelen wegzubewegen, ohne ihre Stärken einzubüßen.

Robert M. Talmar ist ein Pseudonym. Die bisherigen Veröffentlichungen des Autors befassen sich zum größten Teil mit Sachthemen im Zusammenhang mit seinem Beruf als Wirtschaftsberater und Mentaltrainer, jedoch hat er seit seiner Jugend ein Faible fürs Fantastische. Sein Zyklus Gilwenzeit ist über einen langen Zeitraum allmählich gewachsen, jetzt wird er in Worte gegossen. Der zweite Teil mit dem Titel „Der verlorene Brief“ ist letzte Woche neu erschienen, weitere Bände sollen folgen.

Taschenbuch: 512 Seiten
ISBN-13: 978-3404207381

www.gilwenzeit.de
www.luebbe.de

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